Fehler bei der ERP-Einführung

Woran ERP-Projekte wirklich scheitern

02.07.2014
Von Bernd  Hilgenberg
Schon viele Unternehmen sind durch eine falsch eingeführte ERP-Software in wirtschaftliche Probleme geraten. Woran liegt das konkret?

Der Vorteil von ERP-Systemen - ihr integrierter Ansatz - kann sich unter Umständen nachteilig auswirken. Ein ERP-System zeichnet sich bekanntlich durch seine stark prozessorientierte Sicht- und Arbeitsweise aus, und diese Eigenart ist der Keim vieler Probleme in der Einführung und im Betrieb.

In einer verteilten Softwarelandschaft mit unterschiedlichen Anwendungen nutzen einzelne Abteilungen jeweils auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Software. Die Kommunikation zwischen den Anwendungen geschieht über Schnittstellen, die jedoch meist nur Teilmengen an Informationen austauschen. So kann jeder Unternehmensbereich das eigene System optimieren und verändern, ohne die nachfolgenden Systeme zu berühren. Damit entstehen einzelne Ökosysteme mit häufig jeweils eigenem Reporting.

Das hat zwei Konsequenzen: Zum einen ist die Durchgängigkeit von Prozessen über die Bereiche hinaus nicht gewährleistet. Zum anderen entwickeln eigene Systeme automatisch auch eigene Zahlen, deren Richtigkeit sich schwer überprüfen lässt oder die Spielraum für Interpretationen eröffnen. Hier existiert also kein "Single-Point-of-Truth". Unternehmen verlieren so an Steuerungs- und Wettbewerbsfähigkeit.

Lässt sich dieses Manko durch die Einführung eines ERP-Systems per se beheben? Leider nein! Auch ein integriertes ERP-System kann so konfiguriert oder besser verbogen werden, dass sich die Module wie selbständige Anwendungen verhalten. Das daraus produzierte Zahlenwerk ist dann genauso wenig durchschaubar. Damit besteht die konkrete Gefahr, dass ein Unternehmen in wirtschaftliche Probleme gerät, weil ein schlecht konfiguriertes ERP-System dauerhaft hohe Kosten verursachen kann. Zudem beraubt sich das Unternehmen der Möglichkeit, aus den vorhandenen Zahlen rechtzeitig negative Geschäftsentwicklungen zu erkennen sowie die eigenen Prozesse zu optimieren.

Worum es im Kern geht

Die erfolgreiche Einführung eines ERP-Systems braucht einen angemessenen Vorlauf. Zeit gewinnt man nicht, indem man wichtige Schritte überspringt, sondern indem man einen straffen Projektplan aufstellt und befolgt.
Das Projektteam benötigt ausreichende Unterstützung aus dem Topmanagement, Kompetenzen und Know-how. Hier den richtigen Mix zu finden ist auch eine Aufgabe des Topmanagements.
Gescheiterte ERP-Projekte werden häufig dem Unvermögen des ERP-Anbieters angelastet: Die Systeme sind angeblich zu langsam, zu kompliziert oder im Betrieb zu teuer. In Wirklichkeit können die Ursachen auch noch ganz woanders liegen: Komplizierte und teure ERP-Systeme weisen oft auf Versäumnisse im Management hin.

Es gibt eine Reihe von Gründen, die dazu führen können, dass Unternehmen durch eine falsch eingeführte ERP-Software in den wirtschaftlichen Ruin getrieben werden. Nachfolgend werden sieben von ihnen eingehend beleuchtet.

1. Fürsten und Fürstentümer

In jedem Unternehmen gibt es ein Geflecht von Zuständigkeiten, Besitztümern und Machtverhältnissen. In der Art, wie man damit umgeht, zeigen sich zwei Extremtypen. Da sind zum einen die dynamischen und flexiblen Unternehmen, in denen Veränderungen kein Problem sind. Der Erfolg des Ganzen steht im Vordergrund. Sind strukturelle Veränderungen erforderlich, die die Zuständigkeit Einzelner tangieren, regt sich wenig oder kein Widerstand.

