Collaborative Commerce soll Geschäftsbeziehungen auf eine neue Ebene befördern

Zusammenarbeit im Zeichen des Web

23.02.2001
Dass Unternehmen durch virtuelle Zusammenarbeit ein enormes geschäftliches Potenzial freisetzen können, darüber sind sich Marktauguren und Berater einig. Wie und wo aber die Firmen mit Hilfe von DV-Systemen kooperieren sollen, da fischen viele noch im Trüben. Collaborative Commerce oderCollaborative Computing betrifft Produktentwicklung und Fertigung ebenso wie Verkauf und Rechnungsstellung - und steht in allen Bereichen erst am Anfang.

Zusammenarbeit ist im Wirtschaftsleben selbstverständlich. Allerdings beschränkt sich Kooperation häufig auf bilaterale Vereinbarungen - abgesichert durch langfristige Verträge zwischen Unternehmen und ihren Zulieferern. Das hat nicht zuletzt technische Gründe: Produkte müssen gemeinsam entwickelt, die Fertigung aufeinander abgestimmt und die logistischen Prozesse koordiniert werden. "Heute sind Geschäftsbeziehungen langfristig gestaltet, da sich die Prozesse sonst nicht in dem geforderten Maß integrieren lassen", weiß Thomas Lehr, Management-Berater im E-Business-Center des Beratungsunternehmens CSC Ploenzke. "Im Collaborative Computing wird der Wechsel von Geschäftspartnern durch weit reichende Standardisierung vereinfacht." Geschäftsbeziehungen würden dann wieder unter strategischen Gesichtspunkten aufgebaut und nicht auf der Basis technischer Sachzwänge, wie es heute oft der Fall sei. Bis 2004, so erwartet die Gartner Group, werden C-Commerce-Anwendungen statische Web-basierte Supply-Chain-Anwendungen als vorherrschendes Anwendungsmodell ablösen.

Der durch C-Commerce eingeleitete Wandel ist nahezu allumfassend. Gartner definiert Collaborative Commerce als gemeinsame, elektronisch ermöglichte Geschäftsinteraktionen über das interne Personal, Geschäftspartner und Kunden eines Unternehmens hinweg bis hin zu Handelsgemeinschaften. Letztere können eine Branche, ein Branchensegment, eine Zulieferkette oder Teil einer Zulieferkette sein. Solch ausgreifende Konzepte stellen Anforderungen, die heutige Systeme noch nicht erfüllen. Den Knackpunkt bilden die Schnittstellen.

Standards sind der Schlüssel

"Eine der wichtigsten Herausforderungen ist die Standardisierung von Prozessen, Daten und der Infrastruktur", erklärt Lehr. Andere Anforderungen an die IT-Architektur haben die Technikanalysten von AMR Research identifiziert. Zu diesem Bedarf gehören ein Peer-to-Peer-Informations-Management, die Sicherheit, Zusammenführung und Aufteilung von Daten sowie die gemeinsame Kenntnis von Randbedingungen über einzelne Bereiche hinaus.

Welche Detailprobleme dabei zu lösen sind, zeigt das Beispiel von Le Shop GmbH, Hürth, einem Lebensmitteleinzelhändler im Internet. Im Web-Shop des Anbieters können Kunden bis 24 Uhr praktisch alle Lebensmittel bestellen. Geliefert werden sie am nächsten Tag - in einem vom Kunden festgelegten Zeitraum. Während Le Shop das Web-Angebot betreut und sich um den Einkauf kümmert, übernimmt die Deutsche Post Fulfillment (DPF) die Logistik. Bis jetzt stammt die gesamte DV von Le Shop, doch das soll sich schon bald ändern. Dann wird DPF eine eigene Lagerverwaltungssoftware nutzen, die über Standard-Schnittstellen auf XML-Basis mit der Warenwirtschaft und dem Web-Shop kommunizieren soll. "Eine große Herausforderung stellt die Verteilung der Verantwortung für bestimmte Daten und Prozesse dar", erläutert Thomas Ruthekolck, Director Logistics bei Le Shop. "Zum Beispiel erfordert die Änderung einer Bestellung bei uns den Zugriff auf den Web-Shop, die Warenwirtschaft und das Logistiksystem." Ob Collaborative Computing gelinge, hänge wesentlich von der Lösung solcher inhaltlichen Probleme ab.

