Der Softwarekonzern baut die ERP-Architektur mit .NET und SQL Server um

ERP: Microsoft übt den Spagat zwischen altem Navision und neuem Dynamics NAV

30.11.2007
Von 
Vice President Software & SaaS Markets PAC Germany
Mit "Dynamics NAV 6.0" will Microsoft eine dreischichtige Softwarearchitektur etablieren, die Limitationen der bisherigen zweischichtigen Umgebung aufheben soll. Ein Kinderspiel dürfte der Umstieg für Partner und Kunden indes nicht werden.

Ende 2008 soll das neue Dynamics NAV fertig sein. Es handelt sich um das ursprünglich für Ende 2007 vorgesehene Release, dass jedoch mehr Aufwand und Tests erforderte, als die Entwickler ursprünglich dachten. Aus Version 5.1 wurde so 6.0.

Das neue ERP-System bricht mit bisherigen, schon lange veralteten Konzepten. Statt eines umfangreichen Clients, auf dem Geschäftslogik läuft, sieht die Version 6.0 einen "Role Taylored Client" vor, der in erster Linie Geschäftsformulare präsentiert. Geschäftsobjekte, Benutzereinstellungen, User-Authentifizierung und Geschäftsroutinen verlagert Microsoft auf eine Server-Komponente ("Navision Services Tier", kurz NST). Daten speichert die Software in der hauseigenen Datenbank SQL Server 2005. Das native Datenbanksystem C/Side wird nicht unterstützt. Allerdings können Microsoft-Kunden die alte Technik ("Classic Client") nebst besagter Datenbank weiterverwenden.

Beschränkungen der alten Navision-Technik

Einerseits will Microsoft mit diesem Schritt die Beschränkungen von Dynamics NAV in punkto Skalierbarkeit aufheben, andererseits dient die Runderneuerung dazu, die ERP-Applikationen fester mit dem .NET-Stack zu verbinden. Dazu zählt beispielsweise der Sharepoint-Client. Nutzer sollen künftig in der Lage sein, über den Browser an ERP-Abläufen teilzunehmen. Eng gekoppelt mit dem künftigen Dynamics-Produkt sind auch die Datenbank (SQL Server) sowie die darauf aufsetzenden Reporting Services. Sie sollen die ERP-Anwender innerhalb ihrer Arbeitsumgebung mit Berichten versorgen – Microsoft spricht daher von "contextual Business-Intelligence".

Mehrere Applikationsumgebungen auf einer Datenbank

Durch die Dreischichttechnik ist es laut Anbieter möglich, mehrere parallele Navision Services Tiers mit einer Datenbank zu verbinden, so dass Firmen mehrere unabhängige Applikationsumgebungen auf einer Datenbasis fahren können. Bisher war dies nur über komplizierte Umwege machbar.

Sichtbarste Neuerung in Dynamics NAV 6.0 ist der Role-Taylored Client. Er soll Anwendern für ihre Aufgaben spezifischen Oberflächen und Funktionen bereitstellen.
Sichtbarste Neuerung in Dynamics NAV 6.0 ist der Role-Taylored Client. Er soll Anwendern für ihre Aufgaben spezifischen Oberflächen und Funktionen bereitstellen.

Am auffälligsten an der neuen Softwaregeneration ist das Frontend. Der Role-taylored Client präsentiert Ansichten und Funktionen, die von der Rolle des Anwenders im Unternehmen abhängen. Nutzer können leichter als bisher in Datensätzen navigieren und erhalten am rechten Bildschirmrand weiterführende Detailinformationen, ohne diese extra aufrufen zu müssen. Zudem präsentiert die Software – sofern vorhanden - das Outlook-Postfach des jeweiligen Nutzers.

Neuer Softwarearchitektur bedeutet Arbeit für ERP-Partner

Wie so oft bei Architekturwechseln fällt für Softwarenutzer sowie Partner viel Aufwand an, um von der alten auf die neue Technik zu wechseln. Viele andere Anbieter haben diesen Schritt bereits vollzogen. Was nun im Nav-Umfeld bevorsteht, kommt dem Umstieg der Geschäftsapplikation von DOS auf Windows vor einigen Jahren gleich.

Forms zu Pages – zum Teil zu Fuß

Alle Formulare ("Forms") einer Dynamics-NAV-Installation sind in "Pages" zu überführen. Forms beinhalten Benutzerdialoge und Darstellungen von Geschäftsinformationen. Pages sind das Pendant zu den Forms unter dem neuen, an Web-Oberflächen angelehnten Role-Taylored Client. Transformationswerkzeuge sollen helfen, von Partnern oder dem Anwender gebaute Forms in Pages zu konvertieren. Problematisch ist dies dann, wenn Partner beim Einrichten des Systems Code-Zeilen in den Forms hinterlegt haben. Partnerfirmen bestätigen, dass dies gängige Praxis ist. Solche Anweisungen müssen Entwickler aus den Forms entfernen und in dafür vorgesehenen Containern ("Codeunits") speichern, was nicht ohne Handarbeit möglich ist. Codeunits gab es bisher schon, doch haben Programmierer häufig nicht den eleganten, sondern den schnellen Weg gewählt und Skripts in Forms hinterlegt.

