Web

Thema des Tages

XML: Eine kritische Bestandsaufnahme

22.11.1999
Thema des Tages

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Presse, Hersteller und Anwender reden derzeit über kaum ein Thema so häufig wie über die Extensible Markup Language, kurz XML. Was eigentlich als simple Auszeichnungssprache ("tagging language") begann, hat sich mittlerweile zu einem wichtigen Antriebsmotor für den elektronischen Handel entwickelt - ein Mechanismus für den Austausch von Daten, der auf allen Ebenen der Unternehmensinfrastruktur Einzug hält. Allein im vergangenen Monat haben zahlreiche prominente Anbieter, darunter IBM, Oracle und Microsoft, die XML-Unterstützung in ihren Entwicklungswerkzeugen, Datenbanken und Application-Integration-Frameworks ausgebaut und damit deutlich gemacht, welch große Bedeutung sie dem neuen Standard beimessen.

Allerdings, und so geht es eigentlich jeder neuen Technik, erwachsen nun rund um XML eine Reihe von Fragen und Problemen, die zum größten Teil aus dem unvermeidlichen Wettstreit der Hersteller resultieren, die von dem entstehenden Standard profitieren wollen. Diese hat die CW-Schwesterpublikation "Infoworld" einer genaueren Betrachtung unterzogen. Im Falle von XML geht es dabei um mehr als die reine Definition. Die Sprache als solche beschreibt zunächst einmal nur Daten und erfordert deswegen saubere Formatierung, um in der "wirklichen Welt" einen echten Nutzen zu bringen. Unklar ist aber, wie und wo man XML überhaupt einsetzen soll, und wer - Hersteller, vertikale Industrien oder einzelne Unternehmen - diese Entscheidung diktieren darf.

Phil Costa vom Beratungsunternehmen Giga Group schlägt dazu folgendes vor: "XML muß dort zur Anwendung kommen, wo zwischen heterogenen Systemen oder Organisationen strukturierte Informationen ausgetauscht werden müssen, für die ein strikt kontrollierter Standard nicht funktioniert. Eines der Probleme von XML ist allerdings, daß man es als Low-level-Standard auf praktisch beliebige Probleme anwenden kann. Deswegen probieren die Anwender im Moment aus, wo es überhaupt Sinn macht."

Diesen Bedenken zum Trotz scheint der Siegeszug von XML nicht mehr aufzuhalten. Dazu gilt es allerdings noch einige Löcher zu stopfen, meint Kent Davidson, Mitbegründer und Vice-President des Transaktions-Dienstleisters Receipts.com: "Viele Unternehmen gründen ihr Geschäft schon heute auf XML. Der Sprache fehlen aber noch wichtige Schlüsseltechniken, zum Beispiel in Sachen Sicherheit. Spätestens im ersten Quartal kommenden Jahres rechne ich aber mit einer Fülle neuer Produkte, die diese Lücken füllen. Dann hat XML das Zeug dazu, der Internet-Standard für Business-to-business-Handel im Web zu werden."

Wer übernimmt die Kontrolle?

Ein weiteres Problem von XML ist die Tatsache, daß der neue Standard von vornherein so konzipiert wurde, daß er sich hochgradig erweitern läßt. In Kombination mit der Frage, wie und wo sich die Sprache überhaupt sinnvoll verwenden läßt, befürchten manche Beobachter, daß ihr eine Spaltung drohen könnte.

Zu den prominentesten Versuchen einer möglichen "Besitzergreifung" gehört ohne Zweifel Microsofts "Biztalk", ein Framework zur Erstellung von XML-Schemas, Kernbestandteile einer jeden XML-Implementierung (CW Infonet berichtete). James Utzschneider von der Business Solutions Group der Gates-Company vertritt die Ansicht, daß sich ohne ein solches Framework das Potential von XML gar nicht ausschöpfen läßt. "XML an sich ist keine Lösung, sondern lediglich eine wichtige Zutat für einen weiterreichenden Ansatz", meint Utzschneider. "Was wir wirklich brauchen, ist eine Architektur, mit deren Hilfe man XML-Daten und verschiedene Anwendungen miteinander verknüpfen kann - und das bieten wir mit Biztalk."

Auch wenn sich Microsoft also durchaus Hoffnungen darauf macht, das marktbeherrschende Framework für XML-basierende Lösungen zu liefern, soll Biztalk die praktische Umsetzung von XML beim Anwender wenig beeinflussen. "Unternehmen werden ihre Daten so formatieren, wie sie sie für die Integration und Zusammenarbeit mit Zulieferern brauchen", erklärt Utzschneider. "So läuft das seit 20 Jahren, und das ist eigentlich keine große Sache."

Dror Liwer, Cheftechniker beim New Yorker Web-Integrator Context Integration, hält XML eindeutig für die Sprache der Wahl, wenn es um den Datenaustausch zwischen Unternehmen innerhalb ihrer jeweiligen Branchen geht. Die weitergehende Frage, wer den XML-Standard oder besser "Wortschatz" darüber hinaus definiere, sei allerdings weiterhin offen. Hier, so Liwer, werde die größte Stärke von XML - seine Einfachheit - möglicherweise auch zum zentralen Schwachpunkt. "Von der EDI-Perspektive [Electronic Data Interchange] ist XML noch nicht so weit, und zwar wegen der Ungenauigkeit der Sprache", meint Liwer. "Ein Geschäftspartner mag sich zwar an einen vereinbarten Standard halten, aber der Inhalt [zwischen den Tags] kann trotzdem das falsche Format haben."

