Prozessverständnis verbilligt ERP-Projekte

27.09.2007
Von 
Vice President Software & SaaS Markets PAC Germany
Firmen verschenken viel Potenzial, da sie die Abläufe in ihren ERP-Systemen zu wenig kennen.

"Unternehmen sind von ihren ERP-Systemen abhängig, und alle tun das, was und wie es die Software vorgibt oder zulässt", sagt Werner Schmid, Geschäftsführer der Gesellschaft zur Prüfung von Software (GPS) aus Ulm sowie Herausgeber und Mitverfasser des Fachbuchs "Prozesslandschaften für Unternehmen und Unternehmer". Trotz der provokanten These stellt Schmid die Bedeutung der Business-Software nicht etwa in Frage. Er will produzierenden Firmen helfen, ihre Standardprozesse zu verstehen und so eine Grundlage zu schaffen, ERP-Software so einzuführen, dass alle Beteiligten – IT-Abteilung, Fachbereiche und Berater – kapieren, was sich im System tun sollte. Das klingt einfach und ist es im Grunde auch. Deshalb nimmt das Fachbuch den Leser an die Hand und erklärt ihm, von einem typischen Unternehmensmodell ausgehend, die gesamte Prozesslandschaft in Industriebetrieben.

Detailexperten mit bruchstückhaftem Prozesswissen

Auszug aus dem Buch „Prozesslandschaften“: Produktionsprozess mit verlängerter Werkbank. Das Referenzmodell zeigt und beschreibt sowohl den logistischen Ablauf, den Weg der Beistellung zur und von der verlängerten Werkbank mit „Just in time“-Einbindung in die Produktion, als auch die Erfassung und Buchung der Wertschöpfung. An der Schnittstelle zwischen Warenwirtschaft (Logistik) und Rechnungswesen treten häufig große Wissenslücken auf, die durch die Referenzprozesse geschlossen werden können.
Auszug aus dem Buch „Prozesslandschaften“: Produktionsprozess mit verlängerter Werkbank. Das Referenzmodell zeigt und beschreibt sowohl den logistischen Ablauf, den Weg der Beistellung zur und von der verlängerten Werkbank mit „Just in time“-Einbindung in die Produktion, als auch die Erfassung und Buchung der Wertschöpfung. An der Schnittstelle zwischen Warenwirtschaft (Logistik) und Rechnungswesen treten häufig große Wissenslücken auf, die durch die Referenzprozesse geschlossen werden können.

Fachwissen gibt es Schmid zufolge genügend, doch nützt es bei der ERP-Einführung nicht viel. "In Seminaren und Workshops zur Prozessmodellierung ist es immer wieder erstaunlich, dass die Teilnehmer viel isoliertes Spezialwissen mitbringen, aber den Prozess, in den sie eingebunden sind, nur bruchstückhaft kennen", klagt der Unternehmensberater, der zu diesem Thema Workshops abhält. Und ebenso erstaunlich sei es, wie leicht und schnell mit diesem Teilwissen ein durchgängiger und stimmiger Prozess geformt werden kann, und zwar "ohne Werkzeuge, nur mit dem Verstand und ein paar geschickten Fragen".

Das Besondere an dem Buch sind nicht etwa heilsbringende Botschaften von Unternehmensberatern, die die Welt verbessern wollen. Anhand detailreicher, aber für eine breite Leserschaft erfassbarer Beschreibungen skizzieren die Autoren Referenzmodelle für zahlreiche Prozesse. Jeder Geschäftsprozess wird wie in einer Arbeitsanweisung nach ISO 9000:2000 beschrieben. Beispielsweise erfährt der Nutzer im Abschnitt "Produktion mit Fremdbearbeitung", wie Einkauf, Vertrieb, Produktion, Logistik und Rechnungswesen zusammenspielen. Eine Grafik visualisiert Art und Inhalt der Kommunikation zwischen Abteilungen. Die nebenstehende Beschreibung erläutert die Prozessschritte und die Buchungen, etwa die Materialbereitstellung. Eine Buchungstabelle erläutert die buchhalterischen Vorgänge der Wertschöpfung. Hier geht es nicht um Bits und Bytes, sondern um betriebswirtschaftliche Sachverhalte, die sowohl die IT als auch die Fachbereiche durchdringen können. Sind alle auf dem gleichen Wissensstand, mag sich das Unternehmen um die Prozessoptimierung kümmern.