Im anderen Extrem ist das Unternehmen von einer Struktur unsichtbarer Mauern durchzogen. Es herrscht eine Mentalität der Abschottung. Das eigene Umfeld wird optimiert, ohne das Ganze im Auge zu haben. Verbesserungen im Einzelnen können auf diese Weise nichtig werden, weil sie woanders Verschlechterungen nach sich ziehen.

Je mehr Fürstentümer, desto größer die Gefahr, dass jedes eigene Prozessvarianten fordert. Dann wird die Einführung eines ERP-Systems, das ja gerade bereichsübergreifende Prozessketten und Workflows zum Ziel hat, zur Herausforderung. Fürstentümer verzögern das Projekt beziehungsweise komplizieren Prozesse und Systeme.

Das Topmanagement muss von Anfang an darauf achten, dass die Fürsten einfache und klare Prozesse nicht verwässern. Dazu sind eindeutige Vorgaben und transparente Spielregeln notwendig. Unabdingbar ist es, die Kompetenzen des Projektteams von vornherein zu kommunizieren. Besonders schwierig wird es, wenn Topmanager selbst die Fürstentümer pflegen und verteidigen. Hier muss der Sprecher der Geschäftsführung oder der Vorstandsvorsitzende einschreiten. Externe Unterstützung kann als Katalysator dienen und zwischen den Parteien vermitteln.

2. Konsens- und Harmoniekultur

Als nicht minder herausfordernd erweist sich oft die Konsenskultur. Spaß an der Arbeit haben, niemandem wehtun und sich die Vorschläge eines jeden anhören - das gehört oft zum Alltag von über Jahre erfolgreichen Unternehmen. Schleifen in den Prozessen werden in Kauf genommen. Alles folgt dem Leitspruch: "Das eine tun, ohne das andere zu lassen."

Hier stellen sich aus den Fürstentümern bekannte Effekte ein. Statt Claims zu verteidigen, folgen die Organisationen der Sehnsucht nach dem Konsens. Sie macht klare Prozesse kompliziert, weil jeder mit seinen Ideen zur Anpassung von Prozessen Gehör findet. In diesen Unternehmen fehlt es häufig an Personen, die das Heft in die Hand nehmen und "Stopp" rufen. Den Gegenpol dazu bilden die straff hierarchisch geführten Unternehmen. Dort gilt allein die Regel: "Der Chef sagt, wo es langgeht." Das Betriebsklima fördert weder ein Mitdenken noch ein bereichsübergreifendes Prozessverständnis. Hier ist die gesamte Organisation nur so schlau wie die Führung. So können Prozesse oder Teilprozesse schlicht vergessen oder unzureichend abgebildet werden. Die Einführung eines ERP-Systems verläuft in beiden Fällen suboptimal.

Die Leitung eines Unternehmens mit Konsens- und Harmoniekultur sollte von Anfang an Spielregeln für Prozessanpassungen vereinbaren und mitteilen. Nur so lässt sich ein Zuviel an Prozessänderungen vermeiden. In streng hierarchisch geführten Unternehmen gilt es dagegen, das Projekt mit ausreichend Kompetenzen auszustatten. Sonst könnte die Einführung des ERP-Systems dazu führen, dass die gesamte Führungsmannschaft längere Zeit durch Projektarbeit blockiert wird.

3. Ungeplante Veränderungen

Mit der Systemeinführung soll - hoffentlich - immer ein bestimmtes Ziel erreicht werden. Zu Beginn des Projekts sind die Ziele festgeschrieben und finden sich im Idealfall auch im Projektauftrag wieder. Häufig agiert das Management jedoch so, als ob es gar kein ERP-Projekt gäbe. Eine angepasste Geschäftsstrategie, die organisatorische Neuausrichtung etc. können erhebliche Veränderungen im Unternehmen bewirken. Geschieht das während der Projektlaufzeit, wird die Struktur des teilweise angepassten oder eingeführten Systems möglicherweise auf den Kopf gestellt.

