IT in der Prozeßindustrie/Virtual Reality hat übergeordneten Stellenwert

Wissenschaftler haben auch industrielle User im Auge

06.09.1996

Nach der intensiven Ausschöpfung sämtlicher 3D-Verfahren via Monitor-Darstellung geht es jetzt im wahrsten Sinn des Wortes "ans Eingemachte". Aber noch zögern viele Betriebe mit Investitionen für VR-Anwendungen.

Nachdem sich die Darstellung künstlicher Objekte im Bereich des Prototyping bei der Entwicklung neuer Produkte zwischenzeitlich einen recht festen Platz eroberte, wenden sich die Wissenschaftler der virtuellen Realität nun einem weiteren Anwendungsfeld zu, das die Möglichkeiten heutiger Rechner und ihrer Leistung noch weitaus intensiver ausschöpft. Bei diesen Entwicklungen geht es unter anderem auch darum, den bislang als 3D-Modelle verfügbaren Objekten der künstlichen Realität bestimmte Eigenschaften zuzuordnen. Stahl verhält sich dann wie Stahl - und Glas bricht ganz einfach. Diese Eigenschaften können auch da von großer Bedeutung sein, wo verschiedene Materialien miteinander in Berührung kommen, so zum Beispiel bei Verpackungsanlagen im direkten Arbeitsprozeß.

Nachdem es nun diese Integrationsmöglichkeit von Materialeigenschaften in VR-Systeme gibt, lösen sich die Entwicklungsingenieure mehr und mehr von der monitorgebundenen Darstellung und sind dabei, der virtuellen Realität neue Inhalte zu geben und neue Anwendungsgebiete zu erschließen.

Gemeinsam mit dem Electronic Visualization Laboratory (EVL) der University of Illinois aus Chicago entwickelt so zum Beispiel die Structural Dynamics Research Corp. (SDRC) aus Milford in Ohio einen Keller, den CAVE - ein "automated virtual environment", in dem Displays an allen Wänden Besuchern den Eindruck einer künstlichen Realität vermitteln.

Gesteuert wird das System von einer "Silicon Graphics Reality Engine2". Der Computer sorgt für die richtige Positionierung und Ausrichtung der dargestellten VR-Objekte, so daß Besucher, die mit Crystal-Eyes-3D- Brillen von Stereo Graphics und notwendigen Tracking-Devices ausgestattet sind, nach Gegenständen zeigen und sogar virtuell nach ihnen "greifen" und mit ihnen umgehen können. Die Illusion in dem 10 mal 10 mal 9 Fuß großen Raum wird durch Rundum-Screens, Voll-Sound und projektionsbasierte VR-Software hervorgerufen. CAVE wurde ursprünglich entwickelt, um Wissenschaftlern schnellere und intensivere Arbeitsmethoden an die Hand zu geben, findet aber jetzt auch seinen Einsatz bei der Überprüfung und Evaluierung der ergonomischen Eigenschaften neuer Arbeitsplätze, zum Beispiel an der Maschine einer Fertigungs- oder Verpackungsstraße.

Einer der großen Vorteile dieses Verfahrens ist, daß CAVEs über Hochgeschwindigkeitsnetze an verschiedene Datenbanken, Supercomputer und andere wissenschaftliche Technologien angebunden werden können. Die Einspeisung der verschiedensten, für das jeweilige Anwendungsgebiet relevanten Daten ist also nur noch eine Frage der Zeit.

Das System ist ein Beispiel aus einer ganzen Reihe weiterer Applikationen, die sich mit der Darstellung einer virtuellen Fabrik oder virtueller Prozeßabläufe befassen. Während es derzeit noch Standard ist, die Information eines 3D-Modells auf einem 2D- Display wiederzugeben, sollen die Arbeiten in naher Zukunft dazu führen, insgesamt eine 3D-Darstellung zu realisieren. Dies dient vor allem der intuitiveren Analyse komplexer Prozesse. Weiteres Ziel ist auch die Echtzeit-Analyse: Sie würde nicht nur die Planungen beschleunigen, sondern könnte auch frühzeitig Fehlentwicklungen aussondern - ein wichtiges Potential im Hinblick auf mögliche Kostenreduzierungen.