Verständnisdefizite in den Unternehmen

Schmids Motivation zu dem Buch ist schnell geschildert: Seiner Erfahrung nach sind die Verständnisdefizite in Unternehmen, aber auch bei Einführungsberatern von ERP-Software groß: "Nur wenige machen sich Gedanken darüber, wie die Prozesse in der Realität laufen." Nachgedacht werde höchstens dann, wenn die ERP-Software einmal stocke oder einen Fehler aufzeige. Dann beginne die Suche nach der Dokumentation. Ist die gefunden, stellten die Beteiligten nicht selten fest, dass keine Prozessbeschreibung vorliegt. Schon im Einzelfall sind solche Verlustleistungen spürbar, beispielsweise bei einem Lieferverzug mit Konventionalstrafe wegen fehlerhaft kommunizierter Termine. Die Missachtung des Warenwertes in den logistischen Prozessen, vom Wareneingang bis zum Versand, führt unweigerlich zu einer fehlerhaften (Nach-)Kalkulation, oft verbunden mit ungewollten Einbußen. Noch häufiger sind Doppel- und Mehrfacharbeit am selben Geschäftsvorfall, Rück- und Verständnisfragen mit wechselseitiger Bestätigung. Hier sind keine Schlafmützen am Werk, vielmehr rührt dies von einer Unkenntnis des Prozessablaufs, die letztlich die Produktivität mindert und hohe Kosten verursacht.

Referenzprozesse schließen Wissenslücken

Es geht auch anders: "Bei der Einführung eines ERP-Systems sollte man die Prozesse aus der Gesamtsicht des Unternehmens planen. Ausgangspunkt der Überlegungen sind die Geschäftsbeziehungen zu Kunden, Lieferanten und anderen Geschäftspartnern", rät Schmid. Während der Einführung seien Anwender übergreifend zu schulen, so dass jeder mehr kenne als nur seinen eigenen Arbeitsplatz. Damit ließen sich Wissenslücken in den Abläufen schließen und kontraproduktive sowie überflüssige Arbeiten vermeiden: "Die Basis dafür sind die Referenzprozesse, die aus der Sicht des Unternehmens und seiner Geschäftspartner geplant und damit konsistent, redundanz- sowie widerspruchsfrei sind."

Nach Überzeugung des Autors dient das Buch jedoch nicht nur denen, die ERP-Software einführen wollen, denn auch Nutzer bestehender Software sollten Schmid zufolge über ihre Prozesse nachdenken: "Nach unseren Erfahrungen werden etwa 25 bis 30 Prozent aller Daten, die für die Ablaufsteuerung wichtig sind, doppelt geführt." Dazu zählen die beliebten Excel-Tabellen auf dem Arbeitsplatz-PC. Die Gründe dafür seien vielfältig, sie reichten von der Unkenntnis über die Bedienung der IT-Systeme bis zum Unverständnis des Zusammenhangs mit den Aufgaben des Unternehmens. Für Schmid ist die Doppelarbeit nur ein Beispiel: Bei einer Gesamtbetrachtung komme man schnell auf zehn und mehr Prozent der Arbeitszeit, die für Nacharbeiten wegen Versäumnissen anderer Mitarbeiter oder für die Behebung von Fehlern aufgewandt werden müssen.