Aus diesem Grund ist der Zeitpunkt für die Einführung eines ERP-Systems so wichtig. Liegt er zu früh, kann das Projekt unnötig teuer werden. Prozessuale oder organisatorische Veränderungen sollten sich stabilisiert haben, bevor das Vorhaben gestartet wird.

Die Aufgabe, das richtige Augenmaß zu finden, obliegt der Unternehmensführung. Eine falsch verstandene Vorstellung von Geschwindigkeit macht unter Umständen teure Nachbesserungen erforderlich. Im schlimmsten Fall sind Strukturänderungen am Gesamtprojekt notwendig; dann laufen die Kosten komplett aus dem Ruder. Sind erhebliche Anpassungen während des Projekts nicht zu vermeiden, kann eine gezielte Unterbrechung auch dann sinnvoll sein, wenn dadurch der Einführungstermin verschoben werden muss.

4. Beraterhörigkeit

Häufig wird schon vor oder während der Auswahl eines ERP-Systems der Ruf nach externer Unterstützung laut. Das Management oder die Fachabteilungen fühlen sich den Anforderungen nicht gewachsen. Ein neues ERP-System wird dringend benötigt, eigene Kompetenz ist kurzfristig nicht zu bekommen. Was liegt näher, als die Aufgabe Spezialisten anzuvertrauen? Daran ist nichts Verwerfliches - falls die Entscheidung mit Augenmaß und ausreichend Vorlauf getroffen wird. Doch häufig hat die Unternehmensführung schon zu viel Zeit verstreichen lassen. Nun soll alles schnell und standardisiert gehen.

In der Folge prallen zwei Welten aufeinander: hier das Unternehmen mit seinen gewachsenen Prozessen, dort die Berater mit ihrem Wissen um Standardprozesse. Bleibt ihnen keine Zeit, die Eigenheiten des Unternehmens kennenzulernen, werden sie auf die Schnelle oft wichtige und wertschöpfende Prozesse in weniger optimale Standardprozesse überführen. Eine Beratungsleistung sollte auch als solche verstanden werden. Ihr Sinn liegt darin, Fachwissen zu Bereichen beizusteuern, in denen das Unternehmen keine oder nicht ausreichende Ressourcen hat. Die grundsätzliche Entscheidungsgewalt muss jedoch weiterhin uneingeschränkt im Unternehmen selbst liegen.

So wenig, wie sich organisatorische Veränderungen nachhaltig qua technische Restriktion umsetzen lassen, so falsch ist es, unternehmerische Entscheidungen an externe Berater zu verlagern. Das Topmanagement sollte sorgfältig darauf achten, dass eigene Mitarbeiter ausreichend in den Prozess der Einführung eingebunden sind.

5. Mangel an Kompetenz

Die Einführung eines ERP-Systems fordert sowohl die IT als auch die Fachabteilungen heraus. Neben technischen Kenntnissen ist unter anderem Projekt-Management-Kompetenz gefordert. Dieses Thema wird in vielen Vorhaben unterschätzt - ein Grund dafür, warum so manches Projekt aus dem Ruder läuft.

Wegen der engen Verflechtung von Prozessen und IT führt schlechtes Projekt-Management nicht nur zu Zeitverzögerungen und Budgeterhöhungen. Vielmehr entstehen dadurch auch strukturelle Fehler in den Systemen. Die sorgen dauerhaft für hohe Kosten, komplizierte Abläufe und unzufriedene Anwender. Kompetenzmangel findet man nicht nur im Projekt-Management. Halbherzige Schulungen gehören ebenso dazu wie unzureichende Kenntnisse der Infrastruktur. Alles folgt dem Motto: "Das können wir selbst." Hier steht falsch verstandenes Selbstbewusstsein oder Sparsamkeit im Gegensatz zu den objektiven Erfordernissen.

