Machine Learning in deutschen Unternehmen

Zwischen Aufbruchstimmung und Zaudern

23.01.2019
Von 
Bernd Reder ist freier Journalist und Autor mit den Schwerpunkten Technologien, Netzwerke und IT in München.
Maschinelles Lernen ist eine Schlüsseltechnologie, nicht nur im Bereich Analytics. Sie kann beispielsweise dabei helfen, die Beziehung zu Kunden und Partnern auf eine neue Ebene zu heben, so Experten von Software- und Beratungshäusern. Doch es gibt auch eine Reihe von Hindernissen. Dazu zählt die Ausrichtung von Projekten auf kurzfristige Erfolge.

Der Hype um Machine Learning (ML) und dessen Schwestertechnologie Künstliche Intelligenz (KI) weicht in deutschen Unternehmen allmählich einer pragmatischen Betrachtungsweise. IT-Experten und Fachabteilungen machen sich daran, Anwendungsszenarien ("Use Cases") für maschinelles Lernen zu entwickeln und in der Praxis umzusetzen. Der Fantasie sind dabei fast keine Grenzen gesetzt, so eine Runde von Experten, die auf Einladung der COMPUTERWOCHE über den Status von ML und KI und deutschen Unternehmen diskutierte.

Unternehmen sollten in Sachen Machine Learning auf dem Boden der Tatsachen bleiben und ganz pragmatisch konkrete Anwendungsszenarien entwickeln.
Unternehmen sollten in Sachen Machine Learning auf dem Boden der Tatsachen bleiben und ganz pragmatisch konkrete Anwendungsszenarien entwickeln.
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

"Derzeit registrieren wir bei Microsoft eine gewisse Neugier bei Unternehmen, was die Themen Machine Learning und Künstliche Intelligenz betrifft. Etliche Firmen haben kleinere Projekte in diesem Bereich aufgesetzt", sagt beispielsweise Jürgen Wirtgen, Dataplatform Lead bei Microsoft Deutschland. Nach seiner Einschätzung entwickeln sich beide Ansätze zu Werkzeugen, die Unternehmen ebenso wie andere Software-Tools einsetzen. "Allerdings ist es dazu notwendig, dass die Beratungshäuser ML 'einfach' machen und Anwendern die richtigen Tools an die Hand geben", so Wirtgen.

Eine "positive Haltung" gegenüber maschinellem Lernen bei deutschen Unternehmen hat auch Telefónica registriert. Der Anbieter von Telekommunikationsdiensten nutzt selbst Machine Learning, wie Thorsten Kühlmeyer erläutert, Head of Business Analytics & Artificial Intelligence: "Maschinelles Lernen und KI erleichtern die Wartung und Optimierung des Mobilfunknetzes, helfen bei der Analyse von Social Media, beschleunigen die Bearbeitung von Serviceanfragen und vernetzen Mitarbeiter."

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Zu Vorreitern im Bereich Machine Learning zählt die Finanz- und Versicherungsbranche, "beispielsweise im Rahmen der Risikoabwägung bei der Vergabe von Krediten", so Kay Knoche, Principal Solution Consultant DACH Decisioning Solutions beim Softwarehaus Pegasystems. "Dabei werden Fragen geklärt, beispielsweise welches Up-Sell- und Cross-Sell-Produkt angeboten werden soll oder ob ein Schadensfall unbürokratisch beglichen werden kann oder es Sinn ergibt, zunächst ein Sachverständigengutachten abzuwarten."

Kein Grund zur Selbstzufriedenheit

Allerdings gibt es auch kritische Stimmen zur Lage von Machine Learning: "In Deutschland ist das Thema Einsatz von Machine Learning im Vergleich mit Ländern wie den USA noch nicht so richtig angekommen. Der Grund ist, dass es deutschen Unternehmen im Vergleich zu Firmen in den USA an einer gewissen Risikobereitschaft mangelt", stellt beispielsweise Karl Schriek fest, Head of AI / Leading Machine Learning Engineer beim Beratungsunternehmen Alexander Thamm. Bei Projekten im Bereich Machine Learning steht seiner Einschätzung nach deutschen Betrieben deren Hang zum Perfektionismus im Weg, der die Vermarktung von Lösungen bremst.

