Zwischen Technik und Nutzungsmöglichkeiten: Die vernachlässigte Organisation der Neuen Medien

09.09.1983

Nutzungsmöglichkeiten neuer Informations- und Kommunikationstechniken werden in der Regel von den technischen Möglichkeiten her konzipiert. Auch der Bedarf an Organisation und an rechtlicher Regelung wird primär auf das technische Medium bezogen. Das hat zu langen Erörterungen darüber geführt, ob der Bildschirmtext Massenkommunikation oder Individualkommunikation sei, ob für den Bildschirmtext eine Bundes- und Landeskompetenz gegeben sei.

Die Anforderungen des Datenschutzes waren es, die zuerst deutlich machten, daß Bildschirmtext nicht einer einheitlichen Regelung unterworfen werden kann, unabhängig von den jeweiligen konkreten Nutzungsmöglichkeiten. Auch der primär presserechtlich orientierte Bildschirmtext-Staatsvertrag trägt inzwischen durch seinen komplizierten Artikel 3 - Geltungsbereich - den Anforderungen einzelner Nutzungsbereiche stärker Rechnung. Dennoch steht die gedankliche Durchdringung der Organisations- und Regelungsprobleme immer noch in keinem Verhältnis zu dem Scharfsinn, der auf die Technik und ihre Vermarktung verwandt wird.

Die von den technischen Möglichkeiten beflügelte Phantasie führte schon in den späten 60er Jahren zu erstaunlich naiven Vorstellungen über die Nutzungsmöglichkeiten von Informationsversorgungseinrichtungen (information utilities). Leitbild des Nutzers war der isolierte, vor seinem Bildschirm sitzende Vorstadt-Eigenheimbesitzer, der sich nur ungern in die unwirtlichen Stadte und ihre Zentren begibt.

Das ist die Hypothek des Bildschirmtextes. Als er von Der Bundespost 1977 mit einem Schlaraffenland-Szenario a l'americaine vorgestellt wurde, geriet er in den Strudel der Diskussion über die wünschenswerte Massenkommunikation. Die einseitig von der Technik geprägte Einteilung der Nutzungsmöglichkeiten in "Information für mehrere", "Information für einzelne" und "Dialog mit dem Rechner" wurde überlagert vom Gegensatz von Individualkommunikation und Massenkommunikation. Die Medienwissenschaftler äußerten ihre Besorgnisse. Professionelle Schwarzseher verwechselten, absichtlich oder nicht, die naiven Nutzungsphantasien mit der künftigen Kommunikationswirklichkeit und malten deren Schattenseiten kräftig aus. Die Medienjuristen unternahmen ihre Einordnungs- und Abgrenzungsversuche und verstellten mit der Entgegensetzung von Individual- und Massenkommunikation den Blick für das Neue an den Neuen Medien. Man kann sich nämlich Abstufungen vorstellen, von der Individualkommunikation über Gruppenkommunikation und eine sich an die Öffentlichkeit richtende Allgemeinkommunikation bis hin zur Massenkommunikation im bekannten Sinne. Und selbst dort läßt sich bekanntlich, abgestuft von der Zeitungspresse bis zum Fernsehen, ein Spektrum unterschiedlich intensiver Wirkungen unterscheiden. Die eigentlich interessanten Nutzungsmöglichkeiten von Bildschirmtext liegen gerade m der Grauzone zwischen Individual- und Massenkommunikation: Konferenzsysteme, Benachrichtigungssysteme, Informationsversorgung, Transaktionen, Maklerdienste.

Gewiß, die begriffliche Trennung von Individual- und Massenkommunikation kann nicht aufgegeben werden. Sie und weitere holzschnittartige Gegensatzpaare, wie "Verteildienst und Abrufdienst" haben das Verständnis von Bildschirmtext eher verstellt als gefördert. Dies gilt auch für die wichtige und politisch wie auch verfassungsrechtlich unverzichtbare Trennung von Netz und Nutzung, solange man sich nicht der Mühe unterzieht, ihre Unschärfen genauer auszuleuchten.

