Im TK-Markt werden die Weichen mit IP-Technik neu gestellt

Das steckt hinter dem Mythos NGN

21.01.2008 von Konrad Buck
Next Generation Networks, NGN, treiben Netz- und Serviceanbieter auf einen riskanten Wachstumspfad.

Unter Experten ist eines unstrittig: Nur wer es schafft, rechtzeitig und tiefgreifend genug eine flexible IP-Infrastruktur als Plattform für neue Internet-basierende Dienste aufzusetzen, kann als Anbieter von Kommunikationsdiensten im 21. Jahrhundert überleben. NGNs empfehlen sich als die derzeit interessanteste Carrier-Strategie, um eine IP-Basis aufzubauen, die Dienste und Netze integriert und gleichzeitig das angestammte Geschäft schützt. Doch die Einführung ist mit vielen Haken und Ösen verbunden.

Unverdrossen loben die klassischen Netzbetreiber ihren Netzumbau "Die neue NGN-Architektur ...ist ein richtungsweisendes Modell für die Überführung und Integration traditioneller Geschäftsmodelle der Telekommunikation in die spannende Vielfalt IP-basierter Lösungen, zu denen auch das Internet gehört", dozierte etwa Wolfgang Schmitz, Leiter Zentrum Technik Einführung der Deutschen Telekom AG, anlässlich des Starts einer NGN-Entwicklungspartnerschaft mit IBM. Allerdings klammerte Schmitz dabei aus, dass Wiederverkäufer, Netzpartner und -kunden auf den Netzen mehr oder weniger tun und lassen, was sie wollen. Deshalb würden klassische Geschäftsmodelle mit Partnern und Kunden nicht mehr unbedingt greifen. Gleichzeitig beginnt ein komplett neuer Wettbewerb in der Branche. Playern, die im Web-basierten Netzgeschäft - Stichworte Mashups, IMS-basierende SOA oder Web-Services – zu Hause sind, eröffnet sich die Chance, im gesättigten TK-Markt neue Segmente zu erschließen. Für die klassischen Carrier ist das dagegen keine leichte Aufgabe, denn dazu gehört neben Know-how im TK-Markt auch profunde Kenntnis der Gepflogenheiten im IP-Business sowie ein Gespür für neue Märkte, emanzipierte Kunden und vernetzte Geschäftsmodelle.

Geht es nach den NGN-Protagonisten, so erhält der Anwender künftig alle Dienste über eine Infrastruktur.
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Philipp Bohn, Analyst bei der Berliner Berlecon GmbH, erklärt das Dilemma: "NGN ist größtenteils keine neue Technologie, sondern beschreibt die Integration und Konsolidierung vorhandener ITK-Kanäle." Auf dieser Grundlage gibt es auch für Carrier die Möglichkeit, neue Leistungsmerkmale zu entwickeln und darauf Geschäftsmodelle aufzusetzen. Allerdings habe es bei den Carriern aus dem alten Lager einige Zeit gedauert, bis sie bereit und willens waren, eingetretene Pfade zu verlassen und sich auf unternehmerischem Neuland neuen Herausforderern zu stellen. Exemplarisch für Web-beheimatete Unternehmen sind etwa die TK-Engagements von Google und Apple, die angestammte Segmente (Mobilfunk) direkt angreifen und gleichzeitig neue Anwendungsbereiche wie mobiles Web, die Unterhaltungsbranche oder Social Web erschließen.

Parallel dazu haben alle Telco-Unternehmen, ganz gleich ob klassische Carrier, alternative Netzbetreiber oder Internet-Service-Provider, noch ein Problem: Sie müssen auf Marktsättigung, Preisverfall und den Druck der innovativen Anbieter aus der Internet-Welt reagieren. Die Strategie der meisten Carrier besteht darin, eine möglichst komplett auf dem Internet Protocol (IP) basierende Infrastruktur einzuziehen. So wollen sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: erstens die eigenen Netze preiswerter betreiben, um wettbewerbsfähiger zu sein; zweitens erhalten sie ein IP-Netz, auf dem sich schnell und flexibel individuelle Geschäftsprozesse von Kunden realisieren lassen. Hinzu kommt die schwierige Aufgabe, sich gegenüber Wettbewerbern und insbesondere Wiederverkäufern optimal aufzustellen. Wie restrukturiere und verkaufe ich ein Netz, auf dem ich selber größtmögliche Mehrwerte erwirtschaften möchte, auf dem den Wettbewerbern aber entscheidende Vorteile fehlen?

