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2009 soll die Karte für alle kommen

Der Nächste, bitte: Neue Gesundheitskarte im Praxistest

14.11.2007
Von WIWO WIWO
Mehr Transparenz, weniger Kosten, bessere Behandlung: Das alles soll die elektronische Gesundheitskarte bringen. Nach jahrelangem Streit über Sinn und Unsinn der Technik starten nun endlich die ersten Großversuche.

Für Gerd Beck ist es eine tolle Sache: "Wenn mir wirklich einmal etwas passieren sollte, sind da alle wichtigen Notfalldaten drauf", sagt der 68-Jährige. Der Rentner aus Bochum und passionierte Motorradfahrer ist geistig topfit. Doch bei einem Verkehrsunfall, befürchtet er, könnte sich das schnell ändern: "Da fallen einem dann die wichtigsten Dinge vor Aufregung nicht mehr ein oder man kann wegen einer Verletzung gar nicht mehr sprechen." Da er mit seiner schwarzen Yamaha XJ 900 auch ganz gerne mal über die Alpen nach Österreich oder Italien fährt, findet Beck die elektronische Gesundheitskarte ganz praktisch. Denn auf der Rückseite ist die Auslandskrankenkarte aufgedruckt.

Beck ist einer von etwa 30.000 Menschen in Deutschland, die bereits eine voll funktionstaugliche elektronische Gesundheitskarte (eGK) in der Geldbörse stecken haben. Denn der Raum Bochum-Essen ist neben den Städten Flensburg, Heilbronn, Ingolstadt, Löbau-Zittau, Trier und Wolfsburg eine von sieben Regionen in Deutschland, in denen die Technik derzeit einem großen Praxistest unterzogen wird.

In der ersten Phase nehmen daran im Ruhrgebiet 25 Praxen mit 40 Ärzten, 15 Apotheken, zwei Krankenhäuser und 12 Krankenkassen teil. Sie wurden dafür in den vergangenen Wochen mit Kartenlesegeräten ausgestattet. Rund 300.000 Euro kostet das Projekt allein in Bochum und Essen. Es soll schon bald von jetzt 2000 auf 10.000 Patienten ausgedehnt werden. Bundesweit werden 70.000 Menschen am Test mitmachen.

Es geht um viel. Die Gesundheitskarte soll das digitale Zeitalter in der deutschen Krankenversorgung einläuten, der deutschen Gesundheitswirtschaft einen Qualitätsschub bescheren und zugleich Milliardensummen einsparen - zum Wohle der Patienten. Tatsächlich stößt die digitale Gesundheitskarte bei den Deutschen auf jede Menge Sympathie, wie eine exklusive Umfrage für die WirtschaftsWoche ergab. Wie das Aachener Marktforschungsinstitut Dialego Ende Oktober bei der Befragung herausfand, sind 77 Prozent der Deutschen prinzipiell für die neue Gesundheitskarte.

Sie erhoffen sich davon eine effektivere Behandlung ihrer Leiden, aber auch eine Senkung der damit verbundenen Kosten. Denn mithilfe der Informationstechnologie (IT) und der Vernetzung sämtlicher Daten von Versicherten, Ärzten, Apotheken und Krankenkassen wird erstmals die Qualität medizinischer Leistungen kontrollierbar und quantifizierbar. Wenn später einmal an zentraler Stelle behandlungsrelevante Daten wie Krankheitsgeschichte, Röntgenbilder, Allergien, Blutgruppe oder die eingenommenen Medikamente in Form einer elektronischen Patientenakte vorliegen, sollen Doppelbehandlungen und Fehlbehandlungen weitgehend ausgeschlossen sein. Die Vernetzung der heilsamen Daten soll auch die häusliche Betreuung chronisch Kranker über eine Datenleitung erleichtern und sogar Teleoperationen möglich machen.