Schon die Rechnung macht Probleme

Das zeigt sich auch bei der Rechnung. Die Warenwirtschaft verwaltet die Rechnungserstellung, gedruckt werden muss sie aber bei der Zusammenstellung der Einkaufskörbe. Doch auch die logistischen Prozesse wirken wieder auf sie zurück, zum Beispiel wenn eine Position nicht lieferbar ist oder bei Produkten mit unterschiedlichen Gewichten, etwa einem Steak. "Bei der geplanten Trennung der IT-Systeme ist die Rechnungserstellung einer der kritischsten Punkte", stellt Ruthekolck klar.

Die Schnittstellen-Frage hört also nicht bei der Definition auf, welche Daten zu übermitteln sind, sondern muss auch den gesamten Prozess abbilden, in diesem Fall der Rechnungsstellung. Das haben viele Unternehmen erkannt. So gibt es bereits seit mehreren Jahren Collaborative Planning, Forecasting & Replenishment (CPFR), eine Initiative, die von der Handelsorganisation Voluntary Inter-Industry Commerce Standards Council betrieben wird.

CPFR will die Zusammenarbeit zwischen Einzelhändlern und Lieferanten durch die gemeinsame Nutzung von Daten verbessern. Beispielsweise sollen die Lagerhaltungskosten reduziert werden, indem Zwischenhändler einfacher den Überblick über das beim Einzelhändler angesiedelte Lager behalten können. In einem Pilotprojekt, in dessen Rahmen Prognosemodelle und Logistik für ausgewählte Produkte des Verbrauchsgüterproduzenten Sara Lee Corp. optimiert werden sollen, testet Wal-Mart derzeit die bereits definierten Internet-Schnittstellen mit Hilfe von Lucent, Ernst & Young, SAP und Sun.

Auch einzelne Softwarehersteller haben die Notwendigkeit, ganze Geschäftsprozesse zu normieren, frühzeitig erkannt. So stellt die SAP AG, Walldorf, mit "Application Link Enabling" (ALE) schon seit mehreren Jahren eine Technologie zur Verfügung, mit der sich der Datenaustausch von und zur betriebswirtschaftlichen Komplettlösung R/3 über ganze Geschäftsprozesse hinweg realisieren lässt. Diese Definition ist allerdings ein proprietärer Standard.

Dennoch kommt diesen Softwareherstellern eine wichtige Rolle zu, glaubt CSC-Mann Lehr: "Es wird keinen Standard gegen den Willen der großen ERP-Anbieter geben. Hier wird zum Beispiel SAP ein gewaltiges Wort mitzureden haben." Ein einheitlicher technischer Standard werde sich aber nur dann etablieren können, wenn mehrere große Player sich einigen und gemeinsam agieren.

ERP II löst ERP ab

Solche gegenüber anderen Anwendungen offenen und damit auf C-Commerce vorbereiteten unternehmensweiten Anwendungen bezeichnet die Gartner Group als "ERP II". Diese Programme folgen den heutigen ERP-Lösungen, die sich aber nach Ansicht der Auguren teilweise grundlegend ändern müssen. Zunächst verändere sich das Rollenverständnis: Statt die unternehmensinternen Prozesse zu optimieren, müssen sich die Anwendungen in die Wertschöpfungsketten einpassen. Ziel ist es, dass die Funktionen für Fertigung, Verkauf und Vertrieb sowie Rechnungswesen sowohl unternehmensspezifische als auch Branchen und branchenübergreifende Prozesse umfassen. Statt diese vor externen Anwendern zu verstecken, ist es notwendig, sie für Geschäftspartner zu öffnen. Dazu ist eine komponentenorientierte Architektur nötig. Heutige ERP-Systeme sind dagegen in der Regel monolithische, geschlossene Anwendungen. Nicht zuletzt müssen die Daten publiziert und von anderen Unternehmen abgefragt werden können. Bis 2005, so rät Gartner, sollten Unternehmen die schwierige Transformation von ERP zu ERP II angehen - sowohl von der Geschäftssicht aus als auch auf der technischen Ebene. Gleichzeitig mahnen die Analysten aber zur Vorsicht, denn der nötige Wandel stelle die ERP-Anbieter vor große Aufgaben.