Auf der Trennung von Netz und Nutzung beruhen die nach unzureichenden Vorstellungen über Organisation des Bildschirmtextes. Auf seiten der Nutzung wird dann zwischen Individual- und Massenkommunikation unterschieden. Weithin wird ein gegenüber dem Fernmelderecht eigenständiger Regelungsbedarf für die Individualkommunikation geleugnet. Das ist bedenklich, weil die sinnvolle Nutzung eines Kommunikationsmediums über die Zurverfügungstellung eines Netzes hinaus und die Garantie, daß jeder mit jedem kommunizieren kann, bestimmte Vermittlungsfunktionen erfordert, die nicht dem Bereich des Netzes, sondern dem Bereich der Nutzung zuzuordnen sind. Es mag hier dahinstehen, wo das Telefonbuch einzuordnen ist. Mit Sicherheit ist jedoch ein Btx-Schlagwortverzeichnis von anderer Qualität. Man stellt auch nicht die Frage, ob eine Informationsspeicherung im Bildschirmtext nicht grundlegend anderen Charakter hat als eine Informationsspeicherung im Rahmen eines elektronischen Wählsystems, wo die Speicherorganisation durch technische Zweckmäßigkeit und allenfalls einfache Regeln der zeitlichen Abfolge und des Verbindungsaufbaus bestimmt wird.

Man hat den Eindruck, daß dieser unbefriedigenden Stand der organisatorischen Durchdringung von Bildschirmtext einigen Leuten nicht unlieb ist. Die strikte Trennung von Netz und Nutzung gestattet es, Koordinationsanforderungen und Anforderungen an die Errichtung von Netzen unter Hinweis auf die angebliche Neutralität der Technik nur selektiv zu beachten. Daß Dienste nicht mit Netzen gleichzusetzen sind, ist zwar bekannt führt aber nur selten zu Folgerungen. Die unklare Situation im Nutzungsbereich - vieles wird von der Deutschen Bundespost implizit mitgeregelt, vieles bleibt ungeregelt, beziehungsweise den sich herausbildenden Anbietervereinigungen überlassen - schafft schließlich ein Situation, die manchen Großanbietern nicht ungelegen kommen mag, insbesondere wenn sie Kleinanbieter unter ihre Fittiche nehmen können. Mangels politisch verantworteter Strukturierung der Dienste werden sie dann faktisch die Strukturen schaffen. Sie werden Suchverfahren, Auswahlkriterien und Speicherorganisation in bestimmten Bereichen für bestimmte Anwendungsformen eigenständig festlegen können.

Das mag im Endeffekt nicht von Übel sein. Man kann die Auffassung vertreten, daß es, soweit verfassungsrechtlich überhaupt zulässig, politisch sinnvoll sei. Nur sollte man sich der Mühe unterziehen, die Graubereiche der Organisation näher auszuleuchten, um überhaupt zu erfassen, was geschieht.

Schon der Arbeitskreis Organisation der "Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems" hat sich insofern nicht gerade hervorgetan .

Die Organisation der Nutzung ist dort ohne große Probleme, wo es sich um Individualkommunikation zwischen gleichgeordneten Teilnehmern handelt. Dies ist beim Telefondienst der Fall. Gewiß erzwingt das Medium Telefon durch seine Technik zusätzliche Konventionen. Die Ausgestaltung des Dienstes ist auch in weiten Teilen variabel; zum Beispiel könnte die belästigende Wirkung des Telefons, unter der immer mehr allein lebende Frauen leiden, weitgehend abgebaut werden.

Es mag unbedenklich sein daß die Deutsche Bundespost bei den bestehenden Diensten bislang Annexzuständigkeiten im Nutzungsbereich wahrgenommen hat. Auf der anderen Seite ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, daß Bau und Unterhaltung von Straßen anderen Trägern zugeordnet sind als die Verkehrsregelung. Liegt dies nur daran, daß entsprechende Institutionen schon vor Aufkommen des Massenverkehrs existierten?

In jedem Fall läßt sich der bisherige Zustand nicht auf die neuen Dienste übertragen. Anders als das Telefon hat es Bildschirmtext in den meisten seiner Anwendungen nicht mit gleichgeordneten Teilnehmern zu tun, auch dort, wo es sich formal noch um Individualkommunikation handelt, etwa bei geschäftlichen Transaktionen. Der "Anbieter" hat nicht nur mehr wirtschaftliches Gewicht als der einfache "Nutzer", auch die technische Ausgestaltung fördert seine Eloquenz, verglichen mit den beschränkten Rückmeldemöglichkeiten. Anders als beim Telefon muß es zudem vermittelnde Teilnehmer geben, welche die Kommunikation ermöglichen: Mittler- und Maklerfunktionen. Manche Mittler haben dafür zu sorgen, daß der Raum strukturiert wird, in dem Informationsanbieter auftreten. Weiterhin sind Suchverfahren vorzugeben und möglicherweise zu normieren. Eine andere Mittlerfunktion ist die Dokumentation des Angebots, etwa in Schlagwortverzeichnissen. Hinzu kommen schließlich Fragen der Zulassung von Anbietern und auch Funktionen inhaltlicher Kontrolle. Jugendschutz und Ehrenschutz können unter Umständen nicht nur einer nachträglichen gerichtlichen Durchsetzung überlassen bleiben.

