Dass in den Prozessen innerhalb und zwischen Unternehmen das größte Innovationspotenzial steckt, ist eine Binsenweisheit, die mitunter gefährliche Formen annimmt. Was nützen die besten Prozesse, wenn am Ende hoch optimiert am Kundenbedarf vorbeiproduziert wird? Die Automobilindustrie, viel gelobt für ihre übergreifenden Abläufe, muss sich diesen Schuh anziehen. Zu spät haben die Anbieter in Deutschland erkannt, dass sich der Wind auf der Kundenseite komplett drehen und die Menschen nach umweltfreundlichen Modellen fragen würden.
Trotzdem sind die optimierten Geschäftsprozesse und die dazugehörige IT ein Pfund, mit dem die deutschen Industrien wuchern können. So versteht es der überwiegend mittelständisch geprägte Maschinenbau bestens, komplexe und variantenreiche Produkte auf Kundenwunsch zu entwickeln, herzustellen und termingerecht rund um den Globus zu verschicken. "In kaum einem Land sind die Anforderungen der Fertigungsindustrie so gut mit Produktionsplanungs- und -steuerungssystemen (PPS) und Software für die betriebswirtschaftliche Steuerung von Unternehmen (Enterprise Resource Planning, kurz ERP, Anm. d. Red.) umgesetzt", so Tönnies von Donop, Managing Director des Bereichs System Integration & Technology im deutschsprachigen Raum bei Accenture.
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Verbesserungspotenzial gibt es dennoch. "Die innerbetriebliche Effizienz des deutschen Mittelstands ist weltweit führend, bei überbetrieblichen Abläufen lässt sich vieles besser machen", ist sich Claus Narr sicher. Der Wirtschaftsingenieur ist Geschäftsführer bei der Firma Myopenfactory Software aus Aachen. Seiner Einschätzung nach geht aufgrund mangelnder Transparenz zwischen kooperierenden Betrieben noch immer jede Menge Zeit und Geld verloren. Von der Lieferantenanbindung, wie sie die Autoindustrie vorführe, sei das Gros der Maschinenbaubetriebe weit entfernt.
Narr spielt darauf an, dass Werke den Zulieferern nahezu in Echtzeit ihre Bedarfe mitteilen und die Kapazitäten abgleichen können. Vergleichbare Liefernetze fehlen oft den klassischen Mittelständlern, obwohl auch sie oft weltweit kooperieren und fertigen. Das führt häufig dazu, dass Unternehmen zu große Warenbestände anhäufen und damit im großen Stil Kapital binden. Nicht selten landet sogar ein größerer Prozentsatz der vorproduzierten Teile am Ende auf dem Schrottplatz.
Standard für die überbetriebliche Kooperation
Produkte entstehen heute nicht mehr nur an einem Standort, sondern an mehreren und unter Einbeziehung von Entwicklungspartnern. Zwar können Firmen tolle Produkte bauen und termingerecht ausliefern, doch noch immer geht durch mangelnde Transparenz zwischen kooperierenden Unternehmen viel Zeit und auch Geld verloren. Wie es besser geht, macht die Autoindustrie bei der Lieferantenanbindung vor. Praktisch in Echtzeit können Werke ihre Bedarfe Zulieferbetrieben mitteilen beziehungsweise mit deren Kapazitäten abgleichen, falls diese über IT-Lösungen entsprechend angebunden sind. Vergleichbare Liefernetze hat der deutsche Mittelstand meist noch nicht. "Intransparenz zwischen Unternehmen führt dazu, dass sich Bestände anhäufen, die bis zu 30 Prozent des Umsatzes ausmachen. Das bindet nicht nur Kapital, sondern verschwendet Geld, da ein bis fünf Prozent der gelagerten Teile nach einer Weile auf dem Schrottplatz lande", warnt Claus Narr, Chef des Softwarehauses Myopenfactory Software aus Aachen.
Narrs Firma entwickelt Software, mit der Industriebetriebe über ihre ERP-Programme mit anderen Unternehmen automatisiert Daten austauschen können, und nutzt dabei den offen Standard "Myopenfactory", der vom Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) und dem Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen koordiniert wurde. Die Idee dabei: Angebote, Auftragsbestätigungen oder Rechnungen müssen nicht mehr gefaxt, per Post verschickt oder am Telefon diskutiert werden. Der Ansatz, mit Myopenfactory einen Standard für die effiziente Zusammenarbeit zu schaffen, ist zwar gut, doch er verbreitet sich nur schleppend. Gerade einmal 100 Unternehmen nutzen Narr zufolge dieses Verfahren, obwohl es die Spezifikation schon seit Jahren gibt. Welche Rolle der Myopenfactory-Standard künftig spielen wird, weiß keiner. Fest steht aber, dass die Industrie die überbetriebliche Auftragsabwicklung verbessern kann.
