Prozessgesteuerte Anwendungen mit BPMN 2.0

Der Fachprozess bestimmt die Applikationsentwicklung

20.03.2014 von Andreas Schaffry
Mit Business Process Model and Notation 2.0 (BPMN) lassen sich End-to-End-Prozesse schnell und effizient grafisch modellieren sowie system- und unternehmensübergreifend ausführen. Die Vorzüge dieser prozessgesteuerten Anwendungen erläutert Volker Stiehl, Chief Product Expert bei SAP.

Sie sind Autor des Buches "Prozessgesteuerte Anwendungen entwickeln und ausführen mit BPMN". Welche Zielsetzung verfolgen Sie mit dem Buch?

Foto: SAP

Volker Stiehl: Geschäftsprozesse sind ja das Nervensystem jedes Unternehmens. Firmen, die sich auf die Optimierung geschäftskritischer Betriebsabläufe fokussieren, die sie von der Konkurrenz unterscheiden, können Wettbewerbsvorteile und damit auch Wertsteigerungen erzielen. Dieser Aspekt wird häufig vernachlässigt. Zudem sind Prozessinnovationen wesentlich schwieriger von der Konkurrenz zu entdecken und zu kopieren als beispielsweise Neuerungen im Produkt- und Dienstleistungsbereich. Eine verstärkte Prozessorientierung fördert damit auch ein nachhaltiges Unternehmenswachstum. Dazu will das Buch einen Beitrag leisten.

Dr. Volker Stiehl studierte Informatik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Nach 12 Jahren als Entwickler und Berater bei Siemens begann er im Jahre 2004 seine Arbeit bei SAP in Walldorf. Er ist heute als Chief Product Expert Teil des Produktmanagementteams für SAP NetWeaver Process Integration. Volker Stiehl ist regelmäßiger Sprecher auf verschiedenen nationalen als auch internationalen Konferenzen. Zudem hält er Vorlesungen an der Universität Erlangen-Nürnberg und der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mosbach.
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Dank des BPMN-Standards (Business Process Model and Notation) erhalten wir neue Möglichkeiten zur Planung, Umsetzung und Überwachung von Prozessen. Am Herzen liegt mir hierbei besonders der Übergang von der Planung von Geschäftsprozessen zu deren Implementierung. An diesem Punkt werden Entscheidungen getroffen, die maßgeblichen Einfluss auf den Folgeaufwand und die Kosten haben. Wir müssen uns also zu einem sehr frühen Zeitpunkt Gedanken darüber machen, wie eine erfolgreiche Umsetzung strategischer Prozesse gewährleistet werden kann. Dazu wird in diesem Buch der prozessgesteuerte Ansatz favorisiert, der sich in dem Einklang von prozessgesteuerter Methodologie, prozessgesteuerter Architektur und prozessgesteuerter Anwendung manifestiert. Letztendlich müssen wir uns dabei auch der Herausforderung der Anwendungsentwicklung auf Basis heterogener IT-Landschaften stellen, da sich typische Ende-zu-Ende-Prozesse über eine Vielzahl von Systemen und Partner-Anbindungen erstrecken.

Was sind die wesentlichen Eigenschaften prozessgesteuerter Anwendungen, die mit BPMN 2.0 erstellt wurden?

Volker Stiehl: Unter prozessgesteuerten Applikationen verstehe ich eigenständige Anwendungen, mit denen Unternehmen geschäftskritische End-to-End-Kerngeschäftsprozesse abteilungs- und firmenübergreifend in heterogenen IT-Systemlandschaften abbilden und ausführen können. In der Version 2.0 ermöglicht BPMN diese Form der Anwendungsentwicklung, was vorher so nicht möglich war. Dabei sind prozessgesteuerte Anwendungen, die mit BPMN erstellt wurden, vollständig komplementär mit bestehenden Business-Applikationen, wie etwa SAP ERP.

Unternehmen, die ihre Kernprozesse mit einer prozessgesteuerten Applikationen abbilden, können diese auch flexibel an neue Markt- oder Kundenanforderungen anpassen. Zu den kritischen Prozessen zählen zum Beispiel in der Versicherungsbranche die Abwicklung von Schadensfällen, in der Consumerbranche das Beschwerde-Management oder in der Automobilindustrie die Abwicklung von Leasinganfragen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Kernprozesse vor Veränderungen in der IT-Landschaft geschützt sind. Zu nennen wären hier etwa die Systemkonsolidierung, der Bezug von Geschäftsfunktionen als Cloud Services oder die Transformation der IT bei einem Firmenzusammenschluss. Möglich ist dies, weil in einer prozessgesteuerten Architektur die Fachprozessschicht und Integrationsschicht strikt voneinander getrennt sind. Gibt es Änderungen an den IT-Systemen, werden die notwendigen Anpassungen und Konfigurationen ausschließlich in der Integrationsschicht einer prozessgesteuerten Anwendung vorgenommen. Der geschäftskritische Fachprozess ist davon nicht berührt und bleibt unverändert.

