OECD und BMFT lassen Politiker und Wissenschaftler im Berliner Reichstag Flagge zeigen

1984 und danach: Plädoyer für die Autonomie

04.01.1985

BERLIN - "1984 und danach - Die gesellschaftliche Herausforderung der Informationstechnik", unter diesem Motto stand eine große Konferenz, zu der die OECD und das Bundesministerium für Forschung und Technologie kürzlich in den Berliner Reichstag geladen hatten. 250 Teilnehmer beschäftigten sich aktiv in neun Arbeitskreisen oder passiv als Zuhörer politisch und wissenschaftlich akzentuierter Vorträge mit Technikfolgenabschätzung,

aber auch Ist-Analysen.

In erster Linie richtete sich die Veranstaltung an Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik, weniger an die Informations- und Kommunikationstechniker selbst. Nur ein Arbeitskreis vertiefte sich hier, sein Thema: Mensch-Maschine-Systeme der Zukunft.

Die übrigen Themenschwerpunkte und damit Arbeitskreisdiskussionen drehten sich um

- Demokratie,

- Verletzlichkeit des Individuums und der Gesellschaft,

- Wirtschaftswachstum und Beschäftigung,

- Internationale Arbeitsteilung,

- Arbeitsorganisation,

- Bildung,

- Formen des Zusammenlebens und

- Künstliche Intelligenz.

Viele bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens übernahmen in den Arbeitsgruppen die Rolle von Positionssprechern, Arbeitskreisleitern oder auch Rapporteuren am letzten Tag der Konferenz. Genannt seien zum Beispiel Hans Heigert, Kurt Biedenkopf, Ernst Benda, Spiros Simitis, Hans Janßen und Norbert Szyperski.

Die wohl interessanteste Gruppe für Insider der DV-Branche und solche Anwender, die einmal über den Tellerrand hinaus Horizonte sehen wollten, war der zirka 20 Personen umfassende Kreis der Gruppe sechs, die die "Mensch-Maschine-Systeme der Zukunft" zum Gegenstand ihrer Pro- und Kontra-Reden, -Fragen und -Statements machten. Ziel ihrer Arbeit sollte sein, die künftige Funktionsteilung zwischen Menschen und technischen Systemen in der Arbeitswelt aufzuzeigen, also die sogenannte "Mensch-Maschine-Schnittstelle" näher nach ergonomischen, sozialen, politischen und vor allem "humanen" Gesichtspunkten hin zu untersuchen.

Die "Analyseposition I", das "Pro IuK-Technik", wurde von Albert Kuhlmann vom TÜV Rheinland, vertreten. Das "Kontra" gab Fred Margulies aus Laxenburg bei Wien, seines Amtes unter anderem ehrenamtlicher Sekretär der International Federation of Automatic Control und Leiter des Projekts "Automatisierungstechnik in Österreich". Friedrich Baur, Vorstandsvorsitzender der Zahnradfabrik Friedrichshafen, hatte den Part des Schlichters und Moderators übernommen. Im Plenum befanden sich zum Beispiel Hartmut Fetzer, Vorstandsmitglied der Nixdorf Computer AG, aber auch Jo Müller, Nachrücker bei den Grünen.

Als Feststellung unwidersprochen blieb in diesem Kreise, daß der Mensch sich in den vergangenen Jahrtausenden "seit Erfindung des Rades" nicht geändert habe, sehr wohl aber die Maschine. Ferner war unbestritten die Annahme, daß der Mensch als "Master" die Maschine, den Sklaven, das Werkzeug beherrsche. Von einer Umkehr dieses Verhältnisses, wie es in Utopien oft beschworen werde, sei grundsätzlich nicht auszugehen. Im Hinblick auf die weit verbreiteten Technikängste brachte Jo Müller dennoch die Habermas'sche These von der Verselbständigung der Technik gegenüber der Gesellschaft in Erinnerung.

