CMIS

Abschied von Content-Management-Inseln

27.10.2009 von Martin Ortgies
Der Oasis-Standardisierungsvorschlag Content Management Interoperability Services (CMIS) soll die Grenzen zwischen verschiedenen Content-Repositories überwinden.

In großen Unternehmen sind nicht selten bis zu 30 verschiedene Dokumenten-Management-Systeme (DMS) mit individuellen Client-Anwendungen im Einsatz. In der Folge fehlt häufig die komplette Sicht auf den Kunden, weil die Informationen in voneinander isolierten Repositories und Archiven gesammelt und verwaltet werden. Mit dem 2008 bei der Organization for the Advancement of Structured Information Standards (Oasis) eingereichten Standardisierungsvorschlag CMIS sollen diese Schwachstellen behoben werden, indem ein CMIS-Client mit einer einzigen Abfrage auf alle Repositories zugreifen kann. So die Theorie.

Laut "Banken-IT-Studie 2009" von IDC bezeichnen ein Viertel der Banken die interne Datenqualität als verbesserungsbedürftig. Bisher würden Geschäftschancen verpasst, weil mit inkonsistenten, fehlerhaften oder fehlenden Daten gearbeitet werde. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Steria Mummert Consulting in einer aktuellen Studie. Das Kundendaten-Management gehöre zu den Dauerbaustellen. Bis zu 20 unterschiedliche Speicherorte für Kundeninformationen seien in vielen Unternehmen keine Seltenheit. Jeder dritte Betrieb in Deutschland investiere deshalb in die Reorganisation bestehender Prozesse, um bis zu 20 Prozent Kosten zu sparen.

Dass in vielen Unternehmen mehrere Dokumenten-Management-Systeme im Einsatz sind, hat gute Gründe. Es sind meistens individuelle Client-Anwendungen, die für spezielle Aufgaben eingesetzt werden, etwa für die Kundeninformationen im Vertrieb, für die technischen Informationen in der Entwicklung oder für Verträge in der Rechtsabteilung. Zusätzlich existieren oft noch weitere Repositories aus Fusionen und Organisationsreformen. In der Folge gibt es immer häufiger Probleme mit unvollständigen, nicht verfügbaren oder veralteten Informationen.

Dabei stellt sich regelmäßig die Frage, ob die isoliert vorgehaltenen Informationen durch Migration der Repositories auf ein einheitliches System zusammengeführt werden sollen. Mit CMIS gäbe es eine Alternative. Die vorhandenen Dokumenten-Management-Systeme könnten weitergenutzt und durch einen CMIS-Client könnte eine Brücke zu den bisher isolierten Informationsinseln gebaut werden.

Die CMIS-Initiative

Die CMIS-Initiative wurde von IBM, EMC und Microsoft ins Leben gerufen und reichte 2008 bei der Oasis eine technische Spezifikation zur Interoperabilität von Content-Management-Systemen (CMS) ein. Ziel der Initiative ist die Bereitstellung eines technischen Rahmens, der den transparenten Zugriff auf Informationen aus verschiedenen Repositories ermöglicht. Dafür wird ein Datenmodell definiert, das regelt, welche Content-Objekte verwaltet und wie auf diese zugegriffen werden kann. CMIS kann daher als standardisierte Schicht zwischen Repositories und Anwendungen im Web verstanden werden.

Noch ist der CMIS-Standard ein Draft in der Version 0.6 und wartet auf seine Verabschiedung. Inzwischen unterstützen ihn über 50 Hersteller, darunter SAP, Oracle, Alfresco Software und OpenText. Es gibt also gute Argumente für den Erfolg des neuen Standards, allerdings auch etliche Kritikpunkte.

Zu den Unwägbarkeiten von CMIS zählt, wann und in welchem Umfang der Standard von der Industrie tatsächlich adoptiert wird. Eine gravierende Kritik äußert Renate Mayer von der fme AG, einem Beratungsunternehmen für Dokumenten-Management: "Das Oasis Technical Committee ist ohne Benutzervertreter und damit völlig herstellergesteuert. Dies nährt den Verdacht, dass CMIS entsprechend den Wünschen der DMS-Hersteller gestaltet wird und nicht auf den Anwendungsfällen der Benutzer basiert." Die Kritik verweist darauf, dass der CMIS-Ansatz eine große Verantwortung auf den Client legt und sich die Hersteller von größeren Anpassungen ihrer DMS befreien, indem sie CMIS wenig vorschreibend gestalten. Dadurch verkomplizieren sich aber die aufrufenden Clients, weil sie auf die sehr unterschiedliche Fähigkeiten der Server entsprechend reagieren müssen.

Was CMIS tatsächlich leisten kann

Vergangene Standardisierungsversuche wie die WFMC (Workflow Management Coalition) oder JCR (Java Content Repository) haben sich wegen zu hoher Komplexität nicht durchgesetzt. CMIS folgt dem Prinzip der Service-Orientierung und setzt auf eine möglichst große Einfachheit. Erste CMIS-Implementierungen auf Basis des Draft, etwa von Alfresco und EMC Documentum, sollen die Machbarkeit des Konzepts nachweisen. Entgegen seinem Namen behandelt CMIS nicht Content als Ganzes, sondern bietet lediglich ein Minimal-API für das Dokumenten-Management an. CMIS regelt somit den Zugriff auf Ordner, Dokumente und deren Beziehungen untereinander. Umfangreiche Meta-Abfragen erlauben es einem Client, abzufragen, welche Funktionalität ein bestimmtes Repository durch CMIS anbietet. Aus Sicht des Anbieters bedeutet dies beispielsweise, dass ein Repository, das Versionierung nicht unterstützt, wegen CMIS nicht extra erweitert werden muss. Es wird durch die Metadaten-Abfrage einfach bekannt gegeben, dass Check-in/Check-out nicht möglich sind.