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Dass es in der überbetrieblichen Auftragsabwicklung etwas zu verbessern gibt, bestätigt auch Rainer Thome. Er ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg und Mitbegründer der IT-Beratungsfirma Ibis Prof. Thome AG. "In einer besseren Kooperation von Informationsbeziehungen zwischen Unternehmen liegt Deutschlands Chance", behauptet der Informatiker
Dabei gehe es um weit mehr als nur den technischen Austausch von Daten, nämlich um die Art, wie dieser organisiert wird: Wann bekommt wer welche Informationen? Hier sieht Thome auch in der sonst so effizient arbeitenden Automobilindustrie Versäumnisse. "Geht bei einem Werk ein Auftrag für ein kundenspezifisches Fahrzeug ein, wird dieser zwar sofort in puncto Baubarkeit geprüft, doch er bleibt liegen bis kurz vor der Produktion." Das Autowerk könnte die zum Bau des Wagens erforderlichen Informationen eigentlich viel früher als bisher an die angebundenen Lieferanten weiterleiten.
Die IT kann viel, wenn man sie lässt
Das würde zwar das Datenaufkommen vergrößern, aber der Zulieferer müsste nicht mehr kurzfristig auf Zuruf reagieren. Ändert der Fahrzeugkunde noch etwas, lassen sich auch diese Angaben an die Produktionspartner übermitteln.
Die dazu erforderliche Speicherkapazität, Netzbandbreiten und Rechenleistung seien vorhanden und kosteten mittlerweile nicht mehr viel. Teuer dagegen sei es für die Autohersteller, ihre Fertigung schlecht auszulasten oder zu überfordern. "Neue Abläufe einzuleiten geht nur, wenn die Entscheidungsträger bereit dazu sind." Auch Accenture-Manager von Donop kennt so manche Prozesslücke, die sich schließen ließe, wenn die Firmen dazu bereit wären. "Wie kann es sein, dass beispielsweise ein Kunde sein bestelltes Auto bekommt, noch bevor die Wartungs- und Reparaturinformationen beim ausliefernden Händler vorliegen?" Dies sei aber im Automobilsektor häufig genug der Fall.
Was für die Autohersteller gelte, lasse sich auch auf mittelständische Unternehmen übertragen, so Thome. In vielen Firmen liefen die Prozesse schon seit vielen Jahren immer gleich ab, mitunter schon seit der Firmengründung. Die Betriebe konzentrierten sich ganz auf ihr Produkt, ohne jemals Abläufe in Frage zu stellen: "Die IT-Systeme sollen genau diese Vorgänge automatisieren." Kaum jemand mache sich bewusst, welches Potenzial in der Prozessverbesserung stecke. Auch die Softwareindustrie tue dies nicht. Die freue sich vielmehr, dem Kunden individuell angepasste Programme verkaufen zu können.
Moderne Kundenkommunikation
Doch nicht nur der Informationsaustausch mit Lieferanten oder kooperierenden Werken lässt sich verbessern, sondern auch die Kundenkommunikation. "Mit Internet-Applikationen und Online-Kommunikation könnten sich hiesige Firmen im internationalen Wettbewerb abheben", ist sich Accenture-Manager von Donop sicher. "Moderne Kundenschnittstellen sind eine wichtige Maßnahme, um aus der Krise zu kommen." Die Grundlagen sind geschaffen, denn Deutschland fange keinesfalls bei null an.
Aus einer Studie namens "High Performance IT" des IT-Beratungs- und -Dienstleistungsunternehmens geht hervor, dass deutsche Firmen bereits 23 Prozent ihrer Kundenkommunikation über das Internet abwickeln. Weltweit liege die Quote bei 22 Prozent. Die in puncto Wachstum und Produktivität international erfolgreichsten Firmen kommen jedoch auf 52 Prozent. Darunter fänden sich nicht nur junge Hightech-Unternehmen, sondern auch etablierte Firmen verschiedener Branchen.
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In Zukunft werden nach Überzeugung des Accenture-Experten moderne Benutzerschnittstellen schon deshalb unabdingbar, weil die künftigen Anwender, die heute noch die Schulbank drücken, nichts anderes akzeptieren, und zwar sowohl von ihren Arbeitgebern als auch von den Unternehmen, mit denen sie Geschäfte machen. "Teenager nutzen heute Instant-Messaging und Social Networks, als ich in dem Alter war, gab es noch Telex", so von Donop.
Angebotskonfigurator im Web-Portal
Über die Internet-gestützte Kommunikation mit dem Kunden lässt sich nach Überzeugung von Thome beispielsweise viel Zeit und Geld in der Angebotserstellung sparen. Oft müssten heute mehrere Personen in mühsamer Kleinarbeit ein Angebot für einen Kunden zusammenstellen. "Wesentlich effizienter wäre ein elektronisches Angebotssystem, das im Dialog mit dem Kunden herausfindet, was dieser wünscht." Autohersteller bieten bereits Online-Konfiguratoren auf ihren Websites an, mit denen sich der Interessent seinen Wagen zusammenstellen kann. Ein ähnliches System kann Thome zufolge aber auch ein Hersteller von Dichtungen einrichten. Der Kunde könnte sich dann über die Auswahl der Dimensionen und der Druckbelastbarkeit sein Produkt spezifizieren. Das sei bequemer, als Kataloge zu wälzen oder die Dichtungsspezifikation telefonisch durchzugeben. Die erforderlichen Daten und auch die Prozesse existierten bereits, doch zu wenige stellten sie dem Kunden über ein Internet-Portal zur Verfügung. "Wenn wir uns da alle an die eigene Krawatte fassen, können wir etwas bewegen."