Zitterpartie Gesundheitskarte

30.01.2007
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Sascha Alexander ist seit vielen Jahren als Redakteur, Fachautor, Pressesprecher und Experte für Content-Strategien im Markt für Business Intelligence, Big Data und Advanced Analytics tätig. Stationen waren unter anderem das Marktforschungs- und Beratungshaus BARC, die "Computerwoche" sowie das von ihm gegründete Portal und Magazin für Finanzvorstände CFOWORLD. Seine Themenschwerpunkte sind: Business Intelligence, Data Warehousing, Datenmanagement, Big Data, Advanced Analytics und BI Organisation.
Das weltweit größte Projekt auf dem Gebiet der Telematik nimmt Fahrt auf. Doch die benötigte Infrastruktur und Anwendungen sind erst teilweise vorhanden.

Mit über einem Jahr Verspätung und nach endlosen Debatten fiel am 27. Dezember der Startschuss zum ersten Feldversuch mit der neuen elektronischen Gesundheitskarte (EGK). In einem überambitionierten Projektfahrplan wollen das Bundesgesundheitsministeriums (BMG) und die die Arbeiten koordinierende Gesellschaft für Telematik-Anwendungen der Gesundheitskarte (Gematik) nun in kürzester Zeit das Mammutvorhaben bis 2008 umsetzen. Dies bedeutet, dass bis dahin sind nicht nur die administrativen Funktionen der Chipkarte zu testen sind (siehe Grafik "Was steckt in der Gesundheitskarte?"). Vielmehr setzt die Karte auch eine Telematik-Infrastruktur für den Datenaustausch voraus, die aber erst in Ansätzen existiert (Telematik = Anwendungen für die Kommunikation in Netzwerken und verteilten Systemen). Neben den rund 70 Millionen Versicherten sollen rund 123 000 niedergelassene Ärzte, 65 000 Zahnärzte, 2000 Apotheken und 2200 Krankenhäuser sie einmal nutzen und über sie mit den Krankenkassen kommunizieren.

Fahrplan der Gesundheitskarte

  • Ab Dezember 2006: Erprobung der Gesundheitskarte in sieben ausgewählten Regionen;

  • Mai 2007: E-Rezepte und Notfalldaten lassen sich auf die Karte schreiben (nur offline);

  • Mitte 2007: Online-Prüfung der Kundendaten mit der Krankenkassen;

  • 2008: Karte wird flächendeckend eingeführt.

Folgende Basisfunktionen und Informationen sind auf der Karte: Vorderseite - Microchip mit Verschlüsselungsfunktion, persönliche Daten des Karteninhabers, Kennzeichnung in Blindenschrift, Foto, einheitlicher Karten- und Markenname.
Folgende Basisfunktionen und Informationen sind auf der Karte: Vorderseite - Microchip mit Verschlüsselungsfunktion, persönliche Daten des Karteninhabers, Kennzeichnung in Blindenschrift, Foto, einheitlicher Karten- und Markenname.

Damit nicht genug, schreibt der Gesetzgeber den Krankenkassen eine Reihe von Anwendungen vor. Dazu gehört die elektronische Rezeptverwaltung "E-Rezept" und die Prüfung der Versichertenstammdaten. In eine zweite Gruppe fallen Anwendungen für die Speicherung klinischer Basisdaten für die Versorgung im Notfall (Notfalldaten), für die individuelle Arzneimittelsicherheitsprüfung, die Dokumentation abgegebener oder verordneter Arzneimittel, zur Übermittlung von Arztbriefen (E-Arztbrief) sowie für die elektronische Verwaltung von Patientenquittungen sowie eine Patientenakte. Im Unterschied zur ersten Kategorie von EGK-Anwendungen müssen die Kassen diese Lösungen zwar schaffen, können aber Kassenpatienten nicht ohne deren Zustimmung zur Nutzung zwingen. Zudem liegt es im Ermessen der Kassen, zusätzliche EGK-Dienste zu entwickeln, was diese auch tun werden, da ihnen künftig im Wettbewerb eine existenzielle Rolle zukommt.

Kosten nicht abzuschätzen

Laut einer Studie von den Beratern von Booz Allen Hamilton vom September 2006 sollen sich die Gesamtkosten des EGK-Projekts über die nächsten fünf Jahre auf bis zu 3,6 Milliarden Euro belaufen. Hinzu kommen noch einmal 585 Millionen Euro für die Verteilung der Karten. Doch tatsächlich weiß heute niemand, ob die Rechnung aufgeht. "Die Barmer rechnet mit anteiligen Kosten an den Gesamtkosten der Einführung der EGK, die etwa ihrem Marktanteil unter den gesetzlichen Krankenkassen entsprechen", schätzt Werner Klemrath, Abteilungsleiter Organisation und Projektleiter Telematik im Gesundheitswesen bei der Krankenkasse. Sein Kollege Michale Martinet, Projektleiter bei der DAK in Hamburg, hält es hingegen für verfrüht, klare Aussagen zu treffen. Es fehlten noch zu viele Anwendungen, als dass man die Kosten und den Nutzen schon genauer beziffern könne. Gleiches gelte für die Frage nach der Amortisation der Investitionen in die EGK-Infrastruktur, die laut Beraterstudie frühestens in fünf Jahren zu erreichen sei. Martinet erwartet hingegen, dass manche Einsparungen und andere Vorteile sich schon früher ergeben könnten. "Auf jeden Fall müssen wir aber verhindern, dass die Kosten aus dem Ruder laufen und mit der EGK techniklastige Konzepte eingeführt werden, die nicht an den Anwendern und deren Prozessen ausgerichtet sind", warnt auch Barmer-Manager Klemrath.

