Zu viele IT-Projekte sind "Schwarze Schwäne"

16.09.2011
IT-Projekte sind weitaus öfter zum Scheitern verurteilt als andere Vorhaben. McKinsey spricht von "Schwarzen Schwänen" und empfiehlt zu modularisieren.

Woran denken Sie beim Begriff "Schwarzer Schwan"? An einen idyllischen Teich? An die Oscar-prämierte Leistung der Schauspielerin Natalie Portman? Oder die Wuppertaler Dichterin Else Lasker-Schüler, die sich selbst gern so bezeichnete? Der Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb bezeichnet als "Black Swan" ein seltenes und unvorhersehbares Ereignis, das eine unverhältnismäßig große negative Wirkung hervorruft.

McKinsey und die Saïd Business School der University of Oxford haben sich diesen Begriff ausgeliehen und verwenden ihn für ein Projekt, das sein Budget um mindestens 200 Prozent überzieht und 70 Prozent mehr Zeit kostet als geplant. Nach der statistischen Wahrscheinlichkeit ist das die absolute Ausnahme: Analysten und Wissenschaftler haben eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 0,7 Prozent ausgerechnet.

Aber die Gesetze der Normalverteilung gelten offenbar nicht für Projekte im Umfeld der Informationstechnik. Dort ist es 30 Mal wahrscheinlicher, dass ein Projekt komplett aus dem Ruder läuft: Zwölf bis 18 Prozent der IT-Vorhaben sind "Schwarze Schwäne", so haben die Management-Beratung und die renommierte Hochschule in einer langjährigen Untersuchung von rund 1500 Projekten herausgefunden.

Der Durchschnitt besagt wenig

Seit vier Jahren arbeitet McKinsey mit dem Lehrstuhl von Professor Bent Flyvbjerg zusammen: Der Oxford-Professor hat eine "Reference Class Forecasting" genannte Methode zur Risikovorhersage in Projekten entwickelt, die sich vor allem in Großbritannien und Dänemark durchgesetzt hat: Dort ist sie für alle öffentlichen Projekte im Infrastrukturbereich verbindlich, sagt Jürgen Laartz, Director im Business Technology Office von McKinsey. Flyvbjergs Arbeit gab denn auch den Anstoß zu der Studie.

Die überwiegende Mehrzahl der untersuchten Projekte bewegt sich kostenmäßig im "Normalbereich", den McKinsey zwischen minus 50 und plus 80 Prozent des veranschlagten Budgets ansiedelt. Der Durchschnitt liegt bei einer Budgetüberschreitung von "nur" 27 Prozent der Kos-ten. "Da sollte man meinen, dass alles in Ordnung wäre", macht sich Laartz zum Advocatus Diaboli.

Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass jedes sechste der untersuchten Projekte kostenmäßig im "Fat Tail" der Statistik landet. So genannt, weil sich die Gesamtkosten dieser Vorhaben in vielen Fällen auf das Vier- oder sogar Sechsfache des ursprünglich angesetzten Budgets beliefen. Damit stellen sie ein schwer kalkulierbares Risiko dar, das ein Unternehmen leicht aus dem Markt werfen kann, so McKinsey.

Ein Projekt, das um mehr als die Hälfte unter den Plankosten bleibt, gilt übrigens auch als Schwarzer Schwan. Unerwartet geringe Kosten sind auf den ersten Blick positiv. Doch schnell werden die negativen betriebswirtschaftlichen Folgen sichtbar. Eine solche Diskrepanz weist nicht nur auf eine schlechte Planung hin. Vielmehr lassen sich die niedrigen Kosten oft darauf zurückführen, dass Abstriche hinsichtlich der "Benefits" gemacht wurden, sagt Laartzt. Auf jeden Fall werden Mittel gebunden, die wirkungsvoller eingesetzt werden könnten.

Vier Schwarze Schwäne

Schwarze Schwäne tauchen in vier unterschiedlichen Gestalten auf:

1) Der "frühe" Schwarze Schwan erlebt die Kostenexplosion bereits in der Spezifizierungsphase. Dieser Anstieg kann auch im Projektverlauf nicht mehr aufgefangen werden. Aus Sicht von McKinsey wäre es sinnvoll, hier sofort die Reißleine zu ziehen: "Aber kaum jemand hat den Mut, diese Projekte in einem derart frühen Stadium zu canceln", weiß Laartz.

