Ich mache keine Produktschulungen in meinen Vorlesungen

03.02.1995

CW: Wissenschaftler, so heisst es, sollen den Technologie- und Know-how-Transfer zur Wirtschaft leisten. Binden sie sich aber zu eng an die Industrie, geraten sie schnell in den Verdacht, die reine Lehre zu verraten und den eigenen Vorteil zu suchen. Sehen Sie sich diesem Konflikt ausgesetzt?

Scheer: Nein. Mich ueberrascht, dass Sie das fragen. Ich bin doch nicht mit der Ueberlegung Unternehmer geworden: "Wie kann ich die Universitaet auspluendern?" Ich war schon zehn Jahre Professor, bevor ich ein Unternehmen gegruendet habe. Warum? Ich wollte die Ideen, die wir im Institut entwickeln, in der Praxis ausprobieren koennen. Das funktioniert nicht aus der Universitaet heraus. Dort kann man Prototypen schaffen, vielleicht auch mal einen Anwender finden, den man ueberreden kann, ein solches System zu nutzen. Aber Prototypen sind keine stabilen Produkte; um die zu erzeugen, muss man den zehnfachen Aufwand betreiben.

CW: Koennen Sie sich bei Ihrem unternehmerischen Engagement noch hinreichend mit Forschung und Lehre beschaeftigen?

Scheer: Ich habe weiterhin meine Buecher geschrieben und bin im Augenblick Dekan - kneife also auch nicht vor Verwaltungsaufgaben. Wenn man die Leistung eines Universitaetsprofessors daran misst, wie viele Studenten, Doktoranden und Veroeffentlichungen er nachweisen kann, dann muss ich mich wirklich nicht verstecken.

CW: Ihre enge Bindung an die SAP weckt bei manchen Beobachtern den Verdacht, dass man sich an Ihrem Institut nicht mehr produktneutral um Anwendungstechnik kuemmert.

Scheer: Eines moechte ich ausdruecklich klarstellen: Ich lehre nicht SAP in meinen Vorlesungen. Es kann nicht die Aufgabe von Universitaeten und Fachhochschulen sein, Produktschulungen vorzunehmen. Aber man muss Grundlagen vermitteln, die Produkte verstehbar machen. Dabei koennen auch konkrete Softwarebeispiele gezeigt werden. Wir halten es fuer falsch, Studenten in die betriebliche Praxis zu entlassen, die noch nie ein PPS-System gesehen haben.

CW: Aber eine enge Bindung an die SAP besteht zweifellos: Hasso Plattner ist Honorarprofessor an Ihrer Universitaet...

Scheer: ... und ich bin Aufsichtsratsmitglied der SAP. Auch Herr Plattner macht in seiner Vorlesung "Technologie eines integrierten Informationssystems" keine SAP-Produktschulung. Wir haben eine gemeinsame Historie. SAP hat sehr frueh die Philosophie der Integration vertreten, die auch ich als Wissenschaftler fuer richtig hielt. In den Universitaeten wurde damals noch streng nach Rechnungswesen, Marketing und Produktion getrennt. R/2 vertrat dagegen die Philosophie einer durchgaengigen Funktionalitaet - entgegen der klassischen Betriebswirtschaftslehre. Ich habe in meinen Buechern das erste Unternehmensdatenmodell entwikkelt, das diesen Integrationsgedanken theoretisch beschrieben hat.

Wir haben die SAP-Methodik in puncto Daten- und Prozessmodellierung stark beeinflusst, indem wir ueber Jahre Projekte mit der SAP zusammen realisiert haben.

CW: Was muesste Ihrer Meinung nach geschehen, damit Forschungsergebnisse der Universitaeten auch in der Praxis genutzt werden?

Scheer: Wir brauchen einen Bewusstseinswandel. Der Wissenschaftler muss darum kaempfen, dass aus seinen Forschungsergebnissen Produkte entstehen. Man darf sich nicht damit zufriedengeben, den ersten Preis fuer die beste Diplomarbeit oder Dissertation erhalten zu haben. In so eine Bewertung fliesst naemlich nicht ein, ob die Prototypen im Papierkorb gelandet sind oder ob sie jemand nutzt.

Ein Kriterium fuer die Vergabe von Forschungsmitteln sollte sein, ob Ideen auch produktiv umgesetzt wurden. Vielleicht waere es sinnvoll, Belohnungssysteme zu schaffen, die den Wissenschaftler ermutigen, die Umsetzung seiner Ideen zu forcieren. Indem er beispielsweise zu Siemens oder irgendeinem Softwarehaus geht und sagt:

"Dies ist meine Idee, macht daraus ein Produkt." Die IDS wurde allerdings gegruendet, weil wir mit diesem Verfahren keinen Erfolg hatten. Alle Produkte, die wir herstellen, haben wir vorher anderen Softwarehaeusern, IBM oder Siemens angeboten. Die waren nicht interessiert - da haben wir ein Unternehmen gegruendet. Wir haben diesen Schritt nicht bereut!

Mit August-Wilhelm Scheer, Professor fuer Wirtschaftsinformatik an der Universitaet Saarbruecken und Hauptgesellschafter der IDS Prof. Scheer GmbH, sprach CW-Redakteur Heinrich Vaske.