Einheitliches BPMN-Modell, flexible Prozesse

Was sind die Hauptvorteile einer getrennten Prozess- und Integrationsschicht?

Volker Stiehl: Zu nennen wäre hier vor allem die enorm hohe Flexibilität. Sie wird durch die Separierung der Schichten erzielt, was auch zu schlankeren fachlichen BPMN-Modellen führt. Fachliche Prozesse lassen sich aufgrund dieser Architektur unabhängig von den jeweiligen Back-End-Systemen, ob SAP- oder Non-SAP-Anwendungen, betreiben und somit auch schnell an neue Markt- und Kundenanforderungen anpassen. Zugleich können wettbewerbskritische Prozesse sehr einfach in alle Ländergesellschaften ausgerollt werden, unabhängig davon, welche IT-Systeme die einzelnen Töchter einsetzen.

Da das Fachprozess- und ausführbare Prozessmodell identisch sind, resultiert daraus auch ein gemeinsames BPMN-Modell für die Fach- und IT-Abteilung, für das beide zu gleichen Teilen verantwortlich sind. Zugleich vereinfacht BPMN 2.0 als gemeinsame Sprache zwischen den Fachbereichen und der IT-Organisation den Austausch von Informationen zu fachlichen wie auch technischen Integrationsprozessen. Fach- und IT-Abteilung können somit gemeinsam ein Modell für einen fachlichen Geschäftsprozess ausarbeiten, der anschließend in Form einer End-to-End-Applikation direkt implementiert und IT-gestützt ausgeführt werden kann.

Erst durch die passende Architektur, also die Trennung der Schichten, können die Früchte einer gemeinsamen ausführbaren Prozessmodellierungssprache geerntet werden. Andernfalls verpufft der BPMN-Effekt wirkungslos. Ein weiterer Vorzug der getrennten Schichten ist, dass zeitgleich und unabhängig voneinander an deren Implementierung gearbeitet werden kann.

Wie wird diese Flexibilität aus technischer Sicht erzielt?

Volker Stiehl: Sie wird durch Geschäftsregeln und eine Zerlegung eines Geschäftsprozesses in vordefinierte Prozessmodule erreicht. Diese vorgefertigten Bausteine, unter anderem zu länderspezifischen Besonderheiten, wie etwa rechtlichen Vorgaben bei der Finanzbuchhaltung und Umsatzsteuer, lassen sich dann regelgesteuert und dynamisch zur Laufzeit zu einem Gesamtprozess zusammensetzen.

Die Idee der prozessgesteuerten Architektur eignet sich übrigens auch hervorragend für unabhängige Software-Hersteller, die auf Basis der BPMN prozessgesteuerte Applikationen, etwa für industrietypische Betriebsabläufe, modellieren können, die sich dann in jede IT-Landschaft implementieren lassen.

Entwicklung nach der Top-Down-Methode

Sie plädieren in Ihrem Buch für ein konsequentes Top-Down-Verfahren bei der Entwicklung prozessgesteuerter Anwendungen. Warum?

Mit BPMN lassen sich Prozesse wie zum Beispiel ein vereinfachter Bestellablauf grafisch modellieren.
Foto: SAP AG

Volker Stiehl: Unternehmen sollen einen geschäftskritischen Prozess, der ihnen Wettbewerbsvorteile bringt, komplett unabhängig von der IT-Landschaft konzeptionieren und aufbauen können. Das geht nur mit einer Top-Down-Methode, die den fachlichen Prozess in den Mittelpunkt stellt. Im ersten Schritt ist die Reihenfolge der Prozessschritte und -rollen festzulegen. Dann müssen die dazugehörigen Nutzeroberflächen gefunden werden, die den Endanwender gemäß seiner Rolle und Berechtigung bestmöglich bei der Prozessabwicklung unterstützen. Und schließlich müssen auch noch die für den Prozess benötigten Daten abgeleitet und die einzelnen Attribute und Felder zu Geschäftsobjekten gebündelt werden. Damit die Struktur so schlank wie möglich bleibt, dürfen nur Daten und Geschäftsobjekte verwendet werden, die zur Prozessabwicklung unbedingt benötigt werden. Auch die Kopplung der Anwendungen mit den Back-End-Systemen durch Schnittstellen ist vom Prozess getrieben. Sie wird in einem Servicevertrag definiert und über eine Implementierungsschicht gesteuert.

