Dokumenten-Management

Zerfaserter Markt - verunsicherte Anwender

18.02.2000
Die Meinungen zu Dokumenten-Management sind geteilt. Wird die Disziplin eigenständig bleiben, in Knowledge-Management übergehen oder von Basistechniken der übrigen Softwarelandschaft aufgesogen?Die Anwender sind verunsichert.Von Ulrich Kampffmeyer*

Obwohl noch nicht alle Folgeerscheinungen des Jahr-2000-Problems abgeklungen sind, ist es nunmehr Zeit, die Prognose des Aufschwungs von Dokumenten-Management-Technologien zu überprüfen. Der Branche war von allen Analysten vorausgesagt worden, dass nach Euro und Y2K der eigentliche Boom erst beginnt. In den vergangenen zwölf Monaten waren zahlreiche Projekte zu den Themen Archivierung, Dokumenten-Management und Workflow zurückgestellt worden. Nun haben die Berater, Systemintegratoren und Hersteller hohe Erwartungen.

Betrachtet man jedoch die Welt aus Anwendersicht, ist festzustellen, dass sich die Schwerpunkte inzwischen verschoben haben. Vielerorts wurden in den vergangenen Monaten SAP-Produkte, "Outlook" mit "Exchange" oder "Notes/Domino", eingeführt. Viele Aufgaben des Dokumenten-Managements lassen sich auch in diesen Umgebungen umsetzen - allerdings vielleicht nicht so komfortabel und professionell.

Der Bedarf an eigenständigen Dokumenten-Management-Lösungen mit eigener Client-Oberfläche ist offenbar erheblich gesunken. Gerade in größeren Unternehmen, die eine Vielfalt von Softwareprodukten einsetzen, ist der Gedanke an eine weitere Benutzeroberfläche zur Verwaltung von Dokumenten und Prozessen eher verpönt. Die Anforderungen zielen stattdessen auf Integration der Funktionalität. Gefordert sind Komponenten des "Enabling" und Server-basierte Engines, die im Hintergrund ihre Arbeit erledigen. Besonders deutlich wird dies bei der elektronischen Archivierung, beim klassischen Dokumenten-Management und beim Workflow.

Archivsysteme sind inzwischen weitgehend als nachgelagerte Dienste konzipiert. Der Anwender sieht von ihnen vielleicht noch eine Indizierungs- und Recherchemaske, eine Hitliste und einen Viewer. Der Rest der Funktionalität verbirgt sich in einer Anwendung, mit der er ständig arbeitet. Deutlich wird dies zum Beispiel beim Archivierungskonzept von SAP, wo die R/3-Anwendung die Dokumente an das Archiv übergibt und bei einer Suchanfrage dort auch wieder abholt - der Anwender bleibt immer in der geschlossenen Softwareumgebung von SAP und weiß in der Regel noch nicht einmal, dass bestimmte Informationen vom Archiv bereitgestellt werden.

Ähnlich verhält sich dies beim klassischen Dokumenten-Management mit seinen Funktionen wie Checkin/Checkout, Versionierung und strukturierter Dokumentablage. Längst bedrohen Kombinationen wie Domino mit "Domino.doc" oder Outlook mit direkt eingebundenen Produkten die eigenständigen Dokumenten-Management-Lösungen. Auch wenn hoch entwickelte Produkte zusätzliche Funktionalität wie das komplette Output-Management für digitale Publikationen mitbringen, viel Platz für nur oberflächlich integrierte Produkte, die "mal eben" E-Mail, Winword und Excel einbinden, ist nicht mehr vorhanden.

Funktionalität geht in anderen Applikationen aufAuch Workflow ist von dieser Entwicklung betroffen. Drei Trends machen den traditionellen Anbietern vor allem zu schaffen. Zum einen wird immer mehr Workflow-Funktionalität in kaufmännische Anwendungen und andere Applikationen integriert. Hier kommen eingekaufte Workflow-Engines zum Einsatz, viele Anbieter entwickeln jedoch die Komponenten selbst. Zum anderen entwickelt sich E-Mail im Domino- und Outlook-Umfeld zum Ad-hoc-Workflow weiter. Einfache Abläufe lassen sich mit Standardmitteln konfigurieren, und es entfällt der Aufwand für die Definition einer vorgegebenen Workflow-Steuerung. Zum Dritten wird Workflow eine der wichtigsten Komponenten im E-Business. Hinter den einfachen Formularen auf Websites liegen komplexe Ablaufmodelle, die mit Internet-basiertem Workflow verarbeitet werden.