Eine "Walk-through"- Erfahrung vermitteln

Einen sehr interessanten Ansatz verfolgt derzeit das Purdue University Computer Integrated Manufacturing Laboratory der US- amerikanischen National Science Foundation. Unter der Bezeichnung "Sonoma" arbeiten die Wissenschaftler daran, die Möglichkeiten heutiger VR mit denen eines schnellen Austausches der Daten über das Internet respektive das World Wide Web zusammenzuführen. Das vereinfachte Modell einer vollständigen Fabrik erlaubt es bereits im derzeitigen Projektstatus, eine sogenannte "Walk-through"- Erfahrung zu vermitteln.

Die Purdue-Forscher sehen in diesem Ansatz eine gute Möglichkeit, Ressourcen zu sparen und in globalen Zusammenhängen zu denken und zu planen. Sie bedienen sich bei ihren Arbeiten der aus dem Netz bekannten Sprache VRML (Virtual Reality Modelling Language), die mit Web-Browsern leicht zu lesen ist.

Diese Anwendungen und Vorhaben täuschen aber nicht darüber hinweg, daß sich die Industrie häufig noch recht verhalten beim Einsatz von VR zeigt: Das Virtual Reality Applications Research Team (VIRART) der University of Nottingham, England, konstatiert, daß es mit dem Transfer der VR-Möglichkeiten in den praktischen Einsatz im argen liegt. Zum einen machen die Wissenschaftler dafür den aktuellen Status der VR-Produkte aus, zum anderen mangelnde Kenntnis hinsichtlich des tatsächlichen Nutzens der neuen Technologie. Die Produkte, die im Zusammenhang mit dieser jungen Technologie entwickelt worden sind, sind zwar zumeist ausgetestet, aber der schnelle Wandel läßt Anwender mit Investitionsentscheidungen zögern.

Strategen leben mit reduzierten Budgets

In stärkerem Maße blockierend wirkt, daß unter den derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnissen die Abteilungen, die sich mit der strategischen Ausformulierung der Anforderungen befassen, mit dem Tagesgeschäft und mit heruntergefahrenen Budgets leben müssen. Dies bedeutet eine Verlagerung der notwendigen Arbeiten weiter ins Vorfeld, mit genauer Recherche über die aktuellen technischen Möglichkeiten und auch über den potentiellen Einsatz.

VR nimmt im industriellen Prozeß die Rolle einer übergeordneten Technologie an. Neben der Darstellung oder Visualisierung zum Beispiel eines neuen Fabrikationsgebäudes oder einer Produktions- beziehungsweise Verpackungsmaschine erhält die Simulation der tatsächlichen Abläufe einen wichtigen Rang. Erst hier wird zum Beispiel festgestellt, daß Lieferfahrzeuge das geplante Gebäude nicht anfahren können, Teile einer Maschine nicht passen und ergonomisch unsinnig angebracht sind oder die Tragegriffe von Verpackungen zu Verrenkungen des Trägers mit den darauffolgenden Kreuzschmerzen führen können. In einem konstanten Regelkreislauf der verschiedenen Komponenten von Erarbeitung und Kontrolle folgt dann zum Schluß ein Highlight der Virtual-Reality-Anwendungen, meinen die englischen Wissenschaftler: VR als Kommunikationsmedium - über Anwendungsbereiche, über Unternehmen und sogar über Grenzen hinweg.

Generell gilt, daß Virtual Reality nicht zum Selbstzweck degenerieren darf. VR muß die strategischen Anforderungen des Unternehmens und vor allem die Belange der industriellen Nutzer intensiv berücksichtigen und ihnen einfache, adäquate Hilfsmittel für ihre Arbeit an die Hand geben. Bleibt dieser Anpassungsvorgang aus, dann kann es durchaus passieren, daß die VR-Spezialisten eines Tages alleine in ihrer "virtuellen Höhle" sitzen.

Angeklickt

Dreidimensionalität auf dem Bildschirm alleine scheint ein alter Hut. Wie in einer künstlichen Höhle könnten sich in Zukunft die Anwendungen dreidimensional rund um den User auffächern. Wissenschaftliche VR-Anwendungen legen diese Vision nahe. Doch müssen sich die Wissenschaftler um Ergonomie nicht nur von Fremdanwendungen, sondern auch ihrer eigenen Gedankengebäude kümmern, wollen sie breite Akzeptanz in der industriellen Wirklichkeit finden.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in München.