Aber das ist noch Zukunftsmusik. Im aktuellen Testlauf sind auf der elektronischen Karte, die Patient Beck an diesem Morgen beim Besuch in der urologischen Praxis von Hans-Peter Peters mit sich führt, nur die sogenannten Stammdaten gespeichert: Name, Adresse, Versicherung und Zuzahlungsstatus (der Auskunft darüber gibt, ob Beck in der Apotheke einen Eigenanteil bezahlen muss oder nicht). Der kleine Patienten-Pass trägt auf der Vorderseite ein Lichtbild und enthält - auf freiwilliger Basis - auch Notfalldaten sowie Angaben über Vorerkrankungen, Unverträglichkeiten und Allergien. Wenn eine Patientenverfügung vorliegt, kann auf dem Chip elektronisch notiert werden, wo diese zu finden ist. Auch der Besitz eines Organspendeausweises könnte hier vermerkt sein.

Die Gemeinschaftspraxis von Peters und seinem Kollegen Klaus-Jürgen Masthoff im Ärztehaus am Kurt-Schumacher-Platz in Bochum war eine der ersten im Testgebiet, die sich Ende Oktober startklar meldete. Zuvor hatte das Unternehmen Medistar, eine Tochter des Koblenzer Arztpraxis-Software-Spezialisten Compugroup, ein Kartenlesegerät mit allen Funktionen installiert und von der Selbstverwaltungsorganisation Gematik (der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte), die das Projekt steuert, zertifizieren lassen.

Auch Rentner Beck ist von Anfang an dabei. Schon zu Jahresbeginn hatten er und seine Frau Dagmar sich bei ihrer Krankenkasse als Freiwillige gemeldet und dort für die neue Karte fotografieren lassen. "Die Kasse bot das als Service an und wir freuten uns, dass wir mitmachen konnten", sagt Beck. Das Ehepaar verfolgt das Projekt Gesundheitskarte schon seit Jahren aufmerksam. Beck: "Keine Doppeluntersuchungen mehr und einfach mehr Sicherheit für die Patienten - das fanden wir klasse."

Doch dann geschah monatelang gar nichts mehr. Becks Arzt Peters, der sich in einem berufsbegleitenden Studium zum Diplom-Netzmanager weitergebildet hatte und die elektronische Gesundheitskarte seit Jahren herbeisehnt, kann sich darüber auch heute noch aufregen: "Was Staatsdirigismus zu blockieren vermag", schimpft er, "ist unglaublich." Er ist überzeugt: "Hätte man Planung und Ausführung an ein Unternehmen vergeben - die Karte wäre längst Alltag in Deutschland."

Tatsächlich gleicht die Geschichte der Gesundheitskarte in Deutschland eher einer Tragödie als einer Erfolgsstory. Mehr als zehn Jahre Entwicklungsarbeit stecken inzwischen in dem Projekt. Unternehmen wie Siemens, die Telekom-Tochter T-Systems, Automatenhersteller Wincor-Nixdorf, Computerkonzerne wie IBM und Hewlett-Packard, Softwarehersteller Oracle sowie zahlreiche kleinere Unternehmen aus der IT-Branche investierten bis Ende 2005 rund 50 Millionen Euro, um das Großprojekt anzuschieben.

Es soll in der ersten Ausbaustufe, wenn alle 80 Millionen Versicherten, 188.000 Ärzte und Zahnärzte, 21.000 Apotheken, 2200 Krankenhäuser, 1300 Rehazentren und 310 Krankenkassen angeschlossen sind, 1,4 Milliarden Euro kosten. Deutsche Unternehmen und Forschergruppen haben dabei zahlreiche wegweisende und weltweit einzigartige Lösungen entwickelt, um die Daten, Diagnosen und Informationen, die über einen Patienten im Laufe seines Lebens gesammelt werden, digital aufzubereiten, zu organisieren und mit Rücksicht auf den Datenschutz zu speichern. Schon vor zwei Jahren meldete Martin Praetorius, verantwortlich für das Business Development E-Health bei Siemens, die Gesundheitskarte einsatzbereit: "Es gibt keine technischen Probleme mehr."