Betrachtet man unter diesen Voraussetzungen die geschätzten Marktzahlen, reduziert sich einerseits das Potenzial für die klassischen Technologien, andererseits weitet sich der Markt durch die Integration von Document-related-Technologies in andere Anwendungen aus.

Die Vielfalt der Begriffe lässt kein einheitliches Bild zu. In Anbetracht einer zunehmenden Überschneidung und Integration der verschiedenen Dokumenten-Management-Technologien werden heute unter Dokumenten-Management im weiteren Sinne Document Imaging und elektronische Archivierung, unter Dokumenten-Management im engeren Sinne E-Forms, Output-Management, Bürokommunikation (Office-Pakete), Scanning, Groupware oder Workflow verstanden. Die Liste ließe sich beliebig um Begriffe wie Multimedia-Datenbanken, Document Warehouses oder Knowledge-Management ergänzen. Eine Abgrenzung oder Zuordnung fällt jedoch bei der Kreativität der Produkt- und Marketing-Manager immer schwerer.

Studien in diesem Bereich entbehren häufig einer ausreichenden Stichprobe in Bezug auf Regionen, Marktsegmente und Branchen. Für Europa lassen sich daher nur vage Schätzungen abgeben. Richtig ist, dass Dokumenten-Management einer der am schnellsten wachsenden Teilmärkte der Informations- und Kommunikationsbranche ist, jedoch im Vergleich zu den Entwicklungen im Internet-Umfeld und der Kombination von IT- und Kommunikationstechnologien weit zurückliegt. Die Studien der AIIM International zusammen mit der Gartner Group prognostizieren für Europa eine jährliche Umsatzsteigerung bei Dokumenten-Management-Technologien von rund 25 Prozent - dies bedeutet aktuell zwischen 1998 und 2000 eine Steigerung von rund vier Milliarden auf mehr als sechs Milliarden Euro und zwischen den Jahren 2000 und 2003 eine Steigerung auf etwa elf Milliarden Euro. Ein Großteil dieser Budgets wird jedoch von Unternehmen aufgesaugt werden, die bisher nicht zur Dokumenten-Management-Branche gerechnet werden.

So spezialisieren sich die Anbieter von traditionellen Dokumenten-Management-Technologien inzwischen auf vertikale Märkte: Call-Center-Lösungen, Supply-Chain-Management, Lösungen für Krankenhäuser oder Verwaltungen, Steuerung des Output-Managements, Verwaltung hochkomplexer Dokumentationen in der Pharmaindustrie etc. Andere Module setzen auf Komponenten wie Enabling-Komponenten, Sub-Systeme oder Engines. Sie bieten diese anderen Softwarefirmen zur Integration an.

Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die unterschiedlichen Produktstrategien der Hersteller, ergeben sich interessante Erkenntnisse über die weitere Marktentwicklung.

Einen großen Einfluss hat hier die so genannte Portfoliostrategie, deren Ziel es ist, möglichst alle Komponenten von Document-Management und Document-related-Technologies aus einer Hand zu liefern - mit noch unterschiedlichem Erfolg: Die drei vollständigsten Pakete sind bei IBM, Filenet und SER zu finden. IBM hat neben der "EDM Suite" besonders durch Lotus Domino mit dessen erweiterter Funktionalität alle benötigten Komponenten im Angebot, um sowohl Host-basierte, Client-Server-orientierte als auch moderne Internet-Lösungen bis zum Enterprise-Portal bereitzustellen. Filenet führt mit "Panagon" und der Integration der in den 90er Jahren aufgekauften Technologien ebenfalls fast alles im Sortiment. Es fehlen jedoch noch Komponenten für Content-Management und automatische Klassifikation. SER hat sich durch eine aggressive Aufkaufstrategie alle benötigten Einzelteile zusammengestellt. Hier bleibt eher abzuwarten, wie die Integration von Workflow, Knowledge-Management, Content-Management, Archivierung etc. vonstatten gehen wird.

Für den Fall, dass andere namhafte Unternehmen wie Ixos, Easy, Tower und CE ebenfalls eine konsequente Portfoliostrategie verfolgen, sind weitere Firmenaufkäufe unvermeidlich. Ixos hat sich von der SAP-Archivierung in Richtung unternehmensweite Archive, Web-Portals und Content-Management weiterentwickelt. Workflow und automatische Klassifikation wären sinnvolle Beigaben. Easy fehlen ebenfalls noch eine Workflow-Komponente sowie Internet-basierte Technologien. Der Firma Tower stünden Ergänzungen im Internet-Umfeld ebenfalls gut zu Gesicht. CE hat sich nach wie vor im Bereich Archivierung und Dokumenten-Management platziert. Auch hier wären Internet-Technologien sowie Funktionen für automatische Klassifikation und Workflow mögliche Zugaben. Man kann davon ausgehen, dass zur CeBIT 2000 die nächste Übernahmewelle rollt.