COMPUTERWOCHE Fachkonferenz

Next Generation Networks 18. Februar 2008, Frankfurt am Main

Wer nicht investiert, verliert: Fehlende Konvergenz kostet Millionen, resümieren die Marktforscher von Insignia Research nach einer aktuellen Befragung von 500 Unternehmen. Allein der Verzicht auf Unified-Communications-Anwendungen schlägt bereits bei Firmen ab 100 Mitarbeitern mit einem Millionen-Dollar-Fehlbetrag zu Buche. Mit Hilfe neuer Next Generation Networks können Unternehmen indes bestehende und neue Anwendungen effizienter betreiben und somit von vielen Vorteilen innovativer IP-Netze profitieren.

Die COMPUTERWOCHE Fachkonferenz "Next Generation Networks – von VoIP zu Unified Communications" am 18. Februar 2008 in Frankfurt am Main informiert über den aktuellen Paradigmenwechsel in der Unternehmens-IT und leitet wertvolle Informationen für die Weiterentwicklung Ihrer IT-Strategie ab.

Nach dem Einstieg in die Voice-over-IP-Technologie gilt es nun, alle Netzwerkapplikationen und Unternehmensprozesse konsequent auf IP auszurichten und dabei die Vorteile von IP und neuer Services zu nutzen. Ob Unified Communications, Mobile Solutions, Einbindung in eine SOA-Architektur oder Managed Services – mit der richtigen IT-Strategie auf Basis einer durchgängigen IP-Plattform verschaffen sich Unternehmen einen Vorsprung gegenüber dem Wettbewerb, indem sie Prozessabläufe optimieren, Kosten senken, den Mitarbeitern eine höhere Flexibilität bieten, mehr Effizienz ins Unternehmen bringen und den Kundenservice optimieren.

Auf der COMPUTERWOCHE Fachkonferenz Next Generation Networks erfahren Sie durch Vorträge renommierter Experten und Anwender unter anderem, wie Sprache und Kommunikationsdienste als abrufbare, bedarfsorientierte Applikationen in einer SOA-Umgebung funktionieren, wie Sie mit intelligenten Kommunikationslösungen Geschäftsprozesse erfolgreicher gestalten, welche Vorteile Mobile VoIP und die Integration mobiler Endgeräte ins Netz bieten, warum und wie Unified Communications effektivere Kommunikationsabläufe ermöglicht und welche Sicherheitsvorkehrungen Sie dabei treffen müssen. Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.computerwoche.de/ngn.

IMS macht das NGN zur Dienste-Drehscheibe

Herzstück des Netzumbaus ist das IMS (IP Multimedia Subsystem). Diese Architektur aus Software und Netzelementen macht das Next Generation Network zur multifunktionalen und interaktiven Drehscheibe für neue Dienste. Daraus soll eine technische Plattform für Festnetz und Mobilfunk entstehen, auf der sämtliche Arten von Diensten und Endgeräten zusammenarbeiten.

Zentrales Element eines IMS ist die Call Session Control Function (CSCF). Sie etabliert, überwacht, unterstützt und initiiert so genannte Multimedia Sessions, beispielsweise ein Telefonat zwischen zwei Smartphone-Nutzern, die ein Kino-Portal besuchen, dort einen Film auswählen, das nächstgelegene Kino suchen und sich dann verabreden. Hierfür koordiniert die CSCF auch die Service-Interaktionen des Nutzers. Weitere Kernkomponenten sind die Media Gateway Controller Function (MGCF) für das Internetworking auf Call-Control-Ebene, das Media Gateway (MGW), die Breakout Gateway Control Function (BGCF) und der Multimedia Resource Function Controller (MRFC). Das aus der Internet-Telefonie bekannte Session Initiation Protocol (SIP) wird als Call-Control-Protokoll für die Kommunikation zwischen den Netzelementen und den Endgeräten der Nutzer verwendet.

