Damit wir nicht das Land mit den ältesten Absolventen und jüngsten Pensionären sind:

Zügiges und praxisorientiertes Studium muß honoriert werden

19.05.1989

Steigende Studentenzahlen, veralterte Lehrpläne und wesentlich längere Studienzeiten stehen dem Wunsch der Industrie nach jüngeren und qualifizierteren Hochschulabgängern gegenüber. Lösungsmöglichkeiten der anstehenden Probleme aus Sicht der Industrie bot Hans-Olaf Henkel* vor dem IBM-Hochschulkongreß in Berlin.

Die deutsche Wirtschaft wäre sicher ohne hervorragend ausgebildete Menschen nicht das geworden, was sie ist. Die Qualität unseres Bildungssystems trägt damit wesentlich zur Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft bei. Was die Hochschulausbildung angeht, sind die Arbeitgeber Kunden der Universitäten, denn sie "kaufen" erhebliche Anteile der "produzierten" Akademiker ein.

Und genauso wenig, wie Arbeitgeber sich angesichts der guten Konjunktur von der Diskussion um die strukturellen Probleme unserer Wirtschaft abhalten lassen sollten, genauso wenig dürfen sie sich auf dem überall gern zitierten Standortvorteil "deutsches Ausbildungssystem" ausruhen.

Das Thema Studienzeiten ist nicht der einzige Aspekt der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Ausbildungssystems. Wir müssen deshalb

- über die Gesamtausbildungszeit und das Verhältnis zur Gesamtarbeitszeit nachdenken,

- auf qualitative Aspekte der Hochschulausbildung eingehen,

- die Anforderungen der Berufswelt von morgen mit einbeziehen.

Die Anforderungen der Informationstechnik sind nicht typisch für die gesamte Wirtschaft, sind aber sicher in der Tendenz typisch für das, was uns alle morgen erwartet. Vor diesem Hintergrund sind folgende sechs Fragen zu beantworten:

1. Was ist das Problem?

2. Was sind die Folgen?

3. Wo liegen die Gründe?

4. Wo wollen wir hin?

5. Was muß geschehen?

6. Was passiert, wenn nichts passiert?

Zur ersten Frage: Was ist das Problem ?

Der deutsche Akademiker verläßt im Durchschnitt die Hochschule im Alter von über 28 Jahren nach siebenjährigem Studium. Dabei muß man vier Dinge berücksichtigen:

Erstens ist die Verlängerung der Studiendauer von elf auf vierzehn Semester vor allem in den letzten zwölf Jahren eingetreten.

Zweitens, vergleicht man die Studiendauer für gleiche Fächer an verschiedenen Hochschulen, findet man starke Variationen. Ein Extremfall ist die Physik: In Osnabrück ist das Studium in der Regel nach zehn Semestern beendet, an der TU Berlin aber erst nach siebzehn Semestern.

Und dann gibt es auch an den "Langzeitplätzen" Studenten, die in der möglichen Mindestsemesterzahl ihr Pensum hinter sich bringen. Wobei mein Eindruck ist: je kürzer studiert, desto besser abgeschlossen. Drittens muß man unsere Fachhochschulen von Problem der überlangen Studienzeiten etwas ausnehmen.

Dort läßt sich folgendes finden:

- eine Organisation in Klassenform, die einen Studientakt vorgibt

- ein bewußtes Streben nach kurze Studienzeiten (Wettbewerb mit den Universitäten) und keine so enge Verknüpfung mit der Forschung und damit keine so starken Auswirkungen der Spezialisierung der Forscher.

Und viertens hat sich im Ausland eine derartige Verlängerung nicht abgezeichnet.

Nun könnte man fragen:

- Liegt es nicht an der von uns gewünschten liberalen Gesinnung, daß die einen kürzer, die anderen länger studieren?

- Liegt es nicht an der Bildungspolitik, daß heute rund 30 Prozent je Altersjahrgang ein Studium beginnen, während es vor zwanzig Jahren noch gerade vier Prozent waren?

