IT-Industrialisierung: Wie die IT den Schock vermeidet

23.05.2007
Von Axel Hochstein und Walter Brenner
Nachdem der dritte Teil der COMPUTERWOCHE-Serie "Industrialisierung" den Status quo beschrieb, zeigt der vierte die Entwicklungsmöglichkeiten auf.

Den CIO-Organisationen und IT-Service-Providern droht derzeit ein ähnliches Schockerlebnis, wie es die europäische und US-amerikanische Automobilindustrie in den 70er Jahren erlebte. Damals überholten die japanischen Hersteller den westlichen Standard hinsichtlich Effizienz und Qualität in kürzester Zeit. Dieses Schicksal können sich die IT-Abteilungen in Westeuropa und den USA ersparen, wenn sie sich rechtzeitig für die IT-Industrialisierung wappnen.

Hier lesen Sie ...

  • was Mass Customization für die IT bedeutet;

  • warum auch Services Stücklisten und Arbeitspläne brauchen;

  • was das "Long-Tail"-Phänomen mit der Wirtschaftlichkeit von Services zu tun hat;

  • wie sich die Industrialisierung auf die Zukunft der internen IT-Provider auswirkt.

Aus diesem Grund arbeiten viele IT-Organisationen mit aller Kraft daran, ihre Prozesse transparent zu machen, zu professionalisieren, zu standardisieren und schließlich zu automatisieren. Dabei nutzen sie in steigendem Maße Konzepte, Methoden und Instrumente, die sich in anderen Branchen schon etabliert haben.

Standardprozesse mit geringer strategischer Bedeutung können externen Anbietern überlassen werden. Die internen Ressourcen fließen besser in IT-Services für Kernprozesse (am Beispiel einer Bank dargestellt).
Standardprozesse mit geringer strategischer Bedeutung können externen Anbietern überlassen werden. Die internen Ressourcen fließen besser in IT-Services für Kernprozesse (am Beispiel einer Bank dargestellt).

In Analogie zu hochindustrialisierten Branchen wie dem Automobilbau verfolgen mittlerweile auch die IT-Organisationen das Ziel der "Mass Customization". Dieses Bestreben schlägt sich nicht nur in technischen und konzeptionellen Neuerungen nieder, sondern auch in neuen Prozessen und einer wenn auch erst ansatzweise vorhandenen "industriellen" Denkweise. Letztlich wird der Industrialisierungstrend auch den gesamten Markt für IT-Services verändern.

Standards und Plattformen als Treiber

Als technische und konzeptionelle "Enabler" für die Mass Customization dienen Komponentenstandards und Plattformen, mit denen sich die standardisierten Komponenten verbinden lassen. In der industriellen Fertigung sind Normen wie DIN verbindlich. Auch in der IT wird an allgemeingültigen Standards, zum Beispiel für Web-Services, gearbeitet sowohl an branchenspezifischen als auch an übergreifenden. Zudem stellen die großen Softwarehersteller heute schon die notwendigen Plattformen als Produkte zur Verfügung.

Neue Prozesse

Der Einsatz von Web-Services, die Implementierung von IT-Plattformen sowie eine konsequent umgesetzte Service-orientierte Architektur (SOA) führen nicht von allein zu den positiven Effekten, die sich die Unternehmen von der Mass Customization versprechen. Vielmehr müssen gleichzeitig auch die passenden Governance-Prozesse eingerichtet sein.

Notwendig ist zum Beispiel ein Portfolio-Management, das den Wertbeitrag der Services in den Prozessen ihren verursachungsgerecht zugewiesenen Kosten gegenüberstellt. Sonst lassen sich keine sinnvollen Entscheidungen über die Einführung neuer beziehungsweise die Zusammensetzung bestehender Services treffen.

Voraussetzung für eine verursachungsgerechte Kostenrechnung ist, wie aus der industriellen Betriebswirtschaftslehre bekannt, jedoch zunächst eine kostenträgerbasierende Absatz- und Produktionsprogrammplanung. Sprich: Die Absatzmenge pro Service muss prognostiziert und kalkuliert werden. Dazu bedarf es einer Stückliste und eines Arbeitsplans pro Service. Spätestens hier wird klar, dass die industrielle Denkweise die IT noch nicht sehr weit durchdrungen hat. In diese Richtung gibt es bislang nur rudimentäre Ansätze.

