Disruption der Individual-Mobilitätsbranche

Das Auto ist keine Kamera

Kommentar  von Hendrik Schubert
In der Mobilitätsindustrie wird die Disruption erneut ganz anders verlaufen als beim Fotoapparat oder beim Mobiltelefon. Denn die Denkstrukturen der etablierten Autohersteller in Deutschland wandeln sich bereits. Und: Der Kunde tickt anders.

"In fact, making cars is really hard." Dieser Satz von Uber-Chef Travis Kalanick anlässlich der Kooperation mit Daimler bringt den Kern der Autoindustrie auf den Punkt. Autos gehören heute zu den komplexesten – und gleichzeitig emotional aufgeladenen – Gebrauchsgegenständen unserer Zeit.

Obwohl bereits 2015 vorgestellt, ist der Mercedes-Benz F 015 und das zugrundeliegende Konzept noch ziemlich futuristisch.
Foto: Mercedes-Benz

Ich selbst fahre mit Freude, wie wohl die meisten Autobesitzer. Der Satz sagt viel über das Verhältnis des Konsumenten zum Gegenstand aus: Ich selbst fahre. Und das: Mit Freude. Bedeutet: Ich will gar nicht, dass mein Wagen autonom durch die Gegend kurvt. Und ich habe eine starke emotionale Bindung zu meinem Vehikel, eine Identifikation mit Gefährt und auch seiner Marke.

Beides sind keine guten Vorzeichen für die vielbeschworene vielschichtige Disruption des Automobilmarkts. Dennoch: Die Fragen rund um die Zukunft des Autos sind mannigfaltig und spannend – die Vorbeben der Veränderung beinahe körperlich zu spüren. Meines Erachtens lassen sie sich auf drei große Punkte subsummieren, die ich anschließend kurz auf ihr Disruptions-Potenzial untersuchen möchte.

Das "Triple A" der bevorstehenden Entwicklung der Individuellen Mobilität.
Foto: EWERK

1. Antrieb: Bisher wie ein großes Kind in einer Schlammpfütze

Unzweifelhaft ist das Abwenden von mineralölgetriebenen Verbrennungsmotoren - so weh mir persönlich das in der Seele tut. In den vergangenen 120 Jahren sind wir mit der Kruste und der Atmosphäre der Erde umgegangen wie ein großes Kind in einer Pfütze mit viel Schlamm: Wir haben alles durcheinandergebracht und viel aufgewirbelt, bis die Suppe trüb wurde – und hatten zugegebenermaßen einen Menge Spaß dabei.

Anders gesagt: Ein Umstieg auf eine CO2-neutrale Mobilität – wahrscheinlich elektrisch – ist unvermeidbar.

Tesla hat das erkannt und rollt den Markt für Elektromobilität von hinten auf, indem es Elektroautos zuerst als Luxus-, dann High-Class-, ab diesem Jahr schließlich als Massenware verkauft: Tesla gibt sich als den klassischen Disruptor.

Evolution statt Disruption: Elektroautos an der Ladestation
Foto: Sopotnicki - shutterstock.com

Die Herangehensweise der deutschen Industrie unterscheidet sich grundlegend. Man wartet ab, man forscht und entwickelt in verschiedene Richtungen - und wartet auf den richtigen Moment. Den, wenn die Zeit einer Technologie reif ist. Die etablierten Autobauer begleiten die Wandel mit, ohne bisher die Speerspitze zu bilden.

Fazit: Elektromobilität gestaltet sich derzeit nicht als Disruption, sondern als eine – zugegebenermaßen tiefgreifende – Evolution des Automobils. Das Fahrerlebnis an sich wird nicht neu erfunden, sondern nur die Speicher für die Energie zur Fortbewegung.

2. Autonomes Fahren: Wer hat Angst vorm Bordcomputer?

Schon deutlich tiefgreifender gestaltet sich das autonome Fahren. Vom Ende her gedacht ist es ein klares "Auf-den-Kopf-Stellen" des bisherigen Systems: vollautomatisierten Verkehr, weniger Unfälle, optimierte Auslastung der Straßen. Es entmündigt den Fahrer, verkehrt die Rollen: Der Mensch wird zum Beförderungsobjekt, das Auto zum Entscheider.

Ganz ehrlich: Selbst ich als Digitalisierer der ersten Stunde hadere mit der Idee. Nicht, weil sie nicht absolut dem Fortschrittsglauben entsprechen würde, den ich selbst stets predige. Hier wird der Autofahrer in mir widerborstig. Ich möchte Herr sein über Geschwindigkeit und sie spüren können. Und ich bin sicher, ich bin mit diesem Wunsch nicht alleine.