- Und schließlich, was soll der Hinweis auf das Ausland? Wir werden doch wohl kaum eine Invasion von jungen Franzosen, Engländern oder Italienern zu befürchten haben, die zwar jünger, aber doch der deutschen Sprache selten mächtig sind?

So stellt sich hier dann auch gleich die zweite Frage:

Welche Folgen haben die im Vergleich zum Ausland und zu unserer eigenen Vergangenheit viel längeren Studienzeiten?

Da sind erstens die volkswirtschaftlichen Konsequenzen. Die Rechnung kann nicht aufgehen wenn ein Akademiker mit 28 ins Erwerbsleben eintritt und es mit 58 wieder verläßt. Dann ist er gerade 40 Prozent seines Lebens beruflich aktiv, und 30 Prozent sind Schule und Hochschule gewidmet. Minister Blüm wies bei der Debatte um die Rentenreform zu Recht darauf hin, daß wir nicht gleichzeitig das Land der ältesten Absolventen und jüngsten Pensionäre sein können. Ich möchte dem noch hinzufügen "und in dem zwischen diesen beiden Zeitpunkten auch noch am wenigsten gearbeitet wird".

Zweitens ist bei allzu langen Schul- und Studienzeiten ein Teil des erworbenen Wissens bereits überholt, wenn die Absolventen in die Praxis kommen. Die Wirtschaft braucht aber heute mehr als zuvor aktuelles Wissen und damit raschen Wissenstransfer in die Praxis.

Aus diesem Grunde wird auch - drittens - lebenslanges Lernen zur Existenzfrage für viele Wirtschaftszweige.

Viertens - und das ist noch schmerzlicher als verlorene Jahre - leidet die Qualität der Hochschulausbildung. Überlange Studienzeiten sind zum Teil auch eine Folge der Überladung mit Stoff und der Überlastung mit Studenten. Das Bemühen, Masse zu bewältigen, macht es begabten Studenten und engagierten Professoren sehr schwer, Spitzenleistungen zu erbringen.

Und fünftens: Wir dürfen die persönliche Entwicklung der jungen Menschen nicht vergessen. Viele Studenten sind rund ein Jahrzehnt oder länger nach dem biologischen und rechtlichen Eintritt ins Erwachsenenalter ohne berufliche und familiäre Verantwortung. Sie sind zu lange finanziell abhängig.

Jeder dieser Punkte rechtfertigt allein schon die Diskussion und eine ehrliche Analyse. Und das bringt mich zur dritten Frage: Woran liegt das? Was sind die Gründe?

Alle Bereiche unserer Gesellschaft habe dazu beigetragen:

- Die Industrie, indem sie auf Akademiker auch für solche Positionen besteht, die eigentlich keine wissenschaftliche Ausbildung erfordern.

- Die Hochschulen, wenn sie die steigende Wissensflut mit zunehmender Fülle an Studien- und Prüfungsstoff bekämpfen, anstatt die Struktur des Studiums zu verändern;

- Studenten, die sich in der Jugendkultur so wohlfühlen, daß sie es mit dem Eintritt ins Berufsleben nicht besonders eilig haben.

- Politiker, die akademische Würden und gesellschaftlichen Aufstieg für jedermann versprachen;

- Eltern, wenn sie eine solide Facharbeiter- oder Techniker-Ausbildung für ein praktisch begabtes Kind nicht gut genug fanden.

Dieser Rundblick mag zeigen, daß wir mehr als nur die Studienzeit zu ändern haben. Wir stehen vor einer gesellschaftspolitischen Herausforderung allerersten Ranges. Und das bringt mich dann zur vierten Frage: Wo wollen wir hin?

- Wir brauchen eine zügige Abwicklung des Studiums mit einem frühen Kontakt zur Praxis. Zügig, das könnte das Modell "4 Jahre plus" bedeuten, also acht Semester plus Prüfungen.