Betrachtet man diese Mittlerfunktionen im Nutzungsbereich, so liegt bei manchen offenbar ähnlich wie im Netzbereich ein "natürliches" Monopol vor. Insbesondere gilt dies für die Dokumentationsfunktion und die Strukturierungsfunktion. Das hat zur faktischen Überlassung dieser Bereiche an die Post geführt.

Um so deutlicher gilt es festzustellen, daß die Grundentscheidungen über die Ausgestaltung von Diensten entweder ganz zum Nutzungsbereich gehören oder doch zumindest in eine Grauzone der Koordination von Netz und Nutzung fallen.

Die institutionelle Wahrnehmung dieser Funktionen soll hier nicht weiter verfolgt werden. Für die massenkommunikativen Inhalte des Kabelfernsehens ist anerkannt, daß im Nutzungsbereich ein Veranstaltungsträger existieren muß. Seine Aufgaben können unterschiedlich weit gefaßt werden, je nach dem Freiheitsrahmen, den man den Programmproduzenten gewähren will.

Die Expertenkommission Neue Medien Baden-Württemberg sieht "Träger des organisatorischen Kommunikationsrahmens" auch für Individualkommunikation und Abrufdienste vor, was eine mögliche Lösung ist. Die Organisation der Nutzung von Bildschirmtext braucht auch nicht bei einer einzigen Institution zu liegen. Ein Veranstalter kann einen Schirm aufspannen, unter dem sich kleinere Veranstalter tummeln, die unter Umständen selbst wieder nur kleineren Anbietern ein Betätigungsfeld eröffnen.

Wichtig ist nur, daß das politische Problem überhaupt gesehen wird. Wenn die Deutsche Bundespost ein Telefongespräch zwischen einer Bank und ihrem Kunden vermittelt so kann ihr das wirtschaftliche Machtgefälle und die Abhängigkeit des letzteren gleichgültig sein. Bei der Ausgestaltung des Mediums Bildschirmtext ist dies nicht nehr möglich.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich mangels organisatorischer Durchdringung technisch motivierte Vorstrukturierungen unbefragt durchsetzen. Damit können Nutzungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, aber es kann auch bestimmten Intentionen bei der Kommunikation Vorschub geleistet werden. Was im Bereich der angeblich technischen neutralen Infrastruktur geschieht, hat nicht nur wirtschaftspolitische, sondern auch kommunikationspolitische Effekte. So sinnvoll die prinzipielle Trennung von Netz und Nutzung ist, so sehr wird man sich fragen müssen, ob sie nicht gerade den Netzaufbau und -ausbau abschirmt vor gesellschaftlichen Anforderungen und vor Anforderungen der Kommunikationsgrundrechte an die Ausgestaltung des Nervensystems der Gesellschaft.

Bei alledem dürfen die Schwierigkeiten der Infrastrukturpolitik nicht verkannt werden. Die Infrastrukturpolitik muß Vorleistungen erbringen, ein Angebot schaffen, an dem sich einzelne Nutzungen erst konkretisieren können. Zur Zeit des Aufbaus sind diese Nutzungen allenfalls in Umrissen bekannt. Auf der anderen Seite ist isolierte Infrastruktur ohne Rücksicht auf die Folgen nicht mehr möglich. Eine Infrastruktur soll gesellschaftlichen Nutzen stiften, Möglichkeiten der Kommunikation oder des physischen Transports verbessern, defizitäre Informationsanlagen ausgleichen.

Fordert man, daß der Ausbau von Infrastruktur politisch verantwortet wird, so ist damit nicht eine umfassende Kenntnis oder gar Beherrschung aller denkbaren Auswirkungen der Existenz einer solchen Infrastruktur postuliert. In erster Linie geht es um ein Aufmerksamkeits- und auch Korrekturpotential. Der gegenwärtige Zustand ist bedenklich. Während die Straßenverkehrsplanung immerhin von der Legislative behandelt wird, bei Planung und Ausbau des Straßenverkehrsnetzes eine Vielzahl von Interessen - unter anderem über die Raumordnung - beteiligt werden, während ein differenziertes Institutionsgefüge mit unterschiedlichen Kompetenzen sich der Probleme des Straßennetzes, der Nutzung, deren Sozialverträglichkeit und der Aufsicht annimmt, ist die Legislative nach wie vor weitgehend ohne Einfluß auf die Ausgestaltung der Schnellstraßen der Telekommunikation.