Immerhin nehmen die meisten Anbieter die Herausforderung an - zumindest in den Kerngebieten. So hat SAP für Sommer eine neue Version von Mysap Financials angekündigt, die gemeinschaftliche Geschäftsprozesse im Rechnungswesen unterstützen soll. "E-Accounting" wickelt den Zahlungsverkehr in komplexen E-Business-Szenarien ab. Zum Beispiel lassen sich Teile des Rechnungswesens an Dienstleister ausgliedern. Hierzu können Rechnungen oder Sammelrechnungen elektronisch erstellt und Zahlungen online abgewickelt werden (Electronic Bill Presentment and Payment = EBPP). Für die Zusammenarbeit mit anderen Systemen setzt SAP auf XML-Schnittstellen.

Der zum Invensys-Konzern gehörende ERP-Anbieter Baan konzentriert sich mit seinen Anwendungen für die diskrete Fertigung dagegen auf Collaborative Manufacturing. Hierzu hat das Unternehmen vor kurzem eine Reihe neuer Module für seine Anwendung vorgestellt. Die Komponenten helfen zum Beispiel dabei, Aktivitäten über die komplette Prozesskette hinweg zu beobachten und die Bestellung direkter Güter abzuwickeln sowie deren Lieferung zu synchronisieren. Auch ein Modul zur Verwaltung von Lagern direkt beim Kunden, wie es die CPFR-Initiative im Einzelhandel anstrebt, hat Baan im Portfolio.

Zusammenarbeit in der Entwicklung

Selbst Nischenanbieter aus den Bereichen virtuelle Marktplätze und Supply-Chain-Management folgen diesem Trend. Sie erweitern ihr Produktportfolio vor allem um Anwendungen, die die Beschaffung direkter Güter unterstützen. Eine wichtige Komponente ist dabei die Produktentwicklung. Oftmals werden einzelne Komponenten eines zu produzierenden Gutes, zum Beispiel eines Autos, im Auftrag und nach Spezifikation des Auftraggebers gefertigt. Um den Prozess der Produktentwicklung zu optimieren, hat I2 Technologies seine Lösung "Supplier Relationship Management" herausgebracht. Das gleiche Ziel verfolgt Ariba mit der Übernahme von Agile. Die Agile-Lösung hilft beim elektronischen Austausch von Dokumenten, wie sie in der Planungsphase entstehen, zum Beispiel CAD-Zeichnungen und Word-Dokumente. Gerade in der Designphase fallen in großem Maßstab unstrukturierte Daten an, die verteilt und später wiedergefunden werden müssen. Auch ein Rückfluss von Informationen aus der Fertigung ist nötig, um den Produktentstehungszyklus zu verkürzen und die Weiterentwicklung von Produkten zu verbessern.

Verzahnung ist schon heute möglich

Gemeinsame Produktentwicklung kommt heute schon oft vor. So betreibt beispielsweise General Electric (GE) Industrial Systems weltweit 100 Fabriken und 20 Design-Center, die über das Web zusammenarbeiten. In einem Intranet werden Projekte in einzelne Aufgaben unterteilt und verteilt. Jedes Teammitglied kann das gesamte Projekt einsehen. "Wir können nun zum ersten Mal internationale Teams an dem gleichen Projekt in Asien, Europa, Südamerika und den USA zusammenarbeiten lassen", beschreibt Eric Reed, Leiter der Maschinenbausysteme bei GE Industrial Systems.

"In der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen lassen sich die Prozesse heute schon sehr eng verzahnen - das hat zum Beispiel die Automobilindustrie gezeigt", relativiert aber CSC-Experte Lehr. Von C-Commerce versprechen sich die Befürworter jedoch auch, Geschäftspartner schnell wechseln beziehungsweise neu auftun zu können, da die technischen Hürden gering sind. Gerade im Bereich Supply-Chain-Management ist die Idee des Collaborative Computing nicht neu - wenn auch die Konzepte über das bislang Überlegte hinausgehen, zum Beispiel durch die Einbeziehung von Net-Markets oder neuen Kooperationsformen etwa im Bereich Produktentwicklung.

Gerade mit Web-Handelsplätzen wird häufig der erste Schritt in das C-Commerce-Zeitalter angetreten. Für die Beschaffung von indirekten Gütern wie Büromaterial können Käufer sich aus verschiedenen Katalogen die Produkte heraussuchen, die sie erwerben wollen - und einfach beim günstigsten Anbieter ordern. Auktionen und Ausschreibungen ermöglichen eine einfache Form der Preisfindung auch bei knappen Ressourcen. Handelsplätze wie Covisint für die Automobilindustrie wollen aber darüber hinausgehen und auch andere Güter, die sich nicht einfach bestellen lassen, dort ordern - etwa über die Einbeziehung des Produktentwicklungsprozesses.