2) Der "typische" Schwarze Schwan macht sich erst in der Designphase bemerkbar. Dort steigen die Kosten durchschnittlich um das Dreifache des geplanten Budgets, bleiben aber in der Folge stabil. Das bedeutet am Ende immer noch exorbitante Überschreitungen um die 300 Prozent.

3) Das "umgedrehte hässliche Entlein" heißt so, weil es am Anfang hübsch aussieht. Erst in der Entwicklungsphase offenbart sich, dass anfangs nicht sauber gearbeitet wurde - beispielsweise dann, wenn sich Randbedingungen ändern oder die Integration in die IT-Umgebung ansteht.

4) Der "verhungernde" Schwarze Schwan ist der Projekttyp, der unter Budget bleibt - aber nur, weil die angepeilten Ziele kontinuierlich verringert werden. So ergibt sich trotz der günstigen Kostenentwicklung ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Warum IT-Projekte unberechenbarer sind als andere Vorhaben, mag auch Laartz nicht eindeutig begründen. Möglicherweise kämen hier verstärkt die beiden am weitesten verbreiteten Ursachen für Fehleinschätzungen zum Tragen. Die seien:

• übertriebener Optimismus aufgrund einer interessengeleiteten Darstellung des Projekts ("Optimism Bias"); dieser Fehler lässt sich mit einer unabhängigen Risikoeinschätzung wie dem "Reference Class Forecasting" korrigieren.

• mangelnder Fokus auf die strategischen Ziele ("Strategic Misrepresentation"); das führt dazu, dass im Projektverlauf Änderungen vorgenommen werden, die den Nutzen des Vorhabens schmälern.

Weitere Besonderheiten von IT-Projekten liegen auf der technischen Seite. Dazu gehören Unwägbarkeiten in der Implementierungsphase.

Nicht einmal die Betrachtung der Best-in-Class-Projekte hilft bei der Ursachenforschung sehr viel weiter: Auch von den IT-Vorhaben, in denen fast alles richtig gemacht wurde, endete jedes zehnte im "schwarzen" Bereich.

Size doesn`t matter that much

Seit den 90er Jahren beschäftigen sich die Berater und Analysten mit der Frage, was signifikante Budgetüberschreitungen verursacht und wie sie sich vermeiden lassen. Zum Ende des vergangenen Jahrhunderts galt die von Capers Jones aufgestellte These, dass die Wahrscheinlichkeit der Bruchlandung mit der Größe des Projekts wachse. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die Standish Group später in ihrem "Chaos Report".McKinsey ist anderer Ansicht. Laartz zufolge können die Unternehmen heute Projekte modularisieren: "In der Folge haben sich die Risikoprofile von großen und mittleren Projekten angenähert." Entscheidend sei nicht der Umfang, sondern die benötigte Zeit: "Je länger ein Projekt dauert, desto höher ist das Risiko eines Cost Overrun."

Folglich besteht eine Maßnahme zur Risikoverminderung darin, statt eines Drei-Jahres-Projekts lieber drei Ein-Jahresprojekte umzusetzen. Das hat diverse Vorteile:

• Es gibt mindestens drei feste Abschlusstermine. Noch besser ist es, pro Jahr mehrere Meilensteine zu vereinbaren.

• Es ist einfacher, die Interdependenzen zu überblicken. Viele Vorhaben scheitern, weil sich die Implementierung nicht in das Umfeld einbetten lässt.

• Es existieren bessere Möglichkeiten der Nachsteuerung.

• Last, but not least schaffen Langzeitprojekte quasi ein Unternehmen im Unternehmen. Deshalb sollten Projekte besser auf Jahresbasis ausgeschrieben werden.

Der Business-Plan ist oft Makulatur

Ein Handicap der meisten Projekt-Management-Strukturen ist das fehlende "Inkasso" des Projektnutzens. Zwar formulieren die Projektverantwortlichen einen Business-Plan, um ihre Vorhaben zu rechtfertigen. Doch der gerät schnell in Vergessenheit. Nur jedes fünfte Unternehmen gleicht Projektergebnis und Business-Plan auch im Verlauf des Vorhabens und hinterher ab. Dazu Laartz: "Wenn man diesen Punkt aus dem Auge verliert, trifft man leicht die falschen Entscheidungen."

Nach Auffassung von McKinsey sollte es einen "Owner" für die Wertbetrachtung der IT geben. Aber da diese Position zwangsläufig an der Schnittstelle zwischen Business und IT angesiedelt ist, fühlt sich häufig keine Seite dafür zuständig.

von Karin Quack