Wie Unternehmen Machine Learning am besten nutzen können, diskutierten Fachleute von Software- und Beratungshäusern. In der hinteren Reihe (v. l. n. r.): Christian Dyballa (Capgemini), Dr. Kay Knoche (Pegasystems), Dr. Jürgen Wirtgen (Microsoft), Martin Bayer (COMPUTERWOCHE), Karl Schriek (Alexander Thamm GmbH), Dr. Dieter Mayr (A1 Digital), Paul-Louis Pröve (Lufthansa Industry Solutions); vorne (v. l. n. r.): Thorsten Kühlmeyer (Telefónica Deutschland), Farhad Khakzad (Experte im Bereich Analytics), Dr. Karsten Johannsen (Tech Data) und Dr. Frank M. Graeber (MathWorks)
Wie Unternehmen Machine Learning am besten nutzen können, diskutierten Fachleute von Software- und Beratungshäusern. In der hinteren Reihe (v. l. n. r.): Christian Dyballa (Capgemini), Dr. Kay Knoche (Pegasystems), Dr. Jürgen Wirtgen (Microsoft), Martin Bayer (COMPUTERWOCHE), Karl Schriek (Alexander Thamm GmbH), Dr. Dieter Mayr (A1 Digital), Paul-Louis Pröve (Lufthansa Industry Solutions); vorne (v. l. n. r.): Thorsten Kühlmeyer (Telefónica Deutschland), Farhad Khakzad (Experte im Bereich Analytics), Dr. Karsten Johannsen (Tech Data) und Dr. Frank M. Graeber (MathWorks)
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Einen weiteren Schwachpunkt führt Farhad Khakzad an, ein Experte im Bereich Analytics, der zuletzt in der Funktion als Head of Risk Analytics in einem internationalen Technologieunternehmen tätig war: "Generell lässt sich festhalten, dass es in hiesigen Unternehmen an Ideen für praxistaugliche Anwendungsbeispiele, also Use Cases, fehlt. Ein Grund ist, dass es den Unternehmen häufig an Vorstellungen mangelt, in welchem Umfang und auf welche Art maschinelles Lernen zum Einsatz kommen soll." Ein weiterer Grund seien teilweise realitätsferne Vorstellungen über die Möglichkeiten, die diese Technologie bietet.

Und Paul-Louis Pröve, Consultant Data Analytics, Artificial Intelligence & Blockchain bei Lufthansa Industry Solutions, sieht die Diskussion um ML und KI "stark durch Marketingaussagen geprägt, nach dem Motto: 'Wir machen jetzt auch Machine Learning.'" Dabei müsse ein beträchtlicher Teil der Unternehmen zunächst einmal Use Cases entwickeln.

Die "richtigen" Use Cases sind gefragt

Gerade Use Cases, die sich auf einfache Weise umsetzen lassen, sind ein guter Startpunkt für Unternehmen. "Ziel sollte hier nicht sein, ein konkretes Business-Problem zu lösen, sondern ein Gefühl für die Möglichkeiten dieser Technologie zu bekommen", betont Dr. Karsten Johannsen, Business Development Executive Artificial Intelligence bei Tech Data. Wichtig sei es, im Vorfeld die benötigten Daten bereitzustellen und deren Qualität zu überprüfen. "Die Aufbereitung der Daten ist derzeit die größte Herausforderung", bestätigt Christian Dyballa, Head of Sector Financial Services - Insights & Data bei Capgemini in Deutschland.

Damit Projekte den erhofften Erfolg bringen, bietet sich laut Thorsten Kühlmeyer ein mehrstufiges Verfahren an: Zunächst sollten Unternehmen die Problemstellung erkennen und analysieren. Anschließend wird daraus ein Use Case abgeleitet. "Erst danach sucht man das passende Werkzeug", so der Experte von Telefónica. In Frage kämen klassische Analyseverfahren, aber auch KI-Ansätze wie Deep Learning und Natural Language Processing.

Dieter Mayr, Experte Digital Services - Vertical Market Solutions beim Digitalisierungsspezialisten A1 Digital, sieht eine weitere Option: "Eine Möglichkeit besteht darin, eine benutzerfreundliche Low-Code Platform zu nutzen, mit der sich KI- und ML-Anwendungen rasch entwickeln und ausprobieren lässt. Auf diese Weise können Unternehmen auf einfache Weise erste Erfahrungen mit maschinellem Lernen sammeln." Letztlich geht es Mayr zufolge darum, Expertenwissen in Modelle zu "gießen" und für KI- und ML-Lösungen verfügbar zu machen.