Zusehends schwerer haben es die Single-Product-Companys, also Firmen, die nur ein Produkt besitzen oder nur in einer Produktkategorie vertreten sind: Kaufhungrige AGs haben gerade sie im Visier. Von einer Übernahme bedroht sind derzeit vor allem die Lieferanten von Spezialsoftware-Komponenten wie Enterprise-Portals, Internet-Workflow-Engines, automatische Klassifikation, Telekommunikationsanbindung oder digitale Signatur.

Chancen auf ein eigenständiges Wachstum haben dagegen die Anbieter von innovativen Produkten etwa zur direkten Integration von DMS in das Betriebssystem oder Dokumenten-Management für Internet-Portals. Hier ist jedoch ausschlaggebend, wie schnell und in welchem Umfang eine Marktdurchdringung erreicht werden kann. Aussichtsreich sind auch Ansätze, fehlende Funktionalität direkt in Standardprodukte wie Notes oder Outlook zu integrieren.

Viele der Single-Product-Companys suchen daher häufig ihr Heil in Partnerkonzepten, vertreiben ihre Software als OEM-Version an andere Unternehmen (der Name des ursprünglichen Produkts ist dann für den Endkunden nicht mehr sichtbar) oder wechseln in das Lager der Systemintegratoren. Vor allem Letzteres ist Erfolg versprechend, da es in der gesamten Branche an qualifiziertem Personal fehlt. Die Anbieter nutzen ihr eigenes Produkt nur noch als integrative Komponente und holen sich die fehlenden Technologien durch Kooperationen mit anderen Herstellern ins Boot.

Für Anwender wird es zunehmend schwieriger, sich für die richtige Produktstrategie zu entscheiden, denn auch die so genannten Mergers & Acquisitions sichern nicht das Überleben der Produkte oder ihrer Hersteller. Die Risiken dieser Zusammenschlüsse bestehen in einer Fehleinschätzung der unterschiedlichen Firmenkulturen, des Werts der aufgekauften Firmen, der Produkte und Marktsegmente oder im Weggang wichtiger Mitarbeiter, die das Humankapital des Unternehmens darstellen.

Nicht leichter als bei der Beurteilung der Hersteller hat es der Anwender mit der Einschätzung von Softwaretrends. Hier wird ihm von allen Seiten der Weg hin zum Knowledge-Management gewiesen, das von vielen Analysten als natürlicher Nachfolger von Dokumenten-Management betrachtet wird. Der Begriff ist schillernd: Umstritten ist insbesondere, ob sich das intuitive Wissen mit technischen Mitteln überhaupt erschließen lässt. Hat man sich gerade an den Begriff "Knowledge-Management" gewöhnt, da taucht in den Produktbeschreibungen zahlreicher Anbieter innerhalb und außerhalb der Branche bereits das nächste Schlagwort auf: Content-Management.

Wie viele neue Softwarekategorien ist auch Content-Management mit den unterschiedlichsten Bedeutungen und Inhalten belegt. Geboren wurde Content-Management aus dem Anspruch, im Internet alle möglichen Inhalte verwalten und recherchieren zu können. Erste Content-Server zielen daher auf die Verwaltung von Web-Pages, E-Mails oder Dokumenten-Repositories. Vielerorts wurden auch herkömmliche Dokumenten-Management- und Archivlösungen einfach zu Content-Management-Services umdefiniert, um vermeintlich neue Produkte am Markt zu platzieren. Es ist jedoch nicht richtig, Content-Server einfach mit herkömmlichen Speicher- und Verwaltungssystemen gleichzusetzen. Durch die Form und den Inhalt der Informationen, die mit Content-Servern verwaltet werden sollen, ergeben sich neuartige Anforderungen, die bisherige Dokumenten-Management-, Records-Management- und Archivlösungen nicht erfüllen.

Die Architektur herkömmlicher Lösungen in diesem Umfeld basiert auf einem Referenz-Datenbankmodell. Dies bedeutet, dass die Suchinformationen und Pointer in einer Index-Datenbank im eigentlichen, separat gehaltenen Dokumenten-Repository verwaltet werden. Besonders im Bereich der Archivierung ging man davon aus, dass die Dokumente relativ statisch sind und sich als singularisierte Einzelobjekte ohne weitere Beziehungen untereinander speichern lassen. Grund für diese Architektur war häufig das Performance- und Mengenproblem. Die Index-Datenbank wurde relativ schmal gehalten, um große Mengen von Objekten verwalten zu können.

