ERP-Trends

Anwender wollen ERP-Bremse lösen

25.11.2011
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Anwender klagen über Komplexität

Speziell SAP-Kunden wissen davon ein Lied zu singen. Aus ihren Reihen waren in den vergangenen Monaten vermehrt Klagen zu vernehmen. Die Systeme seien zu komplex, und die Produktqualität sei auch schon einmal besser gewesen, kritisierten die DSAG-Verantwortlichen. Gerade rund um das ERP-System mit seiner nach wie vor guten Qualität seien viele Techniken entstanden, die teilweise zu Problemen geführt hätten, berichtet DSAG-Vorstand Marco Lenck. Aufgrund der Produktvielfalt und der Menge an Einsatzszenarien habe SAP Probleme, mit der gebotenen Gründlichkeit zu testen. "Diese Faktoren haben zu einer gefühlten schlechteren Qualität geführt", lautet Lencks Schlussfolgerung.

Außerdem, so zeigt eine DSAG-Umfrage, entwickeln sich fast zwei Drittel aller SAP-Projekte komplexer als ursprünglich erwartet. Das liege unter anderem an der großen Zahl von SAP-Systemen, die viele Unternehmen betreiben. Demzufolge hat jeder SAP-Kunde im Schnitt 17 SAP-Systeme im Einsatz, davon allerdings nur fünf produktiv. Die übrigen dienen der Qualitätssicherung und Entwicklung beziehungsweise sind Altsysteme oder fungieren als Sandbox zum Experimentieren.

Lenck will die entstandenen Probleme nicht allein SAP anlasten. Häufig würden Unternehmen die Software nicht so einsetzen, wie es ursprünglich gedacht war. "Viele Entwickler bei SAP sind im Nachhinein überrascht, was die Anwender ihrer Software machen", so der DSAG-Sprecher. Er empfiehlt klare Regeln, wie die Hersteller Software entwickeln und Anwender sie einsetzen sollten. Ein solches Leitbild, eine "System Landscape Governance", könne für alle Beteiligten einen Rahmen vorgeben.

Mehr Transparenz

Dafür müssten sich allerdings beide Seiten an zu vereinbarende Regeln halten. Die Softwareanbieter müssten für mehr Transparenz sorgen. Oft sei für die Anwender nicht zu verstehen, welche Folgen Veränderungen an der Software nach sich ziehen: "Viele schlechte Installationen passieren unbewusst, weil die Anwender falsch beraten werden oder über zu wenige Informationen verfügen." Die Anwender ihrerseits müssten mehr Ordnung in ihre Softwarelandschaften bringen.

Zwar steigt Lenck zufolge die Bereitschaft, sich angesichts des Leidensdrucks stärker an Standards und Regeln zu halten. Laufende Systeme zu vereinfachen, nur um ein künftiges Supportproblem aus dem Weg zu räumen, komme für die meisten aber nicht in Frage. Eine ERP-Governance könne nur dann greifen, wenn es um Neuinstallationen oder Änderungen an laufenden Systemen gehe. Aber kaum ein Anwender werde von heute auf morgen sein SAP-System umbauen.

Anwender lassen sich Zeit

ERP-Anbieter wie beispielsweise SAP haben in den vergangenen Jahren ein hohes Tempo mit neuen Techniken und Visionen vorgelegt. Längst nicht alle Anwender waren bereit, ihrem Softwarelieferanten zu folgen. Bemängelt wurde oft, dass die Hersteller nicht in der Lage seien, den konkreten Nutzen neuer Technikansätze, wie beispielsweise Service-orientierte Architekturen, zu belegen. Upgrades erfolgten daher häufig nur aus Zwang, vor allem weil Wartungsfristen ausliefen. Die Marktforscher von Raad Research beobachten seit vielen Jahren den SAP- und ERP-Markt in Deutschland und können mit ihren Zahlen die Zurückhaltung vieler ERP-Kunden belegen:

  • Derzeit setzen immer noch 39 Prozent der SAP-Kunden ein R/3-Release ein, von denen rund drei Viertel ausschließlich damit arbeiten. 69 Prozent arbeiten mit SAP ERP, davon der überwiegende Teil mit dem aktuellen Release 6.0. Rund 13 Prozent haben die Business Suite im Einsatz. Damit hat sich das Softwarepaket aus Sicht der Marktbeobachter von Raad Research nicht besonders dynamisch entwickelt. Etliche Anwenderunternehmen betreiben unterschiedliche Release-Stände gleichzeitig.

  • Mit dem aktuellen Release ERP 6.0 verspricht SAP seinen Kunden einen weitgehend reibungslosen und unkomplizierten Ausbau des Systems. Das soll über so genannte Enhancement Packages (EHPs) funktionieren. Zwar hat sich die Zahl der Unternehmen, die solche Erweiterungspakete eingespielt haben, im vergangenen Jahr verdoppelt. Allerdings haben erst 21 Prozent der ERP-6.0-Anwender ein EHP eingespielt. Ein Großteil der Kunden habe das Konzept nicht verstanden, mutmaßen die Marktforscher.

  • Zwar nimmt die Zahl der älteren ERP-Programme kontinuierlich ab, aber bei Nutzern, die nicht mit SAP-Software arbeiten, sind 27 Prozent der eingesetzten Systeme immer noch mindestens zwölf Jahre alt.

  • Für Unternehmen, die ihr R/3-System stark angepasst haben, bietet der Umstieg auf ERP 6.0 eine gute Gelegenheit, über Jahre eingeschliffene Prozesse auszumisten und sich ganz den in der Software vorgegebenen Abläufen anzuvertrauen. Eine Umfrage unter mehr als 300 SAP-Kunden ergab jedoch, dass über die Hälfte keinen Bedarf für eine Prozessharmonisierung sieht, immerhin 22 Prozent denken zumindest darüber nach, und 27 Prozent wollen künftig ihre Geschäftsabläufe möglichst durch einen im SAP-System festgelegten Prozess ersetzen.

  • Ein Drittel der SAP-Bestandsklientel hat noch keine Erfahrung mit der Integrationsplattform Netweaver. Diese Unternehmen sind damit technisch noch nicht in der neuen SAP-Welt angekommen und müssen in den kommenden Jahren aufholen.

  • Im Hinblick auf Service-orientierte Architekturen waren bis dato meist nur wenige kleinere Projekte zu beobachten. Die dahinter stehende strategische Denkweise hat sich auf breiter Front noch nicht durchgesetzt. Es fehlt zum Teil noch das Business Alignment, um SOA zu einem IT-Architekturthema zu machen und damit auch die Akzeptanz im Business zu stärken.