Diese letzten Sätze sind subjektive Ansichten. Doch beim autonomen Fahren geht es um genau das: Gefühl. Meine These: autonomes Fahren hat außerhalb stark verdichteter Ballungsräume – und damit meine ich nicht einmal München oder Berlin – keine kurzfristige Zukunft. Dazu ist die Liebe insbesondere der Deutschen zur Beherrschung der Geschwindigkeit zu groß. Und der Leidensdruck zu klein: Waren Sie schon einmal in Hanoi?

3. Sharing Economy: Bessere Auslastung statt ewiger Parkplatzsuche

Womit wir direkt schon beim dritten Thema sind: dem möglichen Rückgang von Vehikeln durch die sogenannte Sharing Economy. Idee ist, Gebrauchsgegenstände mit ungünstigem Kosten-Nutzungs-Verhältnis – wie etwa dem Auto – auf die Allgemeinheit zu verteilen und gemeinsam zu nutzen. Die ökonomischen, ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Effekte wären enorm: Stellfläche verringert sich; individuelle Mobilität würde erschwinglicher; Materialkosten sänken; manch einer würde erkennen, dass der öffentliche Kollektiv-Verkehr für ihn günstiger in vielerlei Hinsicht wäre.

Der Sinn ist hier viel sichtbarer: Staus würden reduziert ­– alleine durch die gesunkene Gesamtfläche der Fortbewegungsmittel – und die Parkplatzsuche vor dem Haus wird in verdichteten Großstädten nicht mehr zur Geduldsprobe. Dies könnte zum Angriffspunkt für künftige Veränderungen hin zu einer stärkeren Sharing Economy werden – sogar in Deutschland. Wenn denn das Angebot stimmt.

Die Kooperation zwischen Uber und Daimler ist clever

Die Kooperation zwischen Daimler und Uber ist in dieser Hinsicht clever – eine Verbindung zweier starker Marken. Und sie ist ein perfektes Beispiel agitalen Denkens. Agitalität – wie in einem früheren Text erläutert – beschreibt die Fähigkeit, agile Denkstrukturen mit der Fähigkeit zur Disruption und gleichzeitig zur Optimierung bestehender Systeme zu entwickeln, um in Zeiten der Digitalen Transformation zu überleben.

Bei Uber und Daimler kommt zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. Jedoch nur auf den ersten Blick: Der Disruptor nimmt einen monolithischen Marktführer an die Hand und holt sich gleichzeitig Wissen und Tüftlersinn ins Boot. Denn: "Making cars is really hard." Daimler hingegen bewegt sich aus der Komfortzone seiner klassischen Entwicklungen und nimmt zwei der wesentlichen Veränderungen auf einmal in Angriff: autonomes Fahren – und die Access Economy. Das ist ein cleverer Schachzug und zeigt, wie agital Daimler bereits denkt.

Das Auto wird sich verändern, nicht aber der Kunde

Wenn wir heute von Disruption reden, nehmen wir natürlich stets von gelungenen Beispielen wie etwa dem iPhone oder der Digitalfotografie. Doch es gibt auch andere, weniger tiefgreifende Versuche der Disruption durch Digitalisierung, die auf halbem Wege stecken blieben oder sich nie ganz erfüllten.

Apple, Google und Amazon wollten den Fernseher disruptieren – heute hängen ihre Geräte an weiterhin klassischen Fernsehgeräten. Und Netflix, Spotify und auch schon vorher iTunes haben unsere Gewohnheiten des Medienkonsums sicherlich verändert: Das lineare Fernsehen und Radio haben sie jedoch nicht verdrängt.

Es kommt noch dicker: Kodak hat sich nach der Insolvenz 2012 erholt und erlebt eine Renaissance sondernorm. Wir erreichen einen Punkt in der Digitalisierung, an dem die Menschheit merkt: Nicht alles, was auch technisch möglich ist, ist wünschenswert. Lieber bannt man den Farbfilm vom vergangenen Urlaub lieber wieder auf Papier.

Zurück in die Zukunft: Das Besondere des Kamera-Smartphones Kodak EKTRA 169 ist die Möglichkeit, Foto-Abzüge zu bestellen.
Foto: Kodak

Meine Prognose: Ähnlich wird es mit dem Auto laufen. Zu emotional ist die Bindung der Kunden an die bestehenden Marken; zu clever sind insbesondere die deutschen Autobauer in der Analyse der bevorstehenden Veränderungen. Das digitale Zeitalter verändert das Auto grundlegend – doch viele der heutigen Platzhirsche werden bestehen, sollten sie ihre Denkstrukturen genügend anpassen. (mb)