Geschäftsmodelle

Die IT-Organisationen sowohl die internen wie die externen müssen sich angesichts der Industrialisierung Gedanken über ihr grundlegendes Geschäftsmodell und ihr Basisportfolio an IT-Dienstleistungen machen. Wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen, sollten sie sich auf das Anbieten von IT-Services beschränken, die in das Gebiet ihrer Kernkompetenzen fallen. Andere Services lassen sich besser von Dritten zukaufen.

IT-Einheiten, die derzeit als interner Full-Service-Provider des Mutterkonzerns auftreten, werden künftig wohl nicht mit den Skaleneffekten externer Anbieter mithalten können. Alternativ könnten sie jedoch ein Geschäft daraus machen, branchenspezifische Geschäftprozesse informationstechnisch zu unterstützen. Vorstellbar ist beispielsweise, dass IT-Einheiten von Logistikunternehmen innovative und spezifische Produkte aus ihrem Know-how-Bereich, also der Logistik, entwickeln, die sie dann nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Konzerns anbieten.

An Commodity-Services für Infrastruktur oder Standard-Desktops haben sich viele interne IT-Dienstleister auf dem externen Markt die Finger verbrannt. Die IT-Unterstützung von spezifischen Transportprozessen in der Chemie beispielsweise hätte demgegenüber weit bessere Marktchancen.

Eine Frage der Ökonomie

Hier stellt sich die Frage, inwieweit derart spezifische Geschäftsprozesse noch wirtschaftlich unterstützt werden können. Eine Antwort geben auch hier die Prinzipien der Industrialisierung: Im Sinne der Mass Customization lassen sich immer komplexere Produkte oder IT-Services effizient produzieren beziehungsweise günstig beschaffen oder bündeln; da müsste es auch in der IT möglich sein, immer stärker spezialisierte Produkte oder Services günstig anzubieten.

Die Medienbranche diskutiert derzeit das Phänomen des "Long Tail". Web-Plattformen wie YouTube oder iTunes bieten die Möglichkeit, auch Musiktitel von unbekannten Gruppen kostengünstig einer großen Masse von Konsumenten anzubieten. Hier gilt die Regel, dass 20 Prozent der Titel 80 Prozent des Umsatzes ausmachen nur 80 Prozent!

Ein großer Umsatzanteil dieser Anbieter ergibt sich also aus Musikstücken, die sehr selten heruntergeladen werden. Der Musik-Retailer Rhapsody erzielt 40 Prozent seiner Einnahmen aus Titeln, die weniger als 700-mal nachgefragt werden und damit auch in gut sortierten Musikgeschäften kaum zu finden sind. Digitale "Lagerung" und günstige Vertriebsprozesse im Internet schaffen einen neuen Markt für Nischenprodukte, der es hinsichtlich des Umsatzpotenzials beinahe schon mit dem traditionellen Markt der "großen Hits" aufnehmen kann.

Neuer Markt für Nischenprodukte

Dieses Prinzip lässt sich im Zuge der Industrialisierung auf die IT-Branche übertragen. Virtualisierte und Service-orientierte IT-Landschaften bedeuten eine Chance, künftig auch spezialisierte IT-Services sehr günstig anzubieten. Zugleich lassen sich diese Spezialservices über standardisierte Plattformen günstig beschaffen, in die bestehende Systemlandschaft einbinden und zu anwenderspezifischen Produkten bündeln. Auch hier wird sich ein neuer Markt für Nischenprodukte entwickeln.

Innovationen, die vorher nicht wirtschaftlich durchzusetzen waren, können bald Realität werden. Vor allem industriespezifische IT-Organisationen sollten die Möglichkeiten eines Markts für IT-basierende Nischenprodukte nicht unterschätzen beziehungsweise vernachlässigen. Auch wenn die einzelnen IT-Services weniger nachgefragt werden, lässt sich dank der Vielzahl spezifischer Services ein vergleichbarer Umsatz realisieren wie mit Commodities. Dazu muss das Produkt-Management aber die Geschäftsprozesse und -modelle der Branche kennen und bestrebt sein, die darin steckenden Umsatzpotenziale zu nutzen und durch Innovationen auszubauen. (qua)