Umstritten: die Rolle von Transparenz

Zu teilweise unterschiedlichen Einschätzungen kommen die Experten bei den Themen Transparenz von Algorithmen und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, die Machine-Learning- und KI-Systeme ermitteln. So muss aus Sicht von Christian Dyballa von Capgemini erkennbar sein, wie Entscheidungen auf Basis von Machine Learning zustande kommen. "Man denke nur an sensible Bereiche wie die Medizin oder das autonome Fahren."

Kay Knoche von Pegasystems nennt ein anderes Beispiel: "Es muss klar sein, welche Prädikatoren, etwa das Lebensalter oder das Geschlecht, sich auf eine Kreditvergabe auswirken." Nur so könne nachgewiesen werden, dass Faktoren wie eine ausländische Herkunft keine Berücksichtigung finden. "Jede individuelle Entscheidung muss nachvollziehbar bleiben", so Knoche. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Es sollte für Menschen erkennbar sein, ob ein Machine-Learning- oder KI-System eine Entscheidung getroffen hat.

Doch das ist nicht ohne Weiteres umsetzbar, so Karsten Johannsen von Tech Data: "Warum und wie eine KI eine Entscheidung trifft, ist im Prinzip nur mit den klassischen ML-Verfahren wie Entscheidungsbäumen, anderen herkömmlichen Klassifikatoren oder auch 'flachen' neuronalen Netzen zu ermitteln." Bei Technologien wie Deep Learning sei auch dies bestenfalls eingeschränkt möglich.

Daher muss es aus Sicht der Fachleute transparent sein, auf welcher Datenbasis eine KI-Instanz entstanden ist. Außerdem seien umfangreiche Tests erforderlich, etwa von Prozessen und der Auswirkung bestimmter Datenbestände und Modelle auf Ergebnisse. "Negative Effekte sollten minimiert werden", unterstreicht Jürgen Wirtgen von Microsoft.

Vollständige Nachvollziehbarkeit bleibt Illusion

Eine umfassende Nachvollziehbarkeit wird es bei Machine Learning und Künstlicher Intelligenz jedoch nicht geben, so Farhad Khakzad: "Auch Entscheidungen von Menschen sind zumindest in den meisten Fällen nicht vollständig transparent." Daher könne das auch keine Anforderung für den Einsatz von ML und KI sein. "Speziell im Zusammenhang mit Deep Learning erinnert diese Forderung fast schon an die Suche nach dem Heiligen Gral", stellt Khakzad fest.

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Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Karl Schriek von Alexander Thamm. Es zeichne sich ab, dass wegen der wachsenden Komplexität von ML-Lösungen und -Algorithmen die Transparenz abnehme. Sein Appell: "Die Frage, mit der wir uns als Gesellschaft beschäftigen sollten, heißt nicht: 'Wie können wir KI-Lösungen transparenter machen?', sondern: 'Inwieweit sind wir bereit, uns auf intransparente Lösungen zu verlassen?'."

Einstieg in Machine Learning: Alle an einen Tisch

Unternehmen, die maschinelles Lernen nutzen wollen, sehen sich jedoch nicht nur mit Fragen wie der Nachvollziehbarkeit und der Suche nach passenden Use Cases konfrontiert. "Damit Projekte erfolgreich umgesetzt werden können, muss sich die IT-Abteilung von klassischen Aufgaben lösen", fordert beispielsweise Jürgen Wirtgen von Microsoft. Die internen IT-Fachkräfte sollten beispielsweise sicherstellen, dass das Datenmaterial eine hohe Qualität aufweist.

Zudem lässt laut Karsten Johannsen häufig die Kooperation zwischen IT-Fachleuten und Business-Entscheidern zu wünschen übrig. Um die Zusammenarbeit zwischen IT, Fachabteilungen und Management im Rahmen von KI- und Machine-Learning-Projekten zu optimieren, plädiert Karl Schriek für folgendes Modell: "Es wird eine neue Abteilung aufgebaut, der Mitarbeiter aus allen Bereichen angehören. Sie erarbeiten gemeinsam Use Cases und Produkte, die auf diesen Technologien basieren."