Besonders durch die Anforderungen von dynamischen Dokumenten auf Basis von HTML(Hypertext Markup Language) und XML (Extensible Markup Language) sowie durch die Speicherung von Nachrichten und schwach strukturierten Informationen, die keinen ausgeprägten Dokumentcharakter haben, sind grundlegende Veränderungen in der Architektur notwendig:

-Der Anwender möchte nicht mehr nur über die in der Index-Datenbank gespeicherten Attribute suchen, sondern im Dokumentinhalt selbst.

-Dokumente und Informationen besitzen dynamische Verbindungen, zum Beispiel verweisen sie als URL auf andere Dokumente.

-Die Mitführung von Metadaten beim Dokument wird immer wichtiger, um die Information im Internet und offline sichern und bearbeiten zu können.

-Die Dokumente und ihre Repositories besitzen eigene Strukturen, die sich mit dem Konzept der Index-Referenzdatenbank nicht mehr effektiv verwalten lassen.

All diese und eine Reihe weiterer Anforderungen machen die Konzeption neuartiger Speicher- und Verwaltungssysteme erforderlich. Um eine Unterscheidung von herkömmlichen Dokumenten-Management- und Archivsystemen zu ermöglichen, ist es daher sinnvoll, den Begriff "Content-Management" oder "Content-Server" auf die neuartigen, Web-orientierten Lösungen einzugrenzen. Der Bedarf an solchen Systemen steigt durch E-Commerce und E-Mail sowie aufgrund der Bereitstellung von Informationen in Intra-, Extra- und Internet ständig. Herkömmliche Dokumenten-Management-Lösungen, die sich nur an Client-Server-Architekturen, an dem Referenz-Datenbankmodell und herkömmlichen Dokumenttypen orientieren, werden keinen großen Markt mehr finden, wenn der Content-Server mit einem universelleren Konzept gegen sie antritt.

Die elektronische Archivierung wird sich bei großen Datenmengen und dort, wo Revisionssicherheit und Unveränderbarkeit von Dokumenten gefordert ist, dagegen langfristig behaupten können. Dieses Marktsegment ist jedoch relativ beschränkt, und die Thematik wird in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark forciert.

Eine wesentliche Komponente von offenen Content-Management-Lösungen wird die Nutzung von standardisierten Schnittstellen und Dokument-Beschreibungssprachen sein. Hier kommt zukünftig XML eine spezielle Bedeutung zu. Im Content-Management bietet XML die Möglichkeit, Dokumenteninhalte bis auf die kleinsten Inhaltskomponenten aufzubrechen und ihren logischen Zusammenhang anhand einer Baumstruktur zu hinterlegen. Es bleibt jedoch unter anderem abzuwarten, ob XML dies nutzen können wird, um auch weniger gut strukturierte Informationen zu fassen. Das wird eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Nutzung von XML in Content-Management-Systemen sein. Bisherige Dokumenten-Management-Technologien, die für das Client-Server-Umfeld entwickelt wurden, verlieren in diesem Umfeld an Bedeutung.

* Dr. Ulrich Kampffmeyer ist Geschäftsführer der Project Consult Unternehmensberatung GmbH, Hamburg, sowie einer der Direktoren der Association for Information and Image Management International (AIIM) Europe.

FacettenDurch die Neudefinition von Dokumenten-Management als Infrastruktur ergibt sich ein wesentlich breiteres Einsatzspektrum als in der Vergangenheit. Hierfür hat sich inzwischen der Begriff Document related Technologies (DRT) eingebürgert. Unter DRT werden die Bereitstellung von Komponenten für die folgenden Anwendungsbereiche verstanden:

- Internet, Intranet und Extranet,

- traditionelles Document-, Workflow- und Knowledge-Management,

- E-Commerce und digitale Signatur,

- Document Input, Distribution und Storage,

- OCR, ICR und Pattern Recognition,

- Datenbanken, Data Warehouse und Retrieval Engines,

- Imaging und Multimedia,

- Archiv- und Records-Management,

- Secure Communication und Unified Messaging,

- Groupware und Office Solutions,

- Forms- und Output-Management,

- Middle- und Componentware sowie

- Content-Management und -Distribution.

Abb.1: DMS-Umsätze

Die DMS-Branche hat 1999 in Deutschland 774 Millionen Dollar umgesetzt. Quelle: AIIM/Gartner Group

Abb.2: Was wird meistens unterstützt

Dokumenten-Management-Techniken automatisieren eine Vielzahl von Geschäftsprozessen - allen voran die Verwaltung von Archiven. Quelle: AIIM/Gartner Group