XOpen-Gruppe fühlt sich zum Abwarten verurteiltDringende Entscheidungen werden dem Markt überlassen

07.09.1990

Die Aufmerksamkeit aller Standardisierungswilligen richtet sich auf die X/Open-Gruppe, doch die Organisation für offene Systeme ist mit sich selbst beschäftigt. Bei den Behörden und in der Industrie gelten Richtlinien des Gremiums fast ebensoviel wie hochoffzielle Normen. Doch gerade dieses Prestige hat zur Folge, daß X/Open heute mit Erwartungen konfrontiert wird, mit denen sich die Gruppe überfordert sieht. Inzwischen wird ihr von Anwendern immer häufiger Entschlußlosigkeit vorgeworfen. Die COMPUTERWOCHE-Redakteure Hermann Gfaller und Heinrich Vaske haben George Shaffner, Leiter Marketing & Operations von X/Open, gefragt, inwieweit diese Kritik gerechtfertigt ist.

CW: Welche Rolle spielen die Anwender-Interessen bei X/Open?

Shaffner: Sie wissen, wie bei uns Entscheidungen entstehen. Es gibt das Xtra-Projekt, über das wir versuchen, bei Anwendern und Software-Anbietern die Marktanforderungen zu ermitteln. Weitere Informationen kommen von den Standardisierungsgremien. Die Hersteller zeigen uns dann, welche Technologien verfügbar sind und wir fügen diese Informationen in unseren "Roadmaps" zusammen. Die darauf basierenden Spezifikationen veröffentlichen wir schließlich in unseren XPG-Bänden.

In diesem Prozeß spielen die Anwender eine zunehmend wichtigere Rolle.

CW: Aber im Board of Directors verfügen die Anwender nur über eine Stimme. Ist das nicht zu wenig?

Shaffner: Es gibt Shareholders, die Independent Software-Vendors, die Hardwarehersteller und schließlich die Anwender. Jede dieser Gruppen ist durch Repräsentanten im Board vertreten. Zusammen mit Geoff Morris als Vorsitzendem sind das 24 Mitglieder.

CW: Einem Anwender sitzen also 22 Hersteller gegenüber...

Shaffner: Richtig, das ist nicht viel - aber immer noch einer mehr als in den meisten anderen Organisationen. Die Situation im Board ist interessant: Es ist, als könne ein Schüler unter einer Reihe von Lehrern wählen. Ich will damit sagen, daß die Hersteller sich darstellen müssen, sie müssen zeigen, was sie anzubieten haben. In diesem Sinne ist die Anwesenheit dieses einen Anwenders von entscheidender Bedeutung. Außerdem sind die Hersteller, die bei uns im Board sitzen, aufgeschlossen für offene Systeme.

CW: Aber das scheint den Anwendern nicht zu reichen. Obwohl sie immer wieder auf eine Entscheidung in Sachen Unix-Benutzeroberflächen gedrängt haben, konnten sie offensichtlich nichts bewegen.

Shaffner: Richtig, wir haben uns hierzu noch nicht geäußert und natürlich wäre das anders, wenn das Verhältnis zwischen Anwendern und Herstellern zwölf zu zehn stünde. Aber wenn wir uns entscheiden, dann garantiert nicht gegen die Wünsche der Anwender. Auf der an deren Seite müssen wir berücksichtigen, daß eine solche Entscheidung auf Herstellerseite Dollar-Investitionen in Milliardenhöhe zur Folge hat.

CW: Das schafft aber nicht den Wunsch der Anwender nach einem Oberflächenstandard aus der Welt.

Shaffner: Wir sind eine Organisation, die Standards spezifiziert und veröffentlicht, keine, die Standards schafft.

CW: Das mag für die Vergangenheit richtig gewesen sein. Aber der Erfolg hat X/Open im vergangenen Jahr de facto zu einer Organisation gemacht, von der die gesamte Branche erwartet, daß sie durch das Festlegen von Standards Zeichen in Richtung offener Systeme setzt.

Shaffner: Sie haben recht. Dieser Wandel ist die wichtigste Sache in der Geschichte von X/Open und wir haben diesen Rollenwechsel noch nicht bewältigt. Was wir bisher gemacht haben, war leicht. Cobol gibt es seit 1959 und Unix seit 1968. Hier Standards zu spezifizieren war kein Problem.

