Stuttgart

Das Silicon Valley liegt im Schwabenland

19.03.2002 von Katharina Leimbach
Dank IBM und Hewlett-Packard zählt die Region Stuttgart seit jeher zu den ersten IT-Adressen in Deutschland. Doch noch immer lebt die schwäbische Technikmetropole weitgehend vom Fahrzeugbau. Nun sollen landes- und regionsweite Initiativen die IT-Branche auf Trab bringen.

"Wir besinnen uns jetzt wieder auf unsere alten Stärken", sagt Hans-Ulrich Schmid, Projektleiter bei der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart (WRS). Seine Aufgabe ist es, für die Region als IT-Standort zu werben. Seit dem Frühsommer 2001 rührt Schmid eifrig die Werbetrommel für die IT - ein Novum für die Technikmetropole, in der eine explizite IT-Wirtschaftsförderung und -Strukturpolitik lange Jahre als überflüssig galt.

Quelle: Stuttgart Marketing GmbH.

Als ersten Paukenschlag ließ Schmid im vergangenen Sommer Flugzeuge über das kalifornische Silicon Valley fliegen. Riesenbanner mit der Aufschrift "Move-Back" sollten die dort arbeitenden deutschen IT-Profis zur Heimkehr ins Ländle bewegen. Die Aufmerksamkeit war den Stuttgartern auf jeden Fall gewiss, und 150 qualifizierte IT-Profis haben sich tatsächlich daraufhin beworben. "Es ist ja schließlich nicht so, dass wir nichts vorzuweisen haben", sagt Tiefstapler Schmid.

An die 7500 Multimedia- und IT-Unternehmen mit insgesamt 61 000 fest angestellten Mitarbeitern und einem Gesamtumsatz von 8,6 Milliarden Euro hat die Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung (GMA) vor einem Jahr in der Region gezählt. Kurz darauf halfen die Unternehmensberater von Roland Berger den Stuttgarter Wirtschaftsexperten noch auf die Sprünge: Baden-Württemberg sei dem Silicon Valley in Sachen Unternehmenssoftware und -dienste dicht auf den Fersen. Mit einem Weltmarktanteil von sieben Prozent nimmt das Land Platz zwei in dieser Branche ein - und hat laut Roland Berger sogar das Zeug zum Weltmarktführer.

Das erinnert stark an die 80er Jahre, als Ministerpräsident Lothar Späth den Neckarraum zum Silicon Valley machen wollte. Die im Badischen beheimatete SAP spielt bei dieser neuen Perspektive zwar ein große Rolle. "Doch rund ein Drittel der Umsätze in diesem Bereich kommen aus der Region Stuttgart", stellt Schmid klar. Damit die IT-Branche in der vom Fahrzeug- und Maschinenbau dominierten "Daimler-Chrysler-City" wieder einen höheren Stellenwert bekommt, ist nach übereinstimmender Meinung der Berater allerdings eine Weiterentwicklung notwendig. Das betrifft zum einen das Image: Im Vergleich zu Standorten wie Berlin oder Köln haftet Stuttgart immer noch der Ruf der Provinzialität, ja Muffigkeit an. Das hat die GMA-Befragung unter den ortsansässigen Unternehmen der Medien- und IT-Branche ergeben. Es fehle an der Lockerheit und Offenheit anderer Städte, was so manchem Unternehmen in der Vergangenheit Rekrutierungsprobleme bereitet hat.

Standortvorteil Fleiß

Diese Kritik hören die Wirtschaftsexperten der Region natürlich nicht gerne. Die schwäbische Mentalität ist nun einmal nicht zu ändern. Und in der Vergangenheit wurden der Fleiß und die Akribie der Einheimischen sogar als Standortvorteil gesehen: So entschied sich Hewlett-Packard 1959 beispielsweise bei der Suche nach einem geeigneten Ort für seine erste Produktionsstätte außerhalb der USA für Böblingen. Die Münchner, ebenfalls in der engeren Wahl, schossen dabei ein Eigentor, als sie Bill Hewlett fragten, was er denn bei den Schwaben wolle. Die könnten doch nichts anderes außer "schaffen". Damit war die Entscheidung gefallen.

"Hier werden die harten Nüsse in der IT geknackt", fügt WRS-Experte Schmid hinzu. Das mache schließlich auch den Reiz der Region für IT-Profis aus. Während in den Multimedia-Hochburgen Hamburg und Berlin eher an der Oberfläche gekratzt werde, erfordern die großen IT-Anwender aus der Industrie im Großraum Stuttgart - angefangen bei Daimler-Chrysler über Porsche bis hin zu Bosch - tief gehendes, anspruchsvolles IT-Know-how zur Unterstützung ihrer Geschäftsprozesse. Sie fungieren als Innovationstreiber für die IT, so Roland Berger.