Doch die Umsetzung stockte. Die Gesundheitskarte aus Deutschland, die Unternehmen wie Siemens schon als potenziellen Exportschlager sahen, schien ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie das Lkw-Maut-System des deutschen Unternehmens Toll Collect, dessen Einführung sich wieder und wieder verzögerte. Ein wesentlicher Grund dafür: Die Transparenz der digital aufbereiteten Daten, von der sich Gesundheitsexperten wie der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach nicht nur mehr Qualität in der Behandlung, sondern auch gewaltige Einsparpotenziale versprechen, schreckt viele Mediziner.

So rechnet Lauterbach vor: "Mit Transparenz, Effizienz, Wettbewerb und der Vermeidung von Über-, Unter- und Fehlversorgung lassen sich 25 Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen einsparen." Ein Viertel weniger Ausgaben - das würde bei jährlich von den Kassen erstatteten Gesamtkosten im deutschen Gesundheitswesen von 147,6 Milliarden Euro 36,9 Milliarden Euro bedeuten. Es wären 3,7 Prozentpunkte weniger Krankenkassen-Beitrag. Boris Augurzky, Gesundheitsexperte beim Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung, ist allerdings skeptisch, ob dieser Schatz sich so schnell heben lässt: "Wegen alter Besitzstände und Strukturen sind Effizienzreserven nur schwer zu mobilisieren."

Eigentlich sollte die elektronische Gesundheitskarte, von der Bundesregierung als "innovatives Leuchtturmprojekt" gepriesen, schon Anfang 2006 an den Start gehen. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ließ diesen Termin sogar per Gesetz festschreiben. Umsonst: Erst jetzt laufen die Tests an. Und die eigentlich für 2008 avisierte Ausgabe der Karten an jedermann wurde vor wenigen Wochen erneut verschoben: auf 2009.

Wie stark der Widerstand in der Ärzteschaft ist, weiß der Bochumer Urologe Peters selbst sehr genau, denn er gehört zu den Vorkämpfern für das Gesundheitskarten-projekt und führt die Debatten darüber seit Jahren mit seinen Kollegen. "Die meisten niedergelassenen Ärzte machen sich überhaupt nicht klar, was ihnen eine Umstellung von der analogen auf die digitale Datenverwaltung an Erleichterung und Zeitersparnis bringt", klagt er. Im Klinikbereich sei die Erkenntnis, dass die Digitalisierung auch den Ärzten das Leben leichter macht, dagegen schon viel weiter verbreitet. Wer täglich mit gigantischen Datenmengen hantiere, wie sie Computer- oder Kernspintomografen produzieren, der überlege nicht ernsthaft, ob das noch auf einem Krankenblatt notiert werden könne. "Als ich vor Jahren von der Klinik weg ging und meine Praxis aufmachte, war ich erstaunt, wie merkwürdig anders und eigenartig vieles ablief", sagt Peters. Seither bemüht er sich, das Vorbild einer funktionierenden vernetzten Klinik auf den ambulanten Bereich zu übertragen.

Die ersten Erfahrungen mit der Gesundheitskarte in seiner Praxis sind sehr positiv. Das Lesegerät sei so einfach zu bedienen wie ein gewöhnlicher Kartenleseautomat an einer Tankstellen- oder Supermarktkasse, berichtet Arzthelferin Sabine Thörmer, die schon seit 15 Jahren mit Peters zusammenarbeitet. Sie kann sich eine Praxis ohne Computerunterstützung überhaupt nicht mehr vorstellen: "Wir arbeiten hier seit gut zehn Jahren völlig papierlos - und das geht wunderbar."

Die Patienten hingegen müssen sich an die Technik erst noch gewöhnen. So muss beim ersten Einlesen der Karte zunächst ein sechsstelliger PIN-Code eingegeben werden. Das sei für ältere Menschen mitunter eine Herausforderung, wie Thörmer beobachtet hat. Im laufenden Versuch werden deshalb mehrere Verfahren auf ihre Brauchbarkeit getestet: Solche mit fester PIN, die den Patienten zugeschickt wird, und andere, in denen die Patienten sich ihre PIN selbst wählen können. Haben sie erst einmal die richtigen Ziffern eingetippt, ist alles andere ein Kinderspiel, findet Thörmer. Bevor die Karte allerdings die gespeicherten Daten preisgibt und auf dem Monitor des Computers anzeigt, muss noch eine zweite Karte in den seitlichen Leseschlitz eingesteckt werden: die Arztkarte, der sogenannte Heilberufe-Ausweis. Erst dann kann die Karte eingesehen und zum Beispiel auch etwas auf ihr geändert werden. Oder ein elektronisches Rezept samt elektronischer Signatur hinterlegt werden.