Standardisierte Verhandlungen

Insofern ebnen solche Lösungen schon den Weg zum C-Commerce, indem sie für bestimmte Teilaspekte eine Lösung anbieten, doch die Vision erfüllen sie noch lange nicht. Nach Ansicht der Meta Group sind zwei Komponenten für eine kollaborative E-Business-Strategie von entscheidender Bedeutung: Verhandlungsführung sowie Problemlösungs-Management. Verhandlungen sind bislang häufig ein Balanceakt zwischen persönlichen Beziehungen und dem kontrollierten Umgang mit Fakten. Um diesen Prozess in IT-Systemen abbilden zu können, benötigen die Anwendungen unter anderem ein System zur Verwaltung von Verträgen, eine Historie der bereits geführten Verhandlungen, Möglichkeiten zur Mitbewerberanalyse und entscheidungsunterstützende Systeme. Um Anforderungen an das Problemlösungs-Management zu erfüllen, empfiehlt die Meta Group Web-basierte Tools für virtuelle Büros. Bei zehn bis 20 Prozent aller Geschäftstransaktionen kommt es zu Problemen - mit gravierenden Auswirkungen auf die Kosten. Durch die Optimierung dieses Prozesses lässt sich also viel Geld sparen.

Dies zeigt auch die Grenzen technischer Systeme auf. Zusammenarbeit ist beides - eine menschliche und eine informationstechnische Aufgabe, stellt AMR Research fest. Kopfarbeiter und Führungskräfte müssen verstehen, wie sie geben können, um etwas zu erhalten, beziehungsweise teilen, um zu sparen, - und nicht nur mit Zulieferern und Partnern, sondern sogar mit Mitbewerbern. Dieser Wandel wird Zeit in Anspruch nehmen, ist CSC-Mann Lehr klar: "Es wird keinen Big Bang geben, bei dem plötzlich alle Unternehmen via Collaborative Commerce zusammenarbeiten. Das wird Zug um Zug gehen - und nächstes Jahr auch ganz anders heißen."

Martin Ottomeier, mottomeier@computerwoche.de

Wichtige Anbieter

- Handelsplattformen: Ariba, Atlas Commerce, Clarus, Commerce One, I2 Technologies, Manugistics, Oracle.

- E-Procurement: Ariba, Clarus, Commerce One, Oracle.

- Product-Lifecycle-Management: Agile Software, Matrix One, PTC.

- Supply-Chain-Planning: I2 Technologies, J. D. Edwards, Manugistics, SAP.

- Supply-Chain-Execution-and-Event-Management: Descartes, Exe Technologies, Optum, Viewlocity, Eqos.

- Collaborative Planning, Forecasting & Replenishment: Mercia Software, Syncra, Webplan.

Empfehlungen

Auf acht Dinge sollten Unternehmen nach Ansicht von AMR Research achten, wenn sie C-Commerce angehen wollen:

- Zunächst die internen Integrationsprozesse erledigen und mit einem klaren Ziel in Verhandlungen mit potenziellen Partnern treten.

- Herausarbeiten, welche Daten mit Kunden und Lieferanten idealerweise geteilt werden sollten, um die Performance zu verbessern.

- Softwareanbieter müssen ihre Produkte an die Firmenvorstellungen anpassen. Daher müssen Firmen mit ihnen partnerschaftlich zusammenarbeiten.

- Die Collaboration-Rollen analysieren und für das eigene Unternehmen festlegen.

- Die Collaboration-Philosophie als Leitthema für Internet-Handelsplätze benutzen.

- Die Voraussetzungen in den Zielmärkten und -regionen prüfen.

- Berücksichtigen, dass die kulturelle oder persönliche Bereitschaft zu geben, um zu erhalten, nicht unbedingt ausreichend vorhanden sind.

- Vorsicht bei der Einschätzung der Integrationsanforderungen walten lassen, die für echte Zusammenarbeit nötig sind.

Abb.1: Markt für Collaborative-Software

Im Schnitt 68 Prozent im Jahr wird der Markt für Collaborative-Software wachsen. (Quelle: AMR Research)

Abb.2: ERP-II-Anbieter in der Prozessfertigung

Noch viel zu tun haben die ERP-Anbieter nach Gartner-Ansicht. Den Lösungen fehlt die Perspektive. (Quelle: Gartner Group)