Migration oder CMIS-Client?

CMIS geht davon aus, dass im Unternehmen für die gewünschten speziellen Funktionen auch künftig verschiedene Repositories gebraucht werden. Andererseits verweist die "Banken-IT-Studie 2009" darauf, dass sich die Geschäftsprozesse leichter elektronisch abbilden und automatisieren lassen, wenn weniger Schnittstellen berücksichtigt werden müssen.

Fme-Expertin Mayer plädiert für eine systematische Entscheidungsfindung, ob eine Migration oder der Einsatz eines CMIS-Clients sachlich sinnvoll und ökonomisch vorteilhaft ist:

Definition der Anforderungen

Im ersten Schritt geht es um die Anforderungen an die künftige Nutzung von Dokumenten-Management-Systemen. Welchen Bedarf und welche Szenarien gibt es für die Repository-übergreifende Suche? Existieren beispielsweise nach einer Fusion konkurrierende Systeme mit gleichen Funktionen, wird es sinnvoll sein, die Dokumentenverwaltung auf einer Plattform zu vereinheitlichen. Geht es stattdessen darum, dem Vertrieb Zugriff auf bisher getrennte Kundendaten in der Rechtsabteilung und in der Produktion zu gewähren, bleibt der weitere Einsatz der jeweiligen Dokumenten-Management-Systeme davon unberührt.

Ist-Aufnahme

Firmen sollten für jedes Repository klären, welche Dokumente von wem wie häufig genutzt werden und wie geschäftsrelevant sie sind. Eine zu erstellende Liste aller Repositories muss auch die Frage beantworten, wie hoch die Ausgaben für Update, Wartung und Betrieb sind, ob das Repository vom Hersteller bereits CMIS-fähig gemacht wurde und mit welchen Umstellungsrisiken zu rechnen ist (Performance, Standort des Servers etc.).

Entscheidungsvorbereitung

Auf Basis der Anforderungen und der Ist-Aufnahme lassen sich Kosten und Nutzen schätzen. Wie wichtig und wertvoll sind die Repositories? Wie viel kostet eine Migration beziehungsweise die Entwicklung eines CMIS-Clients? Existiert eine Drittlösung? Denkbar wäre hier eine Übersichtstabelle, in der die wichtigsten Argumente für die Entscheidungsfindung aufgelistet sind.

Konzept/Spezifikation

Ist eine Entscheidung zugunsten des CMIS-Clients gefallen, folgt die detaillierte Untersuchung der Repositories und der darin enthaltenen Attribute. Es ist zu prüfen, wie die durch CMIS angebotenen Repository-spezifischen Funktionen an die Anforderungen des übergeordneten Systems (beispielsweise einer Business-Prozess-Lösung) angepasst werden müssen. Hier wäre zu klären, ob beispielsweise eine bisher nicht vorhandene Versionierungsfunktion im DMS durch einen CMIS-Client bereitgestellt werden kann.

Umsetzung

Im letzten Schritt erfolgt die Entwicklung des CMIS-Clients mit den Schnittstellen zu den vorhandenen Repositories. Die zentrale Aufgabe ist jetzt die Berücksichtigung der unterschiedlichen systemspezifischen Attribute. Im Ergebnis sorgt der Client für eine gemeinsame Suchabfrage, ohne dass sich der User mehrmals unter jeweils unterschiedlichen Benutzeroberflächen anmelden muss.

Gute Chancen für CMIS

Der Bedarf für einen Standard wie CMIS ist groß, weil viele Unternehmen derzeit ihre Prozesse reorganisieren und dafür alle relevanten Informationen benötigen. Da die Anpassungen der beteiligten Hersteller vorab bei Oasis getestet werden, können sich die Client-Entwickler auf die Funktionen konzentrieren. CMIS hat eine fast nicht breiter zu machende Unterstützung aus der ECM-Industrie erhalten, entsprechende CMIS-Adapter werden vermutlich bald nach Erscheinen der verabschiedeten Spezifikation erhältlich sein. (fn)

CMIS oder JCR oder WebDAV?

  • In der Diskussion um CMIS wird gelegentlich von den Alternativen JCR oder WebDAV gesprochen. Vermutlich wird es eher zu einem Miteinander kommen. Gut vorstellbar, dass sich eine Arbeitsteilung zwischen CMIS (Interoperability) und JCR (Entwicklungs-API) ergibt, denn wer ein neues CMS/DMS entwickelt, ist mit JCR gut bedient. WCMs wie Day Communique, Magnolia und Hippo sowie Portallösungungen wie das Oracle Bea Portal und IBM Websphere Portal benutzen intern die JCR-Schnittstelle als Entwicklungsgrundlage.

  • WebDAV wird schon allein wegen der großen installierten Basis (siehe Sharepoint) bleiben. Alle Betriebssystem-Anbieter (inklusive Microsoft mit "WebFolders") unterstützen WebDAV. Ein Miteinander ist wahrscheinlich. Beispielsweise bietet der CMIS-Client von SAP auch eine WebDAV-Schnittstelle an.