Vor dem Hintergrund, sehr komplexe Zusatz-Infrastruktur aufbauen und mit bestehenden Netzen integrieren zu müssen, sind NGNs auf IMS-Basis allerdings nach wie vor schwer zu realisieren. IMS-Experten wie Florian Schreiner vom Berliner Fraunhofer Institut für offene Kommunikationssysteme Fokus sieht neben der Integration und Koexistenz bisheriger Netzinseln oder -teilsysteme, noch einen anderen Problembereich. "Heute wandeln Gateways einen eingehenden Ruf, der über das herkömmliche PSTN (Telefonnetz) ankommt, völlig ohne Probleme in das IMS-Basisprotokoll SIP um", erklärt Schreiner zwar. Fallstricke sieht er aber bei der Migration in IP-basierte Geschäftsprozesse. So sollte ein Netzbetreiber Schreiner zufolge gerade bei IMS-Projekten unbedingt verhindern, sich an einen Technikanbieter zu binden, Stichwort "Vendor-Locking". Kaufe ein Carrier seine Kernkomponenten bei Anbieter A, stelle dann bei Funktionserweiterungen oder dem Aufsetzen neuer Geschäftsmodelle aber fest, dass weitere Netzelemente dieses Herstellers zu teuer seien oder nicht die gewünschten Funktionen liefern, müsse er auf andere Anbieter ausweichen können.

Interoperabilität ist der Schlüssel für IMS

Zudem müssten die Systeme durchgängig zueinander kompatibel sein. "Schließlich will ein Telekom-Kunde seine Multimedia-Anwendung auch mit Kunden anderer Netzbetreiber nutzen können", argumentiert Schreiner. Hersteller Ericsson begegnet diesem Problem mit Interoperabilitäts-Tests. Matthias Andreesen, IMS-Experte beim schwedischen Ausrüster, erklärt dazu: "IMS ist noch ein relativ offener Standard, der es erlaubt, das Zusammenspiel von Lösungen in Testumgebungen zu erproben und gemeinsam in höhere Release-Stände zu überführen." So testen die Schweden beispielsweise die wichtigsten Interfaces gegeneinander. Erst wenn sie alle miteinander funktionieren, wird aus einem Papierstandard eine tatsächliche Spezifikation. Klappt das Zusammenspiel reibungslos, unterschreibt Ericsson eigenen Angaben zufolge dem Kunden auch eine Interoperabilitäts-Garantie.

Das Fraunhofer Fokus geht mit seinem IMS-Engagement sogar noch einen Schritt weiter. Ende letzten Jahres stellten die Berliner ihr Open Source IP Multimedia System (OSIMS) vor. Seitdem bieten sie interessierten Unternehmen und Forschungseinrichtungen die Gelegenheit, im Vorfeld des Markteintritts eigene Entwicklungen zu testen. Das OSIMS umfasst erweiterte SIP Server, CSCFs sowie den Home Subscriber Server (HSS) und einen erweiterten Diameter AAA Server. Nach den Worten von Thomas Magedanz, Leiter der Abteilung Next Generation Networks am Fokus, sind Entwicklungen im Bereich IMS noch sehr teuer. Ein quelloffenes IMS habe daher einen gewissen Charme für die Anbieter: "Seit 2004 betreiben wir unser herstellerunabhängiges IMS Testbed auf Basis dieser Software." Fraunhofer Fokus will durch die Offenlegung des Systems die jahrelangen Erfahrungen seiner IMS-Softwareexperten nun auch anderen nationalen und internationalen Testbeds zur Verfügung stellen, um die IMS-Technologie weltweit für Anwendungsentwickler verfügbar zu machen. "Nur die Vielzahl der Anwendungen wird am Ende über den Erfolg von IMS als allgegenwärtige Dienstplattform entscheiden", ist Magedanz überzeugt.

Neuorientierung der Geschäftsprozesse mit NGN

Angesichts dieser Umschichtungen am TK-Markt gibt sich Roberta Mackintosh, Executive Director Global Voice bei Verizon Business, gelassen: "Unsere Infrastruktur und unser Backbone ist immer auf dem allerneuesten Stand, wir brauchen also kein NGN-Label daraufzukleben." So sei das Netzwerk schon heute in IP ausgelegt und IMS im Kernnetz weitgehend implementiert. Strategie des Carriers ist es, Unternehmen und Kunden vollständig in die IP-Welt zu bringen. "Denn Industrien und Verbraucher werden derzeit zu einem gigantischen Beziehungs-, Interaktions- und Kommerznetz verwoben", begründet Mackintosh den Ansatz des Unternehmens. Ein Weg, den auch viele Anwender mitgehen, da sie mittlerweile den Nutzen der IP-basierten Zusammenarbeit sehen. So hat Siemens Medical Solutions aus den USA auf entsprechende Collaboration-Lösungen umgestellt und nutzt beispielsweise die Audio- und Netzkonferenz-Lösungen von Verizon, um darüber weltweit mit Mitarbeitern und Kunden zu kommunizieren. "Die Reisekosten für international tätige Mitarbeiter lassen sich so deutlich reduzieren", erklärt Nanci Wozniak, Director Clinical Education Services bei Siemens Medical Solutions, die Motivation zur Einführung entsprechender Lösungen. So nutzt die Medizinsparte die Konferenzlösungen, um Projekte auch bei halbierter Reisetätigkeit voranzubringen. Zudem gibt es immer mehr Ferntrainings.