Die Produkte aber, über die wir jetzt zu entscheiden haben, existieren kaum. Hier stehen die grafischen Benutzerschnittstellen an alleroberster Stelle. Und nach diesem Thema wird es um Funktionsaufrufe über große Distanzen gehen. In keinem der beiden Fälle können wir auf Produkte zurückgreifen, die sich am Markt durchgesetzt haben. Auf welcher Grundlage sollten wir sagen: Das ist der Standard.

CW: Und wie reagieren sie auf diese Situation?

Shaffner: Wir warten ab. Die Benutzeroberflächen Open Look und Motif sind beide brandneu. Beide Systeme sind heute zu wenig verbreitet, um zu entscheiden, welches langfristig den Markt bestimmen wird. Außerdem ist jetzt mit Windows 3.0 ein weiterer aussichtsreicher Mitbewerber auf den Markt gekommen. Kurz: Wir können nicht unter De-facto-Standards wählen.

CW: Was ist mit X11, der technischen Grundlage dieser Oberflächen?

Shaffner: X11 ist auf dem Weg, ein Standard zu werden. Das ist uns eine große Hilfe - dennoch müssen wir abwarten. Es wäre tödlich für uns, wenn wir uns heute auf einen Standard festlegten, den zum Beispiel IEEE nicht bestätigt. Damit würden wir nicht nur unsere enge Zusammenarbeit mit den Standardisierungsgremien wie IEEE aufkündigen, sondern verlören zudem unsere Glaubwürdigkeit.

CW: Diese abwartende Einstellung hat der X/Open bei den Anwendern allerdings einiges an Ansehen gekostet. Schließlich beruht der Einfluß ihrer Organisation darauf, daß man aus ihren Spezifikationen Investitionsrichtlinien schöpfen kann.

Shaffner: Wir sind keineswegs untätig. Wir haben gemeinsam mit IEEE eine Arbeitsgruppe gebildet, um eine produktunabhängige, sozusagen "virtuelle" Anwendungsentwicklungs-

Schnittstelle zu definieren. Das hat den Vorteil, daß wir uns nicht auf ein vielversprechendes Produkt festlegen müssen, das sich dann vielleicht doch nicht durchsetzt.

CW: Das klingt ein wenig danach, als ob X/Open sich vor einer eindeutigen Entscheidung drückt, um es mit keinem der Anbieter zu verderben.

Shaffner: Das ist nicht wahr. Die Arbeitsgruppe hat die Anweisung, möglichst rasch zu einem Ergebnis zu kommen. So eine Standardisierung ist jedoch ein langwieriger Prozeß.

CW: Aber es stimmt doch, daß ziemlich genau die Hälfte der in X/Open organisierten Hersteller Open Look und der Rest Motif unterstützt?

Shaffner: Ja, aber das zeigt doch gerade, daß es keinen klaren Gewinner gibt. Warum sollten wir ein Produkt dem anderen vorziehen?

CW: X/Open hat die Autorität zu bestimmen, wer das Rennen gewinnt - und genau das ist es doch, was die Anwender erwarten.

Shaffner: Ich weiß das. Gerade deshalb ist unser Verantwortung besonders groß. Stellen Sie sich vor, wir erfüllen diesen Wunsch. Dann würden wir - um ein amerikanisches Sprichwort zu gebrauchen - mit einem Anbieter ins Bett gehen. Das würde unserem Ruf schaden.

Wichtiger ist jedoch, daß sich die Software-Entwicklung auf dieses Produkt konzentrieren würde. Die Entwicklung von Benutzeroberflächen steht erst am Anfang. Jede Entscheidung von unserer Seite würde aber Innovationen bremsen.

Wir könnten damit die gesamte DV-Industrie in eine Fehlentwicklung treiben, wie das bei den amerikanischen Straßenkreuzern geschehen ist. Dort hat die Entscheidung gegen benzinsparende Autos die ganze Branche in eine Krise geführt.

CW: Bedeutet das, daß jene Anwender recht haben, die meinen, ihre Organisation sei an einem Punkt angekommen, an dem sie zur Untätigkeit verurteilt ist und damit ihre Sinn verloren hat?