Eine konsequente und konsistente ERP-Einführung hat wenig mit der Installation von Software zu tun. Sie setzt Kenntnisse voraus, die in mittleren Unternehmen häufig nicht ausreichend vorhanden sind. So kann das Projekt zum Fiasko werden.

6. Viele Köche ...

ERP-Systeme bilden die Geschäftsprozesse ab, legen aber auch eine mangelhafte Organisation und fehlende Prozesstreue offen. Einem komplizierten System geht häufig ein Kompetenzwirrwarr voraus. Das behindert stringente Prozesse, denn einander widersprechende Kompetenzen erschweren die Aufgabe, über die gesamte Prozesskette eine einheitliche Linie zu finden. Weil für die großen Themen oft keine durchgängige Verantwortung erkennbar ist, werden Regelungen fallweise vereinbart und geraten so zu Stolpersteinen.

ERP-Projekte, die in einem solchen Umfeld starten, werden von Beginn an Schwierigkeiten haben. Sowohl der Anbieter des ERP-Systems als auch die Projektleitung haben es schwer, stringente und damit einfache Prozesse durchzusetzen. Es ist die Aufgabe des Topmanagements, die Entscheidungshoheit und die Kompetenzen von Beginn an zu klären. Nur wenn dem Projektteam und dem Unternehmen klar ist, wer über welche Themen entscheidet, sind konsistente Prozesse möglich.

7. Softwareauswahl

Viele Betriebe unterschätzen den Einfluss, den ein konsequentes und komplettes Softwareauswahlverfahren auf die Kosten für Einführung und Betrieb haben kann. Im optimalen Fall geht dem Verfahren eine Prozessanalyse voraus. Daraus werden dann die Anforderungen an das ERP-System hergeleitet und die Produktauswahl getroffen. Wer hier schlampt, läuft Gefahr, das falsche System auszuwählen. Falsch kann in diesem Falle dreierlei bedeuten:

  1. Wenn nicht alle relevanten Prozesse aufgeführt wurden, fällt das System möglicherweise zu klein aus. Erst während der Implementierung wird augenfällig, dass wichtige Prozesse nicht oder nur unzureichend unterstützt werden. Dann muss die Einführung oft gestoppt und ein neues System ausgewählt werden.

  2. Ist das ERP-System zu groß dimensioniert, überfordern Konfiguration und Betrieb möglicherweise die Organisation des Unternehmens. Effiziente Prozesse sind dann nicht mehr zu erreichen.

  3. Bei einer oberflächlichen Softwareauswahl wird vielleicht das falsche ERP-System angeschafft, das nicht in der Lage ist, die Anforderungen des Tagesgeschäfts in der erforderlichen Dynamik abzubilden. Unflexible oder komplexe Systeme provozieren Insellösungen in ihrem Dunstkreis. Irgendwie müssen die Fachbereiche ja den Anforderungen des Geschäftsbetriebs gerecht werden.

Die Auswahl des richtigen ERP-Systems bedeutet mehr, als sich die Systeme vom Vertrieb des jeweiligen Anbieters vorführen zu lassen. Eine intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Prozessen und Zielen ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Die Softwareauswahl darf nicht mit dem Kauf von Software verwechselt werden.

Eine Aufgabe des Topmanagements ist es dabei, unnötige Kompliziertheit sowie Schleifen in Prozessen und Systemen zu vermeiden. Hier ist Entscheidungsfreude gefordert. Diese Aufgabe lässt sich weder an die IT noch an ein IT-System delegieren. Genauso wenig können externe Berater interne Entscheidungen treffen. Aus diesem Grund muss die Einführung eines ERP-Systems immer stark im Topmanagement verankert sein. (qua)

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Der Autor

Unternehmen sind für den ehemaligen CIO der Handelskette Fressnapf, Bernd Hilgenberg, "abstrakte Gebilde". Deshalb sieht er sich auch nicht als Unternehmensberater. Mit seinem "CIO-Consulting-Team" will er lieber Personen beraten, sprich: die CIOs und die Geschäftsführer.