Auch die Konvertierungswerkzeuge für Forms strotzen nicht eben vor Bedienerfreundlichkeit: Softwarespezialisten müssen sich auf die Kommandozeilenebene begeben, um die Routine anzustoßen. Microsoft gelobt, bis zur Auslieferung des ERP-Produkts eine Oberfläche nachzureichen.

Übersetzen müssen Partnerfirmen ferner Berichte, die für alte Programmversionen erzeugt wurden, sei es nun unter C/Side oder SQL Server. Auch hier helfen Werkzeuge, doch komplett automatisieren lassen sich diese Arbeiten auch damit nicht.

Alte und neue Umgebung parallel betreiben

Grundsätzlich können Unternehmen alte und neue Nav-Technik parallel betreiben, um beispielsweise Anwendergruppen zu bedienen, die nicht mit der neuen Client-Umgebung arbeiten wollen. Allerdings empfiehlt Microsoft dies nicht. Ob die neue Benutzerführung beim Anwender ankommt, steht noch aus. "Meine Kunden fragen bestimmt sofort, ob man die neuen Features auch abschalten kann", meinte ein Microsoft-Partner mit jahrelanger Erfahrung im Navision-Geschäft, der namentlich nicht genannt werden wollte. Allerdings bietet die neue Oberfläche eine Reihe von Merkmalen, die die tägliche Arbeit und vor allem den Zugriff auf weiterführende Informationen zu einem Datensatz deutlich vereinfachen.

Neue Entwicklungskonzepte

Dynamics Nav 6.0 ist für Microsoft jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer komplett auf .NET basierenden Systemarchitektur. Im kommenden Release werden Anweisungen der proprietären Programmiersprache "C/AL" in die Microsoft-Sprache C# übersetzt. Gleichwohl soll es wie bisher möglich sein, Programmcode zu ändern und diesen praktisch sofort zu verwenden. Möglich wird dies durch Eigenschaften der Plattform ("Dynamic Binding"). Dies geschieht jedoch unter der Haube und ist für den Entwickler nicht sichtbar.

Länderversion versus globalem ERP-Code

Anpassungen nimmt er mit den bisherigen Entwicklungswerkzeugen vor. Das wird sich ändern: Der Konzern will die .NET-Entwicklung erweitern, so dass Softwarespezialisten auch mit C# datenbanknah programmieren können. Dabei hilft eine Technik namens Linq (Language Integrated Query). Mit ihr lassen sich Datenbankabfragen (Queries) in eine Programmiersprache wie C# einbetten. Linq gestattet es, direkt auf Tabellen von SQL Server 2008 zuzugreifen. Diese Variante wird der Softwarehersteller voraussichtlich jedoch erst mit dem nächsten Major-Release (Codename: "Mallorca") Ende 2010 freigeben. Modernere Architekturen erlauben es Microsoft außerdem, auch die ERP-Lösungen gemäß der Strategie "Software plus Service" weiterzuentwickeln.

Weitere geplante Veränderungen betreffen die Landesversionen. Bisher gibt es 40 unterschiedliche Releases von Dynamics NAV für unterschiedliche Länder. Über die Zeit will das Softwarehaus eine gemeinsame, weltweit nutzbare und Unicode-fähige Code-Basis schaffen, die um Landesspezifika ergänzt werden kann. Auf diese Weise vergünstigt und vereinfacht sich die Softwarepflege für den Anbieter, zudem sollen sich Erweiterungen von Partnerfirmen leichter einbringen und verwalten lassen.

Was wird aus C/Side?

Wie Microsoft mit der bisher kostenlosen Datenbank C/Side verfährt bleibt unklar. Der SQL Server bietet weit mehr Möglichkeiten in Sachen Reporting. Zudem läuft die neue Systemumgebung nur auf der kostenpflichtigen SQL-Datenbank. Daher wägen die Partner in ERP-Projekten gemeinsam mit dem Kunde genau ab, welche Anforderungen heute und in Zukunft an die Software gestellt werden. Möglicherweise wendet der Konzern künftig eine ähnliche Strategie an wie bei dem nur in den USA vertriebenen ERP-System Great Plains. Auch dieses Produkt verfügt wie Dynamics NAV über eine native Datenbank, lässt sich aber auch mit dem SQL Server betreiben. Nunmehr verlangt der Konzern jedoch auch für das anfangs noch kostenlose Datenbanksystem eine Lizenzgebühr, um zumindest das Kostenargument zu revidieren.