Rückseite: Unterschrift, EU-Emblem/Staatenkürzel, Kennnummer des Trägers, persönliche Kennnummer (Teil der Versichertennummer), Kennnummer der Karte. Hinzu kommen medizinische Funktionen/Anwendungen, die künftig im Chip gespeichert werden.
Rückseite: Unterschrift, EU-Emblem/Staatenkürzel, Kennnummer des Trägers, persönliche Kennnummer (Teil der Versichertennummer), Kennnummer der Karte. Hinzu kommen medizinische Funktionen/Anwendungen, die künftig im Chip gespeichert werden.

Angesichts der Größe des Vorhabens und des Zeitplans greifen die jetzt gestarteten Versuche zu kurz: Im Wesentlichen wird geprüft, ob sich die von den Versicherungen auf dem Chip gespeicherten Stammdaten mit einer angepassten Praxissoftware verarbeiten lassen. Beteiligt sind im ersten Schritt die Regionen Flensburg und Löbau/Zittau in Sachsen, in denen jeweils 10 000 Krankenversicherte die mit einem Prozessor und Foto versehene Karte des Herstellers Gemalto erhalten. Insgesamt sind sieben Testregionen vorgesehen. In den Arztpraxen wurden Lesegeräte aufgestellt, die alte und neue Versichertenkarten erkennen. Die meisten Krankenkassen beteiligen sich am Versuch und stellen gemäß ihrer Mitgliederzahl einen prozentualen Anteil der Probanden. in zweiten Projektschritt sollen sich dann ab Mai 2007 E-Rezepte und Notfalldaten auf die Karte schreiben lassen (nur offline). Mitte 2007 könnte dann eine Online-Prüfung der Kundendaten möglich sein, und 2008 soll die Karte flächendeckend eingeführt sein.

Signalwirkung erhofft

Der wesentliche Grund für den bescheidenen Start in das EGK-Zeitalter liegt darin, dass die benötigte Infrastruktur und die für sie geplanten Anwendungen in weiten Teilen noch gar nicht verfügbar sind. Eine Entscheidung über die Gesamtarchitektur hätte eigentlich im Januar 2006 fallen sollen, steht immer noch aus. Daher sollen die Tests vor allem ein Signal an alle Spitzenverbände, IT-Abteilungen und Dienstleister sein, dass es nach jahrelangen Debatten und Streitigkeiten nun endlich losgeht. Kenner der Szene schrieben es dem BMG zu, dass das Projekt überhaupt begonnen hat.

Kassen machen sich bereit

DAK-Projektleiter Martinet: "Über die Gesamtkosten lassen sich noch keine klaren Aussagen treffen"
DAK-Projektleiter Martinet: "Über die Gesamtkosten lassen sich noch keine klaren Aussagen treffen"
Foto: Michael Martinet

Zu den Akteuren der ersten Stunde zählt die DAK aus Hamburg, die nach Mitgliedern zweitgrößte Krankenkasse Deutschlands. Kurz vor Weihnachten erhielten etwa 1600 ihrer Kunden in Flensburg und 900 in Sachsen die neuen Karten. Diese erfüllten laut DAK-Projektleiter Michael Martinet alle notwendigen Sicherheitsauflagen. Die TÜV-IT und die Gematik hätten dies bescheinigt. Die neuen Karten ließen sich auch nach der ersten Testphase weiterverwenden, da sie für spätere Anwendungen vorbereitet seien. Mit einem für die Verwaltung der EGK benötigten Management-System hat die DAK kürzlich den Dienstleister ISKV in Essen beauftragt. Dieser soll auf der Basis einer Spezialsoftware des Anbieters Giesecke & Devrient eine an die Bestandssysteme der DAK angepasste Lösung erstellen. Solcher Kartenverwaltungssoftware kommt im gesamten EGK-Projekt eine Schlüsselrolle zu, da sie nicht nur die Personalisierung und Verwaltung von Kundendaten steuert, sondern später auch zusätzliche Anwendungen und Services für die Kunden nachladen kann. Gerade durch Letztere könnten sich Kassen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Neben dem Verwaltungssystem müssen Kassen einen Web-fähigen "Versicherten-Stammdatendienst" aufbauen, der Karteninformationen bei der Eingabe beispielsweise auf ihre Gültigkeit überprüft. Doch weder die DAK noch andere Kassen haben derzeit eine entsprechende Software verfügbar, behauptet Martinet. So musste sich die DAK zum offiziellen Start noch mit einer Zwischenlösung behelfen: Um mit den ersten Karten arbeiten zu können, haben die Hamburger eine Kartenverwaltungssoftware im Einsatz, die ebenfalls von Giesecke & Devrient stammt. Diese Software ist zwar zertifiziert, laut Martinet aber nur bedingt ausbaufähig und für größere Kartenmengen ungeeignet. Die DAK arbeite daher derzeit an einer eigenen Lösung zur Stammdatenverwaltung.

