Ein Dutzend neuer Techniken ist in Arbeit Die erneuerte OSF: Wir suchen noch nach unserer Marktluecke

22.07.1994

Nach dem Ende der Unix-Kriege hat die Open Software Foundation (OSF) eine neue Chance bekommen. Zusammen mit der Standardorganisation X/Open bildet sie das Dach fuer die gesamte Open-Systems-Industrie. Wie die "neue" OSF ihre Aufgabe wahrnehmen will, berichtet Vice-President Roger Gourd* im Gespraech mit CW- Redakteur Hermann Gfaller.

CW: Wie definieren Sie die Rolle der neuen OSF?

Gourd: Die Anwender sind dabei, verteilte Umgebungen einzurichten, aber es fehlt an Loesungen. Deshalb geht es darum, Open-Systems- Produkte schneller als bisher auf den Markt zu bringen. Das ist fuer die Hersteller eine schwierige Sache, weil proprietaere Ansaetze in verteilten Umgebungen zum Scheitern verurteilt sind. Hier setzen wir an.

CW: Die neue OSF soll also trotz einer Reduzierung der Mitarbeiter um ein Drittel weiterhin herstelleruebergreifende Open-Systems- Produkte entwickeln?

Gourd: Ein Grossteil unserer Entwicklung findet bei den Herstellern statt.

CW: Die Bereitschaft der Hersteller fuer OSF-Projekte zu arbeiten, war in letzter Zeit sehr gering. Warum sollte sich die ablehnende Haltung ploetzlich aendern?

Gourd: Eine Zeitlang haben nur noch vier Unternehmen nennenswerte Summen in die OSF investiert, jetzt sind es fuenfzehn. Da verteilt sich der Aufwand an Arbeitszeit und Kosten viel besser. Das sind acht Executive Sponsors und sieben Associate Sponsors. Hinzu kommt unser Modell des "e la carte"-Fondings. In diesem Rahmen koennen selbst Nicht-OSF-Mitglieder Projekte ihrer Wahl unterstuetzen.

CW: Gibt es neue Projekte?

Gourd: Ich darf noch keine Einzelheiten nennen, aber wir arbeiten an einem runden Dutzend Techniken. Dabei handelt es sich um kleine Projekte, verglichen mit Motif oder OSF/1. Freigegeben werden sie bis Mitte naechsten Jahres.

CW: Um welche Art von Techniken geht es dabei?

Gourd: Es geht in Richtung Management verteilter Umgebungen und zukunftsorientierte Dokumentationstechniken...

CW: Das klingt nach IBM und Apples Opendoc?

Gourd: Sagen wir, es handelt sich um Opendoc-aehnliche Techniken.

CW: Verwenden Sie als Transportmedium den offenen Object Request Broker oder Microsofts OLE (Object Linking and Embedding, Anm. d. Redaktion)?

Gourd: Sprechen wir lieber ueber andere Projekte. Wir arbeiten zum Beispiel an Multimedia-Komponenten und an Software fuer mobiles Computing.

CW: Fuer diese neuen Techniken hat es nie eine Technologieausschreibung gegeben.

Gourd: Stimmt, weil sie im Rahmen des neuen PST-Verfahrens entwickelt werden (PST = Pre-

structured Technology, Anm. d. Red.). Das ist die Vorgehensweise, mit der wir die Entwicklung von Open-Systems-Techniken beschleunigen wollen. Wie gesagt, selbst Nicht-OSF-Mitglieder koennen PST-Vorschlaege einbringen, wenn sie bereit sind, dafuer als Sponsor aufzutreten.

CW: Werden die bisher ueblichen Technologieausschreibungen verschwinden, wenn sich das PST-Verfahren bewaehrt?

Gourd: Ich glaube nicht. Bei wirklich wichtigen Projekten ist man auf den Konsens der gesamten Industrie angewiesen. Und den kann man nur durch eine allgemeine Ausschreibung erreichen.