Die Nähe der IT-Anbieter zur Old Economy ist somit typisch für die Region um die baden-württembergische Hauptstadt. Neben den drei großen Software- und Servicegiganten IBM, Hewlett-Packard und dem ehemaligen Debis Systemhaus (heute T-Systems) haben sich Hunderte kleinerer Softwarehäuser - vor allem mit Schwerpunkt Unternehmenssoftware - etabliert. Das Softwarezentrum Böblingen/Sindelfingen, nur einen Steinwurf von HP entfernt, beheimatet 65 kleine und mittlere Anbieter. Sie sind zum Teil neu gegründet, zum Teil alt eingesessen und zum Teil Tochterunternehmen von US-Anbietern.

Zu Letzteren gehört beispielsweise Xybernaut, spezialisiert auf Wearable PCs. Dass man auf den wachstumsträchtigen Software- und Servicemarkt setzen muss, haben das Land sowie die Städte Sindelfingen und Böblingen in den 90er Jahren erkannt. Damals verabschiedeten sich die IT-Riesen Zug um Zug von der Hardware-Produktion, und als Folge davon gingen viele Arbeitsplätze verloren: IBM gab seine Chipfabrik an Philips ab, Hewlett-Packard verkaufte seine Leiterplattenfertigung an Multek, heute eine Tochter des US-Auftragsfertigers Flextronics. Der Strukturumbruch und die Konzentration auf Software und Dienstleistungen erfordert nach Ansicht von Roland Berger jedoch noch stärkere Netzwerke, als dies das Softwarezentrum südwestlich von Stuttgart leisten kann.

Wirtschaft und Politik, so die Kritik der Unternehmensberater, sollten nicht nur stärker ihre Kräfte bündeln, sondern auch kooperieren und kommunizieren. Clusterbildung ist vom Land gefordert. Die Region hat den erhobenen Zeigefinger von Berger nicht ignoriert und flugs die Initiative FIR_st (Forum IT-Region Stuttgart, www.first.region-stuttgart.de) ins Leben gerufen, die WRS-Mann Schmid leitet und mit der Move-Back-Aktion gestartet ist. Nach dem Vorbild der erfolgreichen Initiative "Medienregion Stuttgart" soll nun ein IT-Partnernetzwerk für die Stadt und ihr Umland aufgebaut werden.

Dabei kann FIR_st unter anderem auf dem seit 1997 bestehenden Netzwerk von Baden-Württemberg Connected e. V. (bwcon) aufbauen. Die inzwischen fast 2000 Experten aus rund 350 Mitgliedsunternehmen haben sich das Ziel gesetzt, das Land zur führenden Internet-Region in Europa zu machen. Dieses Ziel sieht sicherlich niemand der Beteiligten als erreicht an. Doch immerhin hat bwcon den Boden für den Übergang ins Internet-Zeitalter mitbereitet.

Viel Geld für Unis

Etliche E-Business-Software- und Serviceanbieter aus der Region haben sich trotz der großen Dotcom-Pleitewelle national und international behauptet: von Abaxx (E-Business-Softwarelösungen nach dem Baukastensystem) über E-Jay (Musiksoftware und Online-Radiosender) bis hin zu Wired Minds (E-Commerce-System-Mangement-Software). In den Internet-Boomjahren sah es so aus, als würde die Region den Anschluss an diese Entwicklung verpassen. Lediglich Brokat galt lange als Stuttgarter Vorzeigeunternehmen der New Economy - doch das einst so florierende Softwareunternehmen ist mittlerweile tief gefallen und musste sogar den Gang zum Konkursrichter antreten. "Trotz Brokat: Bei uns war der Internet-Hype längst nicht so groß wie in Hamburg oder Berlin, daher trifft uns die Krise nun bei weitem auch nicht so stark", atmet FIR_st-Projektleiter Schmid auf.

Das Gejammer um verlorene Arbeitsplätze halte sich bislang in Grenzen, da die Anbieter seiner Einschätzung nach den längeren Atem haben. Daran werde sich auch langfristig nichts ändern - auch wenn Global Player vom Schlage HP, Agilent oder Alcatel derzeit Arbeitsplätze in der Region abbauen. Während sich der Personalabbau bei den beiden US-Unternehmen in Deutschland noch im Rahmen hält, trifft es Alcatel besonders hart: Der traditionsreiche Telecomausrüster, der einst Standard Elektrik Lorenz (SEL) hieß, beschäftigte 1985 noch 33 000 Mitarbeiter in Deutschland, heute sind es noch 9000 (davon 7000 am Standort Stuttgart). Doch auch davon müssen erneut knapp zehn Prozent den Hut nehmen.