Shaffner: Ich habe schon gesagt, daß wir vor einer Wende stehen. Die einfachen Aufgaben, die Spezifizierungen vorhandener Standards, liegen hinter uns. Die Spezifierungen von Techniken der Zukunft wird weit schwieriger werden. Konkret beschäftigen wir uns zu Zeit mit verteilten Systemumgebungen und mit Protokollen wie TCP/IP und NFS.

CW: Wenn die Zukunft der Standardisierung zunehmend im Netzwerk-Bereich liegt, wie Sie einräumen, ist dann nicht ein darauf spezialisiertes Gremium wie IEEE mit Posix wichtiger als X/Open?

Shaffner: Der Posix-Standard ist ausgesprochen wichtig. Deshalb wurde er auch in unseren Portability Guide aufgenommen. Wenn jemand die Bedeutung eines Standards wie Posix über die Spezifikationen von X/Open stellt, dann liegt das vermutlich daran, daß er proprietäre Systeme herstellt.

Posix spielt besonders in den USA eine wichtige Rolle, weil dort sämtliche Behörden diesen Standard in ihre Pflichtenhefte geschrieben haben. Und in keinem Land der Welt geben die Behörden soviel Geld für Computer aus wie dort. Auf diese Weise finanzieren sie die Entwicklungen der Firmen.

CW: Wie steht es mit der Unabhängigkeit Ihrer Organisation; was wurde geschehen, wenn ein Unternehmen wie die IBM die X/Open-Gruppe verlassen würde?

Shaffner: Natürlich sind wir auch von den Herstellern abhängig. Wir brauchen ihr Geld und ihre Technologien. Und IBM hat sich bisher Gott sei Dank als echte Stütze erwiesen. Trotzdem sind die Anwender weit wichtiger. Sobald wir deren Wünsche nicht mehr ernst nehmen, sind wir erledigt.

CW: Als Freund offener System ist IBM bisher allerdings kaum in Erscheinung getreten.

Shaffner: Wissen Sie, die IBM- und DEC-Leute, mit denen wir zu tun haben, sind alle aufgeschlossen für offene Systeme, sonst hätten sie keine Interesse an uns. Darüber hinaus wissen die Hersteller aber inzwischen auch, daß sie ihre Schnittstellen auf Dauer nicht geheim halten können.

Der Trend geht dahin, daß der Markt für proprietäre Systeme in die offene Welt eingebunden wird. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Bei uns äußert sich das darin, daß bei unseren Aktivitäten im kommenden Jahr Interoperabilität mit 80 Prozent den Löwenanteil beansprucht. Bisher lag das Hauptgewicht auf offenen Systemen.

CW: Bedeutet das, daß die Entwicklung hin zu offenen Systemen zugunsten der Hardware-Anbieter gebremst wird und X/Open dabei auch noch hilft?

Shaffner: Die Bedeutung der Begriffe "offen" und "proprietary" hat sich geändert. Bisher war es unmöglich, sie in einem Atemzug zu nennen. Durch die Akzeptierung der Posix-Standards und den Trend zur Offenlegung der Schnittstellen verschwindet dieser Gegensatz mehr und mehr.

CW: Vor nicht allzulanger Zeit sind die konkurrierenden Unix-Organisationen Open Software Foundation und Unix International Mitglieder von X/Open geworden. Hat das Ihre Organisation verändert?

Shaffner: Da muß ich vorsichtig formulieren. Das Verhalten der X/Open-Mitglieder ist wie im englischen Parlament. Dort gibt es zwar zwei Parteien, aber jeder Abgeordnete vertritt seine eigenen Ansichten. Deshalb sehe ich die Hauptwirkung der beiden Gruppen weniger innerhalb unserer Organisation.

Aber daß sich beide Konkurrenten für X/Open entschieden haben, hat unser Ansehen nach außen ungemein gestärkt. Außerdem bringen sie erhebliches Know-how und großes Engagement in die Arbeitskreise ein.

CW: Wie sieht die finanzielle Situation von X/Open aus?

Shaffner: X/Open erwirtschaftet mit nur 45 Mitarbeitern immerhin ein ein jährliches Einkommen von 15 Millionen Dollar. Darin spiegelt sich eine weitere Entwicklung innerhalb unserer Organisation. Wir sind aus einer Gruppe von Technikern zunehmend in die Rolle eines kommerziellen Unternehmens hineingewachsen. Aber ich glaube, daß das ganz normal ist.