CW: War die PST-Einfuehrung ein Zugestaendnis an die COSE- Mitglieder, die die langwierigen Abstimmungsprozesse satt hatten?

Gourd: Ich sehe das anders. Motif war auch deshalb ein Erfolg, weil von Anfang an nahezu fertige Komponenten von HP, DEC und Microsoft existierten. Bei DME (Distributed Management Environment, Anm. d. Red) hatten wir dagegen zu Beginn nichts Konkretes in der Hand. Mit den PSTs sind wir wieder viel naeher an marktreifen Produkten.

CW: Dafuer ist nicht sicher, dass die PST-Techniken industrieweit akzeptiert werden . . .

Gourd: Hier liegt der Unterschied zwischen dem COSE-Prozess und den PSTs. Bei uns handelt es sich nicht mehr nur um eine isolierte Aktion einiger Hersteller zugunsten hauseigener Techniken. Die Einbettung in den Standardisierungsprozess von OSF und X/Open schafft Offenheit und im Endeffekt Akzeptanz. Ausserdem sorgen wir fuer faire Lizenzbedingungen.

CW: Aber es kann doch vorkommen, dass sich Hersteller zu einem PST- Vorschlag zusammentun, ihn dann aber ausserhalb der OSF zu einem Produkt entwickeln, um die Kontrolle ueber die Technik und die Lizenzrechte zu behalten.

Gourd: Durchaus. In solchen Faellen sind wir sozusagen die vermittelnde Instanz.

CW: Das neue Konzept klingt so, als waere die OSF kuenftig weniger ein Technologielieferant als ein Koordinator von Open-Systems- Projekten und eine Boerse fuer Herstellerkooperationen.

Gourd: Ja, aber natuerlich waere es uns lieber, wenn die meisten Kooperationen innerhalb der OSF stattfaenden.

CW: Wer hat denn am Ende die Rechte an den Produkten aus dem PST- Prozess?

Gourd: Im Prinzip ist die OSF Lizenzgeber, aber da die Sponsoren einiges in die Entwicklung investieren, werden wir einen Teil der Rechte mit ihnen teilen. Ein Sponsor muss zum Beispiel keine Lizenzgebuehren entrichten.

CW: Bringt das die OSF nicht in finanzielle Schwierigkeiten?

Gourd: Nein. Schliesslich zahlen unsere 15 Hauptsponsoren je eine Million Dollar im Jahr, andere immerhin 200000 Dollar. Dabei sind die Mitgliedsbeitraege noch nicht mitgerechnet. Hinzu kommen die Lizenzeinnahmen fuer Motif, OSF/1, DCE (Distributed Computer Environment, Anm. d. Red.) und DME.

CW: Wie kommen Sie mit den neuen Mitgliedern aus dem ehemals feindlichen Unix-International-Lager zurecht?

Gourd: Sie sind eine Bereicherung, weil sie Fragen stellen, die wir fuer laengst abgehakt gehalten haben. Besonders konstruktiv war der fruehere Gegner Sun. Scott McNealy hat grossen Anteil an der neuen OSF-Struktur.

CW: Woher kommt der Druck, offene Standards zu entwickeln, wenn es keine konkurrierende Organisation wie Unix International mehr gibt?

Gourd: Wir sind noch auf der Suche nach unserer Marktluecke. Da sind zum Beispiel die Anwender, die lieber von uns kaufen, als von einem Hersteller, weil sie sicher gehen wollen, dass sie offene Systeme bekommen. Ausserdem gibt es Entwickler, die ein tolles Open-Systems-Produkt haben, das aber nur sinnvoll einsetzbar ist, wenn es fuer jede Plattform verfuegbar ist.

CW: Bedeutet das, dass Sie es als ihre Aufgabe sehen, Unternehmen zu einem Markt zu verhelfen?

Gourd: Die Anwender brauchen uns, um ihre Probleme zu loesen. Deshalb suchen wir nach Loesungen, wo wir sie finden, und wenn keine fertigen Produkte existieren, dann bringen wir unsere Sponsoren dazu, welche zu entwickeln.