Ein Fünftel der Zeit für die Angst

Ein Fünftel der Diskutierzeit war dem Thema Angst im Sinne von Akzeptanzschwäche gewidmet. Einig war man sich auch über ein Gegenmittel, nämlich die frühzeitige und faire Mitwirkungsmöglichkeit der Betroffenen an Entscheidungen im Zusammenhang mit der Einführung oder auch Veränderung von IuK-Techniken. Die Frage, was der Verlust von handwerklichen Fähigkeiten zugunsten von Computer-Bedien-Know-how für den einzelnen wie die Gesellschaft bedeuten könnte, wurde, wie manche andere Zwischenfrage, nicht aufgegriffen.

Selbstkritisch gingen einige Arbeitskreisteilnehmer gerade im Zusammenhang mit der Akzeptanz- und Angst-Diskussion auf häßliche, unmenschliche und unverständliche frachsprachliche Wendungen ein, wie zum Beispiel "Mensch/Maschine-Schnittstelle", eine derartige Terminologie fördere Ablehnung und Unverständnis.

Naheliegende Erklärungen für dieses verbreitete Phänomen suchte und fand der TÜV-Mann. Sehr gewählt drückte er sich aus: Die von Natur aus Zögernden und Benachteiligten stellten das Hauptpotential der Ängstlichen. Nicht nur der "Grüne" Müller konterte dieser allzu simplen Erklärungen, daß "nur die Doofen und die Feigen" (Müller) auf der Seite der Zurückhaltenden zu finden seien.

Als Mensch/Maschine-Systeme konkretisierte die Gruppe:

- mehr oder weniger ergonomische Computer beziehungsweise Terminals,

- komplexe Steuerungssysteme in Großfertigungen oder in Flugzeugen, die von Menschen an "Leitständen" mehr überwacht als tatsächlich noch individuell gesteuert werden,

- fernmeldetechnische Netze, die genossenschaftlich organisierte Kleinunternehmen zur Stützung ihrer informationellen Infrastruktur dienen,

- sogenannte Technologie-Zentren, die auf dem Weg über Dienstleistung und Beratung finanzielle und Akzeptanzhürden überwinden helfen könnten.

Zur Arbeitsplatzsituation formulierte der Kontra-Sprecher Margulies die griffigsten Sätze: Im Arbeitsprozeß vernichtet die Maschine die Optionen des Menschen, jedenfalls im mittleren und unteren Bereich. Es dürfte nicht so weit kommen, daß der (ergonomisch) schlechteste Arbeitsplatz immer noch besser sei als gar keiner. Aber die Situation, in der man Arbeitsplätze schaffe, an denen Menschen zu Maschinen würden und dadurch dann besonders gut durch Maschinen ersetzt werden könnten, sei auch unerträglich.

Maschinenartig reduziert

Jo Müller hatte in ähnlicher Weise von der "Mensch-Maschine-Gesellschaft" gesprochen, "in der alles auf eine ganz bestimmte, maschinenartige Weise reduziert wird". Pro-Redner Kuhlmann zog die Angst-Diskussion wieder auf die pragmatische Ebene, indem er der IuK-Technik die Sonderrolle einer ganz speziellen Technik absprach. Wir lebten in einer Technik-Nutzungsgesellschaft, die "in ihrem Wesen von echt demokratischer Natur sei". Verteilungsprobleme aller Art (Energie, Information, Nahrung) könnten eben durch die IuK-Technik behoben werden.

Zum Thema Arbeit und Recht auf Arbeit meinte Nixdorf-Mann Hartmut Fetzer, ein Recht auf einen Acht-Stunden-Roboter-Arbeitsplatz könne damit ja wohl nicht gemeint sein. Konsens herrschte darüber, daß die Techniker, die Konstrukteure der Maschinen, zu wenig vom Menschen wüßten (Kuhlmann), "der Technikschöpfer hat nicht die Sensibilität des Techniknutzers".