Um den Einstieg in ML zu erleichtern, hat Frank M. Graebe einen weiteren Tipp: "Es ist eine gute Idee, die jeweiligen Domänenexperten frühzeitig in KI-Projekte einzubinden oder diese selbst in die Lage zu versetzen, Maschine-Learning-Modelle zu trainieren." Dadurch lasse sich der Mangel an Data Scientists zumindest teilweise kompensieren.

Cloud kann Starthilfe für KI und ML geben

Hilfestellung bei solchen Projekten können Cloud-Plattformen leisten, die KI- und ML-Services zur Verfügung stellen. Anbieter wie Amazon Web Services, Google und Microsoft forcieren aus naheliegenden Gründen diesen Weg. "Cloud Computing ist ein Ansatz, der den Zugang zu KI- und Machine-Learning-Angeboten einfacher macht und dadurch viele Probleme löst", stellt denn auch Paul-Louis Pröve von Lufthansa Industry Solutions fest.

KI- und Machine-Learning-Lösungen aus der Cloud können auch nach Einschätzung von Dieter Mayr von A1 Digital "Starthilfe" geben: "Wichtig ist, dass Unternehmen kleinere Projekte als Lernobjekte nutzen und damit Erfahrungen auf dem Gebiet ML sammeln. Dazu ein Beispiel: Der Betreiber eines Callcenters kann maschinelles Lernen dazu nutzen, um die Planung des Schichtbetriebs zu optimieren." Ein weiterer Pluspunkt dieser Strategie ist laut Mayr, dass keine größeren Infrastruktur-Investitionen nötig sind. "Dieser Aspekt ist vor allem für Finanzverantwortliche wichtig. Außerdem schont eine solche Strategie das Budget und reduziert die personelle Auslastung des IT Departments." Dadurch könne die IT-Abteilung im Rahmen von ML-Projekten stärker die Rolle eines "Business-Enablers" übernehmen.

Ebenso wie etliche andere Teilnehmer der Expertenrunde warnt jedoch Frank Graebe von MathWorks vor überzogenen Erwartungen beim Einsatz von Machine Learning und Künstlicher Intelligenz aus der Cloud: "Es kann sich um generische Ansätze handeln, die zwar schnelle Anfangserfolge ermöglichen, jedoch weniger zum Aufbau von eigenem Know-how beitragen."

Hinzu kommt, dass maschinelles Lernen aus der Cloud bei komplexen Anwendungsfällen schnell an Grenzen stößt: "Bei branchentypischen und geschäftsmodellbezogenen Anforderungen sollten beispielsweise Algorithmen die Bedürfnisse des konkreten Einzelfalls abdecken", ergänzt Farhad Khakzad. Allerdings sei dabei zu bedenken, dass eine Eigenentwicklung einen deutlich höheren Aufwand und entsprechende Ressourcen erfordere. Beide Punkte sind jedoch aus seiner Sicht kritische Erfolgsfaktoren für den Einsatz von KI und ML in Unternehmen.

Nicht nur auf schnelle Erfolge konzentrieren

Doch auch wenn cloud-basierte ML-Dienste den Einstieg in diese Technologie erleichtern, sollten Unternehmen vermeiden, sich allzu sehr auf kurzfristige Erfolge zu konzentrieren. Wichtig ist laut der Expertenrunde vor allem der strategische Aspekt von maschinellem Lernen, KI und Deep Learning. So haben laut Paul-Louis Pröve von Lufthansa Industry Solutions diese Ansätze "überall ihre Daseinsberechtigung", nicht nur in ausgewählten Branchen. Ein Nutzen sei die Automatisierung von Prozessen, die bislang von Hand angestoßen oder kontrolliert werden müssten.

Telefónica und Pegasystems führen als strategisches Einsatzfeld von Machine Learning die Verbesserung des Kundenerlebnisses an. "Das Versprechen von Machine Learning und KI ist, die persönliche Beziehung zum Kunden wiederherzustellen, die durch den Einsatz von Callcentern und digitalen Kanälen verloren gegangen ist - also das alte Tante-Emma-Prinzip", sagt beispielsweise Kay Knoche.

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Wer komplexe Anwendungsfelder in Visier nimmt, sollte allerdings nach Ansicht von Karl Schriek ein gesundes Stehvermögen mitbringen. Denn: "Komplexe Use Cases beziehungsweise völlig neue KI-basierte Geschäftsmodelle erfordern, wie jedes innovative Vorgehen, die Bereitschaft, Risiken einzugehen - und möglicherweise zu scheitern."