Es wird also höchste Zeit, die Probleme des IT-Standorts Region Stuttgart in den Griff zu bekommen. Da kommt es FIR_st sehr gelegen, dass sich die Landesregierung mit dem ehemaligen HP-Deutschland-Chef Jörg Menno Harms einen erfahrenen und in der IT-Branche bekannte Persönlichkeit an Bord geholt hat. Anfang November wurde vom Land zudem die neue Medien- und IT-Initiative "Do IT" ins Leben gerufen, finanziell ausgestattet mit 250 Millionen Euro. Davon dürfte rund ein Drittel in der Region Stuttgart landen. Ein Teil des Geldes soll dabei in die multimediale Lehreraus- und -weiterbildung sowie in breitenwirksame IT-Projekte fließen. Der größte Posten wird auf das Konto der Hochschulen im Lande gehen, und zwar für die Bereiche Informations- und Kommunikationstechnologie.

Umstrittenes Image

"Die Hochschullandschaft ist ein zentraler Bestandteil unserer IT-Region", weiß FIR_st-Experte Schmid. Nicht nur, dass die örtlichen Industrieunternehmen die Hochleistungsrechner der Universität Stuttgart nutzen. Mit der Universität und auch der Fachhochschule Esslingen verfügt der Neckarraum zudem über zwei Ausbildungsstätten für Informatiker, die im Ranking der COMPUTERWOCHE vorderste Plätze belegen. Hinzu kommt die Hochschule der Medien, die unter anderem in Medieninformatik und Informationswirtschaft ausbildet. Im Februar 2001 hat die WRS gemeinsam mit der Steinbeis-Akademie für Unternehmensführung in Herrenberg einen berufsbegleitenden Studiengang zum Internet-MBA gestartet. "Vor allem kleinen und mittleren Unternehmen fehlen E-Business-Manager", begründet Schmid den Schritt zu diesem praxisorientierten neuen Angebot.

Vom guten Image der Hochschulen profitieren allerdings nicht nur die Firmen vor Ort: "Die Absolventen werden von Unternehmen aus anderen Regionen abgeworben", bedauert Schmid. Um die IT-Nachwuchskräfte im Land zu halten, will FIR_st im Frühjahr mit ITelligence einen Innovationspreis für Leistungen dieser Zielgruppe vergeben. Eine weitere Maßnahme der Region wird die stärkere Unterstützung von Existenzgründungen sein. Das Image des Neckarraums als Startup-Schmiede ist zumindest umstritten: Während eine EU-Gutachterkommission aus dem Jahr 1999 dem Wirtschaftsraum europaweit das effizienteste Partnernetz und die besten Rahmenbedingungen zur Unterstützung von innovativen Firmengründungen attestierte, listete das Nachrichtenmagazin Focus in seinem Gründerranking Stuttgart nur auf Platz 53 von 83 deutschen Städten.

Bwcon hat sich der Startup-Hilfe seit längerem mit dem Cyberone-Award im E-Business-Umfeld verschrieben. Die WRS hat dafür vor drei Jahren das Programm Push! (Partnernetz für Unternehmensgründungen aus Stuttgarter Hochschulen) aufgelegt. Das Ergebnis: 85 junge Unternehmer haben 700 neue Arbeitsplätze geschaffen. Dazu gehören unter anderem die beiden auf Virtual Reality spezialisierten Unternehmen Vircinity und Icido.

Icido ist als Spinn-off aus dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) hervorgegangen, das seinen Sitz in Stuttgart neben der Universität hat. Insgesamt beschäftigt Fraunhofer 1000 Mitarbeiter in der Landeshauptstadt. Das IAO gehört dabei zu den Paradebeispielen dafür, wie der Know-how-Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft funktioniert.

Unternehmensgründungen will FIR_st auch mit der Initiative "Neustart" fördern. Hier sind nach Darstellung von Projektleiter Schmid Führungspersönlichkeiten angesprochen, die bei den etablierten IT-Anbietern im Zuge des derzeitigen Arbeitsplatzabbaus - vor allem im Produktionsbereich - Probleme haben. "Statt Arbeitslosigkeit und Qualifizierungsmaßnahmen helfen wir beim Aufbau neuer Unternehmen, indem wir ihnen für den Zeitraum von zwei Jahren einen geschützten Rahmen bieten können", erklärt Schmid. Dazu gehört neben Schulungen und Kurzarbeitermitteln vom Arbeitsamt auch die Angehörigkeit zu einer Dachgesellschaft, welche die Gehälter zahlt. Das Ziel dahinter ist klar: "Wir wollen die Krise als Chance nutzen."