Mit welchen Anwendungen und Technologien unterstützt SAP die Modellierung, Implementierung und Integration prozessgesteuerter Anwendungen?

Volker Stiehl: Hierbei leistet unsere Java-basierte Modellierungs- und Laufzeitumgebung SAP NetWeaver Process Orchestration (SAP NetWeaver PO) hervorragende Dienste. In ihr sind die drei Produkte SAP NetWeaver Process Integration, SAP NetWeaver Business Process Management und SAP NetWeaver Business Rules Management in einem einzigen Installationspaket zusammengeführt. Durch diese Kombination werden Unternehmen effizient bei der Umsetzung ihrer speziellen Prozessanforderungen unterstützt.

Welche Aufgaben übernehmen die einzelnen Lösungen?

Volker Stiehl: Die gerade für Schreiboperationen wichtige asynchrone, nachrichtenbasierte Integration aller von einem Soll-Prozess betroffenen Anwendungen sowie der Eigenentwicklungen erfolgt über SAP NetWeaver PI mit der zentralen Enterprise-Service-Bus-(ESB)-Komponente. Der Aufbau eines systemübergreifend einsetzbaren End-to-End-Prozesses und der entsprechenden prozessbezogenen Applikation, deren Oberfläche beispielsweise auf SAP UI5 basiert, wird mit der Lösung SAP NetWeaver BPM ausgeführt, die Teile der aktuellen BPMN-2.0-Spezifikation unterstützt.

Die Entscheidungslogiken für die Prozesse werden zentral in SAP NetWeaver BRM verwaltet. Die Fachanwender können den Prozessen bei Bedarf neue Geschäftsregeln hinzufügen oder bestehende ändern und somit eine veränderte Geschäftsstrategie zeitnah abbilden. Den direkten Zugriff auf die Services im Back-End für synchrone Lesezugriffe ermöglicht SAP NetWeaver Gateway mithilfe des OData (Open Data) Web Protokolls. Nicht zuletzt müssen Firmen, die der Konkurrenz den entscheidenden Schritt voraus sein wollen, auch Schwächen während der Ausführung kritischer End-to-End-Prozesse in Echtzeit erkennen und diese umgehend beseitigen. Dafür eignet sich die Anwendung SAP Operational Process Intelligence, die auf SAP HANA basiert. Schließlich sorgt unsere neueste Technologie SAP HANA Cloud Integration für die nahtlose Integration von On-Premise- und cloudbasierten On-Demand-Anwendungen.

Volker Stiehl: "Prozessgesteuerte Anwendungen entwickeln und ausführen mit BPMN"

Die effiziente Entwicklung neuer, differenzierender fachlicher Prozesse in heterogenen Systemlandschaften ist seit jeher eine der größten Herausforderungen für Unternehmen. Volker Stiehl stellt in seinem Buch "Prozessgesteuerte Anwendungen entwickeln und ausführen mit BPMN" einen Ansatz vor, wie Unternehmen ausgehend von Fachprozessen neuartige, prozessgesteuerte Anwendungen entwickeln können. Prozessgesteuerte Anwendungen sind laut Stiehl eigenständige fachliche Applikationen, die erfolgskritische End-to-End-Geschäftsprozesse über Funktions-, System- und Organisationsgrenzen hinweg unterstützen, mit denen Unternehmen sich vom Wettbewerb differenzieren. Sie können zugleich flexibel an neue Anforderungen angepasst werden.

BPMN unterstützt als grafische Notation und Standard zur Modellierung von Prozessen die Entwicklung prozessorientierter Applikationen, die sich in heterogenen IT-Landschaften direkt ausführen lassen. Diese Ausführbarkeit wurde in der BPMN der neuesten Version 2.0 festgeschrieben. Die Benutzeroberflächen der Anwendungen sind in der Regel webbasiert und die Installation wenig aufwendig. Für Stiehl kann erst durch eine geeignete prozessgesteuerte Architektur und "Methodologie" das Versprechen der BPMN, Geschäftsprozesse so auszuführen, wie die Fachabteilung sie vorgibt, auch wirklich erfolgreich eingelöst werden.

Das Buch ist im dpunkt-Verlag erschienen (ISBN: 978-3-86490-007-5) und kostet 39,90 Euro.