Spezialisten versus Generalisten

Viele Mitarbeiter überlegen nicht lange, sondern fangen einfach an, das zu tun, was ihnen gesagt wurde, Schritt für Schritt, Detail für Detail. Erst viel später stellt meist ein anderer fest, dass sie das Falsche gemacht haben. Sie haben das Ende des Prozesses nicht gekannt oder sich für das, was eigentlich damit geschaffen werden sollte, nicht interessiert. "Eine häufige Ursache ist auch, dass es ihnen keiner gesagt hat, weil es die Vorgesetzten oder Berater selbst nicht wussten", so Schmid. Er geht bei dieser Gelegenheit mit dem Ausbildungssystem ins Gericht: "Von der Schule über die Lehre bis zu den Universitäten ist alles auf Spezialisierung ausgerichtet." Software- und ERP-Berater machten da keine Ausnahme: Sie kennen sich meist mit einzelnen Modulen einer Applikation aus. Der Experte versteht nur etwas von Logistik mit einer Unterspezialisierung auf Vertrieb, Einkauf oder Produktion, der andere kennt sich nur im Rechnungswesen aus, wobei es hier auch Unterspezialisierungen gibt, darunter Buchhaltung, Controlling und Konsolidierung. Das Denken und Handeln in hoch spezialisierten "Grüppchen" widerspreche jedoch sowohl dem Prinzip als auch der Architektur eines ERP-Systems, das ja alle Prozesse eines Unternehmens steuern soll.

Isolierte ERP-Funktionen

Für die ERP-Anwender sind die Folgen fatal: Statt durchgängiger Prozesse werden nur sehr viele Einzelfunktionen ein- und auf die Interessen der Anwendergruppe ausgerichtet ("customized"), also für eine isolierte Nutzung optimiert. Die Produktionsplanung, als Beispiel, bekommt einen grafischen Leitstand, der aber nur funktioniert, wenn die Daten aus der Arbeitsvorbereitung und Fertigung aktuell und exakt sind. Doch diese Gruppen sehen das Optimum an ganz anderen Stellen, beispielsweise darin, die Produktionssteuerung möglichst flexibel zu halten oder den Aufwand für die Datenpflege zu minimieren.

Richtig anspruchsvoll wird das Einrichten eines ERP-Systems bei unternehmensübergreifenden Prozessen: bei der Lieferantenanbindung im Sinne der "verlängerten Werkbank" sowie der Zusammenarbeit mehrerer Gesellschaften einer Firmengruppe (Intercompany). "Ist die Steuerung des Warenflusses einer Bestellung für die externe Bearbeitung schon schwierig, so scheitern die meisten Firmen an der korrekten und zeitgerechten Erfassung des Warenwertes", hat Schmid festgestellt. Und dies, obwohl Fremdleistungen oft einen erheblichen Teil der Wertschöpfung ausmachten. Doch gebucht wird meistens manuell, isoliert vom Betriebsgeschehen und zeitlich versetzt. Dieser Prozess könnte, ebenso wie alle anderen, automatisch ablaufen, wenn er einmal und dann richtig eingestellt wäre. Mit keinem Wort bestreitet der Autor die Komplexität von ERP-Software. Dies aber als Entschuldigung für schlecht oder unvollständig aufgesetzte Geschäftsprozesse herzunehmen, lässt er nicht gelten.

Schmid zufolge bemühten sich Firmen durchaus, ihre Prozesse zu dokumentieren. Der damit betraute Experte fertige jedoch allzu oft umfängliche Ablaufdiagramme an, die er nur mit großer Mühe anderen vermitteln könne. Das Buch liefert bereits einige Prozesslandschaften und hilft zu vermeiden, dass jedes Unternehmen das Rad neu erfinden muss.

In dem Werk steckt geballtes und vor allem praxisnahes Wissen, dass anschaulich verabreicht wird, und zwar unabhängig von bestimmten Softwareprodukten und Einführungsmethoden. Erhältlich ist es weder im Buchhandel noch in der Preisklasse sonstiger Fachliteratur. Die Prozesslandschaften erwirbt man für 740 Euro direkt bei GPS.