Anschließend geht der Patient in die Apotheke, steckt die Karte dort ins Lesegerät, tippt die PIN ein, der Apotheker weist sich mit seinem eigenen Heilberufe-Ausweis aus und händigt dann dem Patienten das Medikament aus. Weil auch die Kassen mit im Netz sind, erfolgt die Abrechnung nahezu automatisch. Auf ganz Deutschland hochgerechnet soll das allein 200 Millionen Euro jährlich einsparen.

Mithilfe der Karte lässt sich auch erstmals einsehen, was ein Kranker so alles an Medikamenten schluckt. Um diese Informationen zu bekommen, müssen Ärzte und ihre Helfer heute noch intensive Interviews mit ungewissem Ausgang führen. Denn die meisten Menschen merken sich eher die Farben der Pillen als die Namen der Arzneien. "Zwei von den großen weißen, eine hellblaue und eine gelbe", berichtet Arzthelferin Thörmer, sei eine beliebte Antwort von Patienten auf die Frage nach den Medikamenten, die täglich eingenommen werden.

Einen weiteren Vorteil sieht sie ganz klar im Bild auf der Karte: "Nun kann ich tatsächlich beurteilen, ob der Patient, der vor mir steht, auch wirklich der Kartenbesitzer ist." Dass Menschen, die eigentlich gar nicht krankenversichert sind, mit einer geliehenen oder geklauten Kassen-Karte herkömmlicher Art zur Behandlung kommen, ist ein nicht unerhebliches Problem: Der Schaden aus solchen Versicherungsbetrügen wird in Deutschland auf eine Milliarde Euro jährlich geschätzt.

Die Technik selbst funktioniert. Probleme mit dem System sind in Bochum noch nicht aufgetreten. Für den Fall der Fälle steht Marco Hördt bereit. Der technische Projektleiter ist selbst ausgebildeter Mediziner. Er kommt, wenn es irgendwo klemmt und etwas nicht funktioniert. Jene Dinge, die dauerhaft Probleme machen, soll er identifizieren und erfassen. Denn genau darum geht es in dem Test: die Praxistauglichkeit der Karten und des elektronischen Rezepts zu erproben. So stellte sich schon in den ersten Tagen heraus, dass es extrem unpraktisch ist, wenn der Arzt für jeden Patienten und jedes Medikament, das er verordnet, sein Kärtchen stecken muss: "Das dauert viel zu lange", meckerte Peters. Man sei schon dran, die Software mit einer Stapelfunktion auszustatten, kann Hördt den Urologen besänftigen.

Kritiker - selbst aus den eigenen Reihen - spotten zwar schon jetzt, dass der Testlauf in den sieben Regionen nur zeige, ob die Kartenlesegeräte auch wirklich Karten lesen könnten. Hördt findet das nicht fair: "In dieser Phase kann jeder Arzt, der am Test teilnimmt, sich mit seinen Ideen und Vorschlägen noch einbringen, zudem wird alles von der Gematik finanziert." Er kann nicht verstehen, "dass nicht viel mehr Ärzte mitmachen".

Für Peters gab es da nicht viel zu überlegen. "Ich bin neugierig auf den weiteren Fortgang - und sicher, dass die Telematik die Medizin gewaltig verändern wird", sagt der 50-jährige Mediziner. Von der Karte samt Rezept bis zu Anwendungen wie dem elektronischen Arztbrief, der digitalen Patientenakte oder gar Ferndiagnosen oder Tele-Operationen sei es zwar noch ein weiter Weg. Frühestens in der zweiten Testphase oder in der Endausbaustufe sollen solche Dinge möglich werden. Wichtiger aber ist für Peters: "Hauptsache, der Anfang ist gemacht."

susanne.kutter@wiwo.de