Strukturveränderungen an Schulen und Universität

Frühe Praxiskontakte, die den Studenten klare Vorstellungen von den realen Anforderungen der Arbeitswelt geben - das wären Werkstudentenprogramme, Praktika in den Ferien und studienbegleitende Arbeiten; aber auch Gastdozenten aus der Wirtschaft, die wichtige Hinweise geben, wo es draußen wirklich langgeht.

- Wir brauchen eine berufliche Erstausbildung, die eine gute Grundlage für spätere Spezialisierung und Weiterbildung bietet.

- Wir brauchen nicht das Auswendiglernen von Detailwissen, dafür aber eine stärkere Konzentration auf Fähigkeiten, die das Erlernen von wechselndem Spezialwissen erleichtern,

- Wir brauchen, im Sinne von Dieter Mertens, dem früheren Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der BfA: eine Basis von Grundfakten, das Verständnis der Grundzusammenhänge, die Fähigkeit zum logischen, systematischen Denken und die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck und Verstehen.

- Schließlich brauchen von Persönlichkeitsbildung als vielleicht wichtigste Voraussetzung , um sich in der heutigen Arbeitswelt zu bewähren, zum Beispiel:

- Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zur Kommunikation.

- Die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung in einem Umfeld zu übernehmen, in dem es immer weniger Routine und immer mehr Ausnahmen gibt.

Um festzustellen, wo es hingehen soll, müssen ein Zielkatalog aufgestellt und Ziele priorisiert werden. Und hier stellt sich die vorletzte Frage: Was muß geschehen?

Obwohl es sicher zu einer Verkürzung der Studienzeiten führen würde: Wir können nicht von 30 Prozent Jahrgangsanteil der Studierenden wieder runter. Und die Industrie will das auch nicht.

Wir müssen aber trotzdem das blinde Vertrauen auf Masse durch ein Vertrauen in Intelligenz und Flexibilität ersetzen. Qualitative Antworten sind unsere einzige Chance. Dazu gehört vor allem die inhaltliche Beschränkung auf das Wesentliche einer Grundausbildung, die zum Weiterlernen befähigen soll.

Dann sind Strukturveränderungen an den Schulen und den Hochschulen unbedingt nötig: Wir sollten die Schulzeit auf zwölf Jahre begrenzen. Das ist heute fast überall in Europa möglich. Und wenn man bedenkt, daß bei uns die Wehrpflicht, im Gegensatz zu anderen, die Regel ist, scheint das sogar besonders geboten.

Trotz Vorsemestern und Einstiegstutorials irren immer noch zu viele Anfangssemester orientierungslos durch den Angebots- und Vorschrifts-Dschungel. Mit mehr und besser aufbereiteter Information ließe sich sehr viel Zeit sparen.

Wir müssen ein 4jähriges Grundstudium zur Regel machen, als Basis sowohl für ein wissenschaftliches Aufbaustudium als auch für einen Berufsweg lebenslangen Lernens in der Praxis.

Noch ein Ansatz, der direkt auf die Studiendauer wirken kann: Von den zwölf Monaten des Jahres entfallen nur sieben auf die Vorlesungszeit. Ich weiß, daß die Semesterferien zum Beispiel für Praktika und von den Studenten gerade auch zum "Jobben" benötigt werden. Aber schon eine Kürzung der Semesterferien um jeweils zwei Wochen würde die Vorlesungszeit um rund 14 Prozent verlängern und könnte die Gesamtstudienzeit entsprechend verkürzen.

Es geht also nicht nur darum, diese Lernzeiten für das Wesentliche zu nutzen, sondern auch darum, sie über ein Menschenleben so zu verteilen, daß wir mit dem Fortschritt des Wissens besser Schritt halten können. Dadurch sparen wir viele Jahre, viel Geld und Energien, und die wären für andere Investitionen besser angelegt:

- In Postgraduate-Studien zur Vorbereitung auf eine wissenschaftliche Laufbahn oder zur Spezialisierung

- in Angebote von "Auffrischungs-Studien", die Berufstätige zum Beispiel während der Sommerferien mit dem neuesten Stand ihres Fachs vertraut machen

- in Weiterbildungs-Kurse, die auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten von Berufstätigen in der Praxis zugeschnitten sind.