Vorbereitungen im Plan

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Barmer Ersatzkasse. Mit den Vorbereitungen für die Feldversuche liege man im Plan, meldet Projektleiter Klemrath. Ebenso sei beschlossen, welche Softwarelösungen die Kartenverwaltung und den Versichertenstammdatendienst bewerkstelligen sollen: "Die Systeme werden in Kürze einsatzbereit sein." Ihren Betrieb übernimmt der IT-Dienstleister gkv-informatik in Wuppertal, der von mehreren AOKn und der Barmer 2006 gegründet wurde. Dennoch müsse Klemrath für das Gesamtprojekt auch interne Kräfte bereitstellen. So würden die notwendigen Erweiterungen und Anpassungen der internen Systeme in erster Linie durch die IT der Barmer vorgenommen. Bei der Bildbeschaffung, -digitalisierung und der Kartenproduktion kämen hingegen externe Partner zum Einsatz.

Viele offene Fragen

Noch liegen keine detaillierten Ergebnisse zu den Feldversuchen vor. Laut Barmer-Manager Klemrath sind die ersten Rückmeldungen der Versicherten aber sehr positiv, zumal man im Vorfeld die Funktionsfähigkeit der Gesundheitskarte in mehreren Arztpraxen erfolgreich getestet hatte. Auch sind für IT-Verantwortliche noch viele Fragen rund um die EGK zu beantworten. Unklar ist beispielsweise, wie eine Lokalisierung von Karten oder eine Anonymisierung von Kundeninformationen bewerkstelligt werden soll. Andere Punkte betreffen das Zusammenspiel von Kunden- und Verordnungsdaten oder die Arbeit mit der einheitlichen Krankenversicherungsnummer.

Barmer-Projektleiter Klemrath: "Es müssen techniklastige Konzepte verhindert werden, die nicht an den Anwendern und deren Prozessen ausgerichtet sind."
Barmer-Projektleiter Klemrath: "Es müssen techniklastige Konzepte verhindert werden, die nicht an den Anwendern und deren Prozessen ausgerichtet sind."
Foto: Werner Klemrath

Auch ist offenbar nicht entschieden, ob es einmal eine zentrale und kassenübergreifende Verwaltung von Patienten- oder Verordnungsdaten in Deutschland geben wird. Zwar müssen Krankenkassen laut den gesetzlichen Vorgaben Kunden künftig eine elektronische Patientenakte anbieten, doch ist bisher nicht im Detail spezifiziert, wo, wie und von wem diese Daten verwaltet werden könnten. Laut DAK-Manager Martinet besteht daher weitgehend Konsens unter den Beteiligten, dass es keine zentrale Verwaltung sämtlicher Patientendaten geben wird, zumal Krankenkassen medizinische Detaildaten aus Datenschutzgründen ohne Zustimmung des Patienten nicht einsehen dürfen. Stattdessen arbeitet die DAK derzeit an einem eigenen Dienst, mit dem Kunden ihre Historie elektronisch verwalten können. Die Daten soll getrennt von den Versichertendaten der Krankenkasse künftig ein externer Dienstleister verwalten. In puncto Datenverwaltung sieht Barmer-Manager Klemrath noch eine weitere Gefahr: Zu viele Daten oder sogar Anwendungen könnten künftig auf der Gesundheitskarte gespeichert werden, statt sie wie auf Servern zu verwalten. Die Folge wären deutlich höhere Kosten bei gleichzeitig schlechterer Nutzbarkeit für Versicherte wie Leistungserbringer.

Wohin die Reise mit der Gesundheitskarte und ihren Anwendungen geht, werden letztlich das BMG und die Gematik bestimmen, die trotz vieler Beteiligter ein gemeinsames Verfahren schaffen muss. Mittlerweile aktualisiere die Gematik alle zwei Wochen den detaillierten Projektplan und verschicke ihn an alle Beteiligten, schildert Klemrath. Für die Feldtests sei hingegen allein das BMG verantwortlich, das die Entscheidungsbefugnis an sich gezogen habe. Trotzdem könne die Barmer über ihren Verband, den VdAK und durch ihre Teilnahme an entsprechenden Beratungs- und Entscheidungsgremien auf die Gematik einwirken. Man müsse sich individuell einbringen und Druck machen, ergänzte DAK-Kollege Martinet, denn das EGK-Projekt der DAK beanspruche die internen Ressourcen und das IT-Budget seit mittlerweile 18 Monaten erheblich: "Es kann nicht angehen, dass sich die Umsetzung über Jahre hinauszögert."