Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

27.07.1990

Claudia Schulz, Redakteurin, Ost-Berlin

Der neue Zeitgeist im Lande setzt Zeichen und Fixpunkte. Er läßt nichts und keinen unberührt. Und so möchte ich als rd-Redakteurin meine Gedanken äußern zu Ergebnissen und Folgen der friedlichen Revolution in unserer (Noch-)DDR. Mit Ausnahme jener, die davon profitieren, daß Partei- und Linientreue schwerer wogen als Fach- und Sachkompetenz und Wirtschaftlichkeit, dürfte wohl kaum jemand der alten DDR nachweinen. Müßig, heute noch darüber zu streiten, ob ein maßvolles Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten in konföderativen Schritten unseren wirtschaftlichen und damit verbundenen sozialen Interessen dienlicher gewesen wäre als die nunmehr beschlossene schnelle Einheit. So springen wir also kopfüber in die Marktwirtschaft, wohl wissend, daß dabei manches auf der Strecke bleibt, das wir vermissen werden.

So berechtigt Befürchtungen sind und verständlich umgreifende Ängste, so verläßlich sind aber auch unsere Potenzen. Wir gehen einer Gründerzeit entgegen wie noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes. Sehr schnell wird sich die Spreu vom Weizen trennen im rollenden Zug Richtung Rentabilität. Verfallen die einen in Resignation, besinnen sich andere auf ihre eigene Kraft, freuen sich, endlich Mut haben zu dürfen. Zusammenbruch und Neubeginn reichen sich die Hände.

Computernutzer werden nicht mehr von Robotron-Funktionären, dem ehemaligen Ministerium Elektrotechnik/Elektronik und von ZK-Fachabteilungen regiert, zensiert und reglementiert. Sie können und müssen sich neu orientieren, befreit von zwingenden staatlichen Normativen, gezwungen aber zu positivem Kosten/Nutzen-Verhältnis. Es gibt keinen Lorbeer mehr für vorgezeigte CAD/ CAM- und Pseudo-CAD-Stationen - was gut und nützlich ist, weisen allein Umsatz und Gewinn aus.

Einsatz von Entwicklungskapazität will neu unter anderen Gesichtspunkten überlegt sein. Der Frage "make or buy?" wird man sich konsequent stellen müssen, exakt prüfen, was "sich rechnet", sonst bleiben kühnste Pläne Blütenträume.

Der Computer als Arbeitsinstrument für die Betriebsökonomie hat nicht nur für die "Großen" Bedeutung. Auch in kleinen und mittelständischen Betrieben wird der Personal Computer mit maßgeschneiderter Anwendersoftware unverzichtbares Rationalisierungsmittel sein für die Betriebsökonomie, aber insbesondere auch als Entscheidungshelfer bei der Planung betrieblicher Abläufe.

Die Informatik-Wissenschaft dieses Landes darf sich ihrer Fähigkeit sicher sein, international mitreden zu können. Nicht erst seit heute dozieren und forschen DDR-Wissenschaftler erfolgreich auch im westlichen Ausland. Ohne staatliche Bremsen können sie sich nun frei bewegen, und wir dürfen mit entsprechenden Ergebnissen rechnen. Mit der Marktöffnung schwappt eine wahre Flutwelle von Hard- und Software in unser Land, die passende Auswahl wird für den Anwender schwierig. Jedes Produkt wird als "bestes" feilgeboten. Man muß seine Bedürfnisse sehr genau kennen, um wirklich effektiv zu investieren.

Wir, die Redaktion rd, wollen unseren Lesern, den Anwendern in der DDR, Orientierungshilfe geben mit aktuellen Informationen über das Marktgeschehen in der Branche. Wir werden über Erfahrungen der Anwender mit neuen Produkten zu berichten haben, über Angebote neu gegründeter Firmen und Niederlassungen informieren, Trends in Industrie und Wissenschaft verfolgen und aufzeigen. So eröffnen wir zum Beispiel in dieser Ausgabe eine neue Rubrik "rd-Test", in der Ergebnisse von Hard- und Softwaretests vorgestellt werden.

Unsere Zeitschrift soll ein lebendiges Podium für fachliche Auseinandersetzungen sein, auf dem sich kritische Meinungen und Standpunkte der Anwender wie der Wissenschaftler gegenüberstehen. Zunehmend sollen auch BRD-Autoren zu Wort kommen, so daß die deutsch-deutsche Kontaktsuche einfacher wird. Nicht zuletzt bemühen wir uns darum, die Anwender mit der Veröffentlichung von Hinweisen zu sich verändernden Bestimmungen und Gesetzen vor unüberlegten Entscheidungen zu bewahren. Das schließt ein, entsprechende Leserfragen schnell von kompetenten Partnern öffentlich beantworten zu lassen.

Wir sind uns der neuen Ansprüche unserer Leser ebenso bewußt wie der scharfen Konkurrenz von mehr als 50 Computerzeitschriften aus der BRD. Der wesentliche Unterschied zu den westlichen Publikationen besteht darin, daß wir uns der spezifischen Situation der DDR-Anwender verpflichtet fühlen. Unsere Zeitschrift, in erster Linie von Anwendern für Anwender gemacht, gibt Erfahrungen weiter, stellt sie zur öffentlichen Diskussion.

In der neu gewonnenen Pressefreiheit und einem gerüttelt Maß Erfahrung, gepaart mit Optimismus und Energie, sehen wir unsere Chance, auch weiterhin von unserer Leserschaft akzeptiert zu werden.

Auch wir balancieren zwischen Anspruch und Wirklichkeit...