Nur wenig wurde zum Thema Markt gesagt, dieses aber prägnant. Bekannt sei, daß im Mittelpunkt aller Bemühungen immer der Mensch stehen sollte, in Wirklichkeit jedoch der Markt der alles beherrschende Faktor sei: "Alles was wir tun, steht dem Bemühen um Humanisierung fast gegenüber". Die Anregung, hier weiter über sogenannte Marktkräfte, Monopole, Normen etc. zu diskutieren, wurde nicht aufgegriffen. Immerhin zog Margulies den Vergleich zwischen der Technik als Konkurrenzkampf und der Rüstungsspirale. Sogar von einem Konkurrenzkampf der Sozialsysteme mittels Technik war die Rede: Die ausgemachten Kontrahenten sind Japan, USA und Europa; der sowjetische Machtbereich habe sich in dieser Hinsicht verabschiedet, sagte Jo Müller.

Autonomes Anpassen

Benutzerfreundlichkeit definierte der autorisierte Kontrahent in der Runde nicht als das Angebot, dem Menschen möglichst viele Entscheidungen abnehmen zu können, sondern als Chance, Entscheidungen zu erleichtern. "Autonomes Anpassen der Technik an Menschen sind Situationen, das wäre die richtige Schnittstelle", so skizzierte er einen wünschenswerten Bestandteil innerbetrieblicher Demokratie.

Das Problem der Unterforderung am Arbeitsplatz wurde von Plenumsmitglied Müller in die Diskussion gebracht; sie existiere, obwohl weder Techniker noch Soziologen die Dequalifikation durch den Computer wirklich wollten. Gegensteuern könnte man mit der Aufhebung der Arbeitsteilung, harmonisierte wieder der Österreicher Margulies: Der Mensch könne aus vielen technischen Systemen herausgenommen werden, dieses aber nur unter der Voraussetzung, daß von der Taylorisierung weggegangen werde. Kein neuer Gedanke. Ein Lichtblick immerhin der Beitrag eines industrienahen Diskutanten: Die Fähigkeit individuelle Produkte zu erzeugen, müsse bleiben, wenn nicht wiederhergestellt werden; Management-Shops könnten die geeignete Organisationsform darstellen, die über Informationsnetze den Ladenbesuchern respektive Tele-Kunden das notwendige Know-how für eigene Lösungen verschaffen könnten. "Dorfschmieden im Verbund" nannte er das. Warnend erwähnte er jedoch seine Erfahrung mit Marktführern, derartige Initiativen in Augenblicken der Finanzknappheit zu übernehmen und dadurch dann wirkliche Individualität wieder unmöglich zu machen. Neues Schlagwort in diesem Zusammenhang: Jedermann-Technik; altes Schlagwort: Ressourcen-Sharing.

Die OECD und das BMFT wollen eine Dokumentation der Berliner Drei-Tages-Konferenz, die sich ja noch auf acht weitere Themenkreise bezog (siehe oben) und die durch internationale, strategisch angelegte Positionsvorträge namhafter Politiker eröffnet wurde, im Januar 1984 vorlegen.

Differenzierendes "Pro IuK-Technik"

Pro und Kontra Informations- und Kommunikationstechnik war der Nenner, unter dem kürzlich nahe der Berliner Mauer im Gebäude des Reichstags die Konferenz "1984 und danach" stattfand. OECD (Organization for Economic and Comercial Development) und Bundesregierung in der Person von Forschungsminister Heinz Riesenhuber hatten 250 Delegierte und andere hochrangige Teilnehmer gewonnen, um gegensätzliche Positionen aus unterschiedlichen Blickwinkeln "handlungs- und ergebnisorientiert" diskutieren zu lassen. Die Auswertung der Rapports aus den neun Arbeitskreisen ergab ein stark differenzierendes "Pro IuK-Technik. Bemerkenswerte Feststellung am Rande: Obwohl Entwicklungsländerpolitik ein wesentliches Arbeitsgebiet der OECD ist, blieb diese Problematik aus Zeitgründen und wegen der Überfülle der Probleme bereits innerhalb der Mitgliedsländer der OECD, der Hauptindustrieländer der Welt, unbehandelt.