Trend zur Vertikalisierung?

Eine Kooperation wie das neue Zulieferernetz, daß der Automobilriese Ford zusammen mit Oracle auf Basis von XML aufbaut (CW Infonet berichtete), deutet auf eine mögliche "Vertikalisierung", also die Ausbildung branchenspezifischer Standards, hin. Jeremy Burton, Vice-President Server-Marketing bei Oracle, weist darauf hin, daß die Initiative Ford durchaus in eine Position bringt, in der der Konzern seinen Zulieferern deren XML-Verwendung diktiert: "Raten Sie mal, was passiert, wenn ein Zulieferer sagt: ´Nein, wir können keine XML-Dokumente im Ford-Format austauschen´ - der macht keine Geschäfte mehr mit Ford."

Software-Anbieter, so Burton, sollten also nicht versuchen, die Standardisierungsgremien direkt zu beeinflussen, sondern statt dessen "Nägel mit Köpfen" machen und in Zusammenarbeit mit führenden Anwenderunternehmen die für deren jeweiligen Markt spezifischen Dokumententypen erstellen. "Die IT-Anbieter kämpfen derzeit um strategische Partnerschaften mit den wichtigsten Playern in der Industrie", erläutert der Oracle-Mann. "Sobald man die richtigen Schwergewichte auf seiner Seite hat, ist man in der Lage, die weitere Entwicklung des Standards zu lenken."

Dem stimmt sogar Jason Maynard zu, Chefentwickler bei der kalifornischen Open-Source-Company Open Avenue. Die Kombination aus führenden Anwendern und Technik-Innovatoren sei vermutlich genau das, was XML jetzt brauche, um sein Potential voll zu entfalten. "Das ist einfach das beste Modell, weil es so am schnellsten geht und nicht die falschen Leute den Job machen", hofft Maynard. "Solange es bei wenigen Variationen bleibt, und die Anbieter den Standard nicht zu sehr im eigenen Interesse vorantreiben, dürfte es für die Endanwender gut ausgehen."

IBM hält sich vornehm zurück

Im Gegensatz zu Maynard betrachtet IBM, in Person von Java- und XML-"Evangelist" Simon Phipps, die Bemühungen der Konkurrenten Microsoft oder Oracle mit Argwohn. Big Blue will sich nicht in die Diskussion darüber einmischen, wie XML-Dokumente im Detail zu formatieren sind. Phipps findet es beunruhigend, wenn Hersteller einen Standard für sich vereinnahmen wollen. "Die Strategie ´embrace, extend and extinguish´ [übernehmen, erweitern und vernichten] ist nicht unbedingt vom Tisch", fürchtet der IBM-Mann.

Phipps sieht nicht die Erweiterbarkeit als größten Pluspunkt von XML, sondern seine "Offenheit für Umformungen". Die verschiedensten Spielarten der Sprache könnten sich deswegen über "Adapter" in Anwendungen miteinander unterhalten. Deswegen würden nicht vertikale oder herstellerspezifische Dokumentenformate, sondern eben diese Transformationen XML als integralen Bestandteil von Business-to-business- Integration und -Austausch vorantreiben. "Man braucht kein Angst vor einer Diversifizierung der Auszeichnungswörter zu haben. Diese ist ohnehin unvermeidlich - Unternehmen sind einfach zu verschieden", erklärt Phipps. "Weil wir mit diesen Unterschieden leben müssen, braucht man starke Umwandlungstechnik. Der Schlüssel zu XML ist nicht Abbildung ["representation"], sondern Umwandlung ["transformation"]."

Fazit: Anwender haben keine Wahl

Bei allen Bedenken sind sich die Experten aber in einem zentralen Punkt einig: Im Gegensatz zu vielen anderen hochgehypten Techniken wird XML letztendlich das halten, was es verspricht - nahtlosen Austausch von Unternehmensdaten. "Es wird immer klarer, daß XML sich auf breiter Front durchsetzen wird", meint Giga-Analyst Costa. "In gewisser Weise wird es zwar nach und nach mehr ´unter der Decke´ verschwinden, aber zumindest in den kommenden Jahren wird es sehr sichtbar sein." Microsofts Utzschneider pflichtet bei: "Die Frage ist nicht mehr, ob man XML nun braucht oder nicht - Anwender werden XML wählen, wie sie vor fünf Jahren HTML und HTTP übernommen haben. Die Unternehmen wurden nicht gezwungen, Browser zu benutzen - sie haben sie gewählt."

Weiterführende Informationen zur Extensible Markup Language finden sich unter anderem unter www.xml.org (englisch) oder auf der von der Darmstädter Software AG eingerichteten deutschsprachigen Informations-Site www.go-xml.com (CW Infonet berichtete).