Ein Unified Communication Service in diesem Umfeld ist das Integrated Communication Package (ICP) von Verizon. Allerdings ist es zunächst nur für Anwender verfügbar, die bereits eine Hosted-IP-Centrex Lösung desselben Anbieters nutzen. Konkret stellt das ICP einen dynamischen Hub zur Verfügung, über den Mitarbeiter Zugang zur Voice-Mail haben, eingehende und ausgehende Anrufe kontrollieren, ihre Online-Präsenz steuern, Texte und Nachrichten senden sowie Kontakte und Kalender synchronisieren können. Solche Einschränkungen stören Will Stofega, Research Manager für VoIP-Dienste bei IDC, wenig: "Da immer mehr mobile und externe Mitarbeiter in Unternehmen arbeiten, ist eine Lösung, die Telefon, E-Mail, Kalender, Messaging und Internet-Präsenz zusammenführt, unumgänglich für Unternehmen, die Collaboration vorantreiben wollen." In der Praxis können Anwender in solch einem Kommunikationsverbund je nach Arbeitssituation festlegen, wie sie für ihre Kollegen erreichbar sind – sei es per Telefon, E-Mail oder Instant Messaging.

Verfeinertes Routing für mehr Qualität und Dienste-Vielfalt

Um entsprechende NGN-Services einzuführen, müssen die Carrier aber nicht erst ihr Netz komplett auf IP und IMS umbauen. Dies verspricht zumindest Nominum, ein amerikanischer Anbieter von Technologien zur Namens- und Adressauflösung im Netzwerkbereich. Mit Navitas 3.0, einem IP-Application Routing Directory (IPRD), soll sich beispielsweise die Einführung von IP-Telefonie erheblich beschleunigen lassen, das es bisherige Rufnummernverzeichnisse und IP-Routing-IDs integriert. Zusätzlich konsolidiert und vereinfacht das IP-Routing-Verzeichnis das Management von Routing-Plänen. Mit Hilfe des Application-Routing-Moduls (ARM) lassen sich zudem Telefonie- und Multimedia-Übertragungswege verfeinern, indem Parameter wie Kosten, Qualität und Kapazität oder Inhalte wie Personenprofil oder Standort einbezogen werden. So können klassische, per SS7-vernetzte TK-Anlagen kostengünstig auf IP migrieren.

Neue Fronten: geschlossene NGNs versus offenes Internet

Der Aufbau beziehungsweise die Suche nach dem richtigen Migrationsweg ist jedoch nur ein Aspekt des NGN-Themenkomplexes. Ebenso große Bedeutung hat die Frage, ob die Telcos auf ihren NGNs wirklich einen offenen Wettbewerb der Dienstleister zulassen werden. Eine klare Kampfansage in Bezug auf NGNs richtete Harald Summa, Geschäftsführer des Kölner eco Verbands der deutschen Internetwirtschaft, anlässlich des Kongresses "Ist das Internet noch zu retten?" an die Adresse der Netzbetreiber. Allen Versuchen einer ganzen Reihe von Telekommunikationsgesellschaften, geschlossene Next-Generation-Netzwerke losgelöst vom offenen Internet zu errichten, erteilte er eine klare Absage: "Offenheit war und ist der entscheidende Wachstumsfaktor für das Internet. Der Wandel zu einem geschlossenen Netz wäre der Wachstumskiller." Deshalb werden die Carrier – so Summas Meinung - mit dem Versuch, ihre Netze auf das Internet Protocol umzustellen und trotzdem ihr bisheriges Geschäftsmodell geschlossener Netze beizubehalten, keinen Erfolg haben. Für den Verbandschef ist es ein Irrtum zu glauben, dass Netzbetreiber künftig weiterhin die Macht darüber haben, welche Dienste sie ihren Kunden anbieten. Der Verbraucher fühle sich zunehmend als Skype- oder Google-Kunde, und es sei ihm egal, über welche Netze die Services bereitgestellt würden. Deshalb liegt für Summa die Zukunft im universalen All-IP-Netz, das alle Dienste vom Handy bis ins Wohnzimmer transportiert. Die bisherige Trennung etwa zwischen Festnetz und Mobilfunk, Telefonnetz und Internet werde es in zehn Jahren nicht mehr geben. (hi)