Der Einsatz moderner technischer Hilfsmittel für ein effektiveres Lernen ist immer noch die Ausnahme. Dabei stehen höchst wirkungsvolle Medien zur Verfügung: PC-Lernprogramme, Datenbanken, Expertensysteme oder auch interaktiver Fernunterricht über Satellitenfunk oder Breitbandkabel.

Wenn man schon Verbesserungen fordert, dann sollte man zuerst bei sich selbst in die Speichen greifen. Deshalb ist die Wirtschaft gefordert: Wir müssen für die Akzeptanz des ersten Studienabschlusses als berufsqualifizierenden Abschluß im Einstellverhalten sorgen.

Die Unternehmen sollten den Hochschulen anbieten, mit ihren erfahrenen Fachleuten wichtige Praxisbezüge schon in die Grundstudiengänge einzubringen.

Die Unternehmen sollten aber auch mehr Verantwortung für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter übernehmen. Dabei muß klar bleiben, daß berufliche Weiterbildung nicht nur als Bringschuld der Unternehmer, sondern auch als Holschuld der mündigen Arbeitnehmer verstanden wird und es ist eigentlich nicht einzusehen, warum sich Weiterbildung nicht auch in der immer längeren Freizeit abspielen soll.

Auch die Universitäts-Verwaltung, Lehrkörper und Studenten, sollten so effizient wie möglich geführt werden.

Ein interessanter Ansatz ist an der privaten Universität Witten/Herdecke gewählt worden: Das Aufsichtsgremium ist dort paritätisch mit Professoren und Führungskräften aus der Wirtschaft besetzt.

Hilfe zur Effizienz aber auch für die Studenten: Wir müssen noch klarer sagen, was man wo mit welchen Anforderungen, mit welchen Studienzelten und vor allem auch mit welchen Berufschancen studieren kann. Wir haben heute 30 000, einige sagen 50 000, arbeitslose Lehrer. Gleichzeitig sucht die Industrie 40 000 Informatiker.

In Zusammenarbeit mit den Ländern Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen und anderen Unternehmen schulen wir Lehrer zu Informatikern um. Ich kann es nicht quantifizieren, aber hier wird entweder bei uns oder an den Hochschulen Doppelarbeit geleistet.

Dann müssen wir zügiges und praxisorientiertes Studium honorieren. So sollten wir bei Einstellung nicht nur auf die Noten im Abschlußzeugnis achten, sondern auch darauf, wie lange sie oder er dazu gebraucht hat.

Und wir sollten, ob als Professoren an den Hochschulen, als politische Meinungsführer, als Führungskräfte in der Wirtschaft und besonders als Eltern bei unseren Kindern zwei Dinge ausräumen:

- die Illusion, daß der berufliche Erfolg mit der Länge des Studiums in einem automatischen Zusammenhang steht,

- und den Glauben, daß Karrierechancen in der Industrie unbedingt von der Anzahl der akademischen Titel abhängen.

Und das bringt mich zur letzten Frage: Was passiert, wenn nichts passiert?

Unter den entwickelten Industrienationen gehören Motivation und Qualifikation der erwerbstätigen Bevölkerung inzwischen zu den allerwichtigsten Wettbewerbs-Faktoren. Die Qualität unseres Bildungswesens wird unsere zukünftige Stellung unter den Nationen mehr als alles andere bestimmen. Wir sind zu Recht immer noch stolz auf unser Ausbildungssystem. Aber wir müssen aufpassen. Wenn nichts geschieht, laufen wir Gefahr, diesen Vorteil zu verspielen.

Appelle nützen nichts, wir brauchen Aktionen und wir müssen einen Gesinnungswandel herbeiführen. Und um diesen zu bekommen, müssen wir eine Bewußtseinsveränderung aller Beteiligten erzeugen, und dazu gehört, daß wir alle klar sagen, was wir wollen. Hier haben die Wirtschaftsführer eine besondere Verantwortung.