Ziel für die 90er Jahre: wie ein Bienenstock zu werden

15.06.1990

David Gordon, Chief Executive der Economist Group, London*

Im Jahr 2000 wird mein kleiner Sohn 20 Jahre alt sein. Er sitzt neben mir, während ich diesen Artikel schreibe. Was die Technik angeht, sind wir beide von gestern. Ich schreibe mit einem altmodischen Füllfederhalter, weil ich zu Worten einen persönlicheren Kontakt habe, wenn ich sie - mit einem herrlich geformten deutschen Lamy - formuliere. Mein kleiner Sohn hingegen hat eher das Gefühl, etwas vollbracht zu haben, wenn er seine Geschichte über einen Dinosaurier, der in einer Zeit der "Dühre" geboren wurde (seine Rechtschreibung hält noch nicht mit seiner Phantasie Schritt), in eine Schreibmaschine reinhämmert. Allerdings hat er sich jetzt zurückgezogen und klagt darüber, daß seine Finger weh tun. Als nächstes wird er wohl um Erlaubnis bitten, das Textverarbeitungssystem benutzen zu dürfen. Im Jahr 2000 wird er womöglich seine Stimme gebrauchen (was ich nicht hoffe, weil wir beide dann nicht mehr zusammen arbeiten können).

Die Technik muß sich der Phantasie unterordnen: Das ist ein ganz wichtiger Leitsatz. Die 90er Jahre könnten ein Zeitalter außergewähnlicher Kreativität werden. Unternehmen, die sie richtig in den Griff bekommen, werden wachsen und gedeihen. Solche, die bürokratisch und übertrieben diszipliniert weitermachen und sich zwanghaft an Mitteln und nicht an Zielen orientieren, werden sterben.

1989 war das revolutionärste Jahr in der Geschichte der vergangenen 200 Jahre. Die politischen Ereignisse werden ganze Wellen von Euphorie, Konfusion, Experimenten, Enttäuschung, Depression und Konflikt entfesseln. 40 Jahre lang ist es im Westen Europas friedlich und phantasielos zugegangen, während der Osten niedergehalten in einer Stagnation lebte. Nun ist es in Europa plötzlich spannend geworden. Es werden wieder große Fragen gestellt: Wie werden funktionierende Demokratien geschaffen oder, in einigen wenigen Fällen, erneuert? Welche politischen Konzepte schaffen Wohlstand? Welche Form wird die Sowjetunion annehmen? Was ist eine Nation? Wie wird ein vereintes Deutschland seine Muskeln gebrauchen? Geht Europa in Richtung Integration oder Desintegration? Wird Europa - nach dem Niedergang Japans - die übernächste Supermacht? Spielt diese Frage überhaupt eine Rolle, da globale Unternehmen bis dahin die Idee nationaler oder regionaler Souveränität möglicherweise verwässert haben?

Fragen zu Geschichte, Politik, Ökonomie und Geschäftsleben, die nicht nur in akademischen Zirkeln, sondern auch auf der Straße und in den neuen, noch unentwickelten Parlamenten im Osten gestellt werden. Es fällt schwer, nicht optimistisch zu sein. Die Reformer geben zu, daß der Kommunismus in allen entscheidenden Tests - Freiheit, materieller Wohlstand, geistige Zufriedenheit - durchgefallen ist. Das Fernsehen, der Vorläufer der informationstechnologischen Revolution, erwies sich als Verbündeter des Wandels. Es trug dazu bei, daß die Bevölkerung von den Regierungen nicht länger jahraus, jahrein zum Narren gehalten werden konnte. In solchen Zeiten wäre es eine Überraschung, wenn der Wettbewerbsvorteil des Menschen, die Phantasie, nicht zum Zuge käme.

Vor allem auf der betrieblichen Ebene stellt sich die Frage, wie die Phantasie befreit werden kann. Unternehmen sind heute die maßgebliche Institution der sozialen Organisation. Sie übernahmen von der Armee das Wettbewerbsdenken, vom öffentlichen Dienst die Verwaltung, von der Kirche die Hierarchie und das Engagement. Gleichzeitig regiert für die meisten Menschen in den meisten Unternehmen die meiste Zeit Langeweile.

Der Wunsch nach Freiheit, wie er sich auf den Straßen Europas und Chinas kundtut, wird seinen Widerhall in unseren einfallslosen Unternehmen finden. Es sei denn, wir können dem Einzelnen stärker gerecht werden.

Das bedeutet nicht, daß Unternehmen nun zu Brutstätten autonomer Unternehmenseinheiten werden - obgleich es mehr und mehr kleine Unternehmen geben wird. Wer in der Geschäftswelt Großes erreichen will, braucht nach wie vor die Ressourcen Geld, Organisation, Forschung, große Unternehmen. Daß riesige, phantasielose Unternehmen scheitern, bedeutet nicht, daß die Schaffung kleiner und interessanter Unternehmen die einzig mögliche Lösung darstellt. Japanische Unternehmen haben gezeigt, wie der intelligente Unternehmensriese Weltmärkte erobern kann.

Man gehe in ein japanisches Büro, in dem in einem riesigen Saal Reihen von Managern für die Informationsverarbeitung Abteilungsdirektoren gegenübersitzen, und man versteht, warum japanische Unternehmen so ungeheuer schlagkräftig sind. Für annähernd 40 Jahre werden diese Menschen ihrem Unternehmen die Treue halten. Sie eignen sich Wissen an und lassen andere auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, die ebenso loyal, engagiert und unverrückbar ein gemeinsames Ziel vor Augen haben, daran teilhaben. Nur wenige westliche Unternehmen haben diese Fähigkeit des japanischen Unternehmens, wie ein Bienenstock zu werden.

Einige Japaner sehen den potentiellen Wettbewerbsnachteil ihres Landes darin, daß "der Nagel, der hervorsteht, eingeschlagen wird ". Der Wettbewerbsvorteil Europas sollte sein Individualismus sein.

Die Verbindungslinien zwischen dem kreativen Einzelnen und dem mächtigen Unternehmen, in dem er oder sie arbeitet, werden durch Werte, Ziele und ein gemeinsames Bewußtsein gebildet, das von einer ehrgeizigen internationalen Strategie getragen wird. Informationstechnologien werden für Unternehmen zu dem herausragenden Mittel, um dem einzelnen ein Höchstmaß an Freiheit einzuräumen. Gleichzeitig liefern sie Integrationsmechanismen, Orientierungen und einen intelligenten Kurs, was allein ihre Existenz rechtfertigt.

Ich denke, es zeugt nicht von Ideenreichtum, in Informationstechnologien den Rohbau für das anpassungsfähige Unternehmen zu erblicken. Natürlich sind Informationstechnologien noch vieles andere - häufig sind sie auch der zentrale Ausgangspunkt für einen Wettbewerbsvorsprung. Doch Anfang 1990, auf dem Höhepunkt der Revolution in ganz Europa und in Gegenwart eines schöpferischen Zehnjährigen, scheint es angebracht, Informationstechnologien in einem eher romantischen Licht zu sehen, nämlich als Füllfederhalter des phantasievollen Unternehmens.