Untypisch für westeuropäische Länder

Wissenschaft und Praxis in Expertensystemen der DDR

11.05.1990

Seit knapp zwanzig Jahren wird in der DDR auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz geforscht. Eine Reihe von Expertensystemen, aber auch Sprachen, Tools und Shells sind mittlerweile entwickelt worden und finden in der Praxis ihre Anwendung.

Das Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse (ZKI) an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ostberlin genießt auch im Westen einen guten Ruf. Hier werden seit 20 Jahren systematisch Forschungen zur künstlichen Intelligenz durchgeführt, eine Reihe von Expertensystemen sind im Institut bereits entwickelt worden.

Professor Volker Kempe, Direktor des Instituts, ist allerdings vorsichtig in der Bewertung des bisher Geleisteten: "Man muß jedoch - überspannten Erwartungen vorbeugend - auf eine Anzahl gewichtiger ungelöster Probleme bei der effektiven Entwicklung und Anwendungsverbreiterung von Expertensystemen hinweisen. So gilt es, neben weit leistungsfähigerer Rechentechnik als heute kostengünstig vor allem Hilfsmittel für die Entwicklung der Software bereitzustellen, um den äußerst komplizierten Prozeß des Erwerbs, der Darstellung und des Umgangs mit Wissen in systematischer Weise beherrschen zu können. Schwierigkeitsgrad und Umfang der mit Expertensystemen behandelten theoretischen Probleme werden weiter zunehmen".

Viele derzeitige Lösungen, die bereits den Namen Expertensystem tragen, würden die an sie gestellten Ansprüche nur begrenzt erfüllen. "Trotz mancher Erfolgsmeldung existiert für Euphorie kein Grund. Handlungsbedarf ist jedoch anzumelden, Ansätze und einige wenige reife Lösungen sind bereits vorhanden", meint auch Professor Hans-Friedrich Meuche von der Technischen Universität Dresden.

Er nennt als Bereiche für den Einsatz von Expertensystemen: "Analyse chemischer Substanzen durch Interpretation chemischer und physikalischer Daten, die Erdöl- und Mineraliensuche, die Bildverarbeitung im Zusammenhang mit dem Einsatz von Robotern sowie auf dem Gebiet der Mustererkennung und der Flugbildinterpretation, die medizinische Diagnose von Infektionskrankheiten und in der inneren Medizin, militärische Planungssysteme und die Zusammenstellung kompatibler Komponenten komplexer Computersysteme."

Die Anwendungen sind noch zu komplex

Einen Schwerpunkt der Expertensystem-Entwicklung in der DDR - sowohl am Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse als auch an den Hochschuleinrichtungen - bildet die Produktionsautomatisierung.

Meuche: "Rechnerintegrierte Produktion ist ohne Anwendung von Expertensystemen nicht zu realisieren." Obwohl er eine Integration dieser Expertensysteme in zu schaffende Leitungs-Informations- systeme für dringend erforderlich hält, muß er für die DDR einen "gravierenden Rückstand bei der Anwendung von Expertensystemen in der Betriebswirtschaft" feststellen.

Dafür führt Professor Meuche eine Reihe von Gründen an. Unter anderem seien die betriebswirtschaftlichen Anwendungen zu komplex und bedürften einer geeigneten Elementarisierung, um sie für die Entwicklung und die Nutzung von Expertensystemen erschließen zu können.

Ein Beispiel für ein schon länger im Einsatz befindliches Beratungs-Expertensystem ist "Max-Stahl". Es wird in Stahlwerken der DDR eingesetzt und soll zur optimalen Gestaltung des Prozeßflusses beitragen.

Professor Michael Roth, Leiter des Wissenschaftsbereiches Computertechnik der Sektion Technische und Biomedizinische Kybernetik an der TH Ilmenau: "Der Prozeß läuft nicht vollautomatisch ab, sondern es ist vielmehr typisch, daß Mensch und Automat gemeinsam den optimalen Prozeßfluß gestalten. Dabei gehen die langjährigen Erfahrungen von Anlagenfahrern - hier den Schmelzern - genauso stark ein wie die Kenntnisse der Laboranten, Ingenieure oder Leiter. In der Phase des Fertigblasens der Stahlschmelze in einem Konverter sind zirka 30 Analysewerte der Stahlzusammensetzung auszuwerten. Hinzu kommen das Schlackenbild, das Löffelprobenbild der Konverterschmelze, das Flammenbild und der Sauerstoffverbrauch.

Der Stahlblasmeister muß daraus wesentliche, die Stahlqualität unmittelbar beeinflussende Entscheidungen bezüglich der richtigen Schmelztemperatur und der Beigabe von Zuschlagstoffen, wie Kalk oder Phosphor, Stickstoff oder Sauerstoff, treffen."

8-Bit-Rechner dient als Basis

Grundlage für den Aufbau des Beratungssystems Max-Stahl - von J. Wernstedt an der TH Ilmenau entwickelt - bildet ein 8-Bit-Rechner aus DDR-Produktion mit Prozeßschnittstellen. Die Funktion des Beratungssystems wurde durch mathematische Modelle des metallurgischen Prozesses sowie aus den umfangreichen Erfahrungen von zirka 20 Blasmeistern und ihren Auswertungen und Entscheidungen bei zirka 25 000 Schmelzen bestimmt.

Auf einem 16-Bit-PC ist dagegen das Prozeß-Expertensystem "Procon 1" implementiert. Es ist an der Technischen Hochschule in Leipzig entwickelt worden und kann in die Kategorie intelligenter Automatisierungsmittel eingeordnet werden. Zu den Aufgaben von Procon I gehören die Entdeckung und Lokalisation von Ausfällen sowohl bei der Hardware als auch in den Steuerungsfunktionen von automatisierten Prozessen. Außerdem kann der Anlagenfahrer auf die Empfehlungen des Expertensystems in der operativen Lenkung und Prozeßsicherung bei Sonderzuständen zurückgreifen. Procon I enthält sowohl prozedurales (algorithmisches) wie deklaratives (nichtalgorithmisches) Wissen. Ein weiteres Beispiel für den industriellen Einsatz stammt von der Sektion Informatik an der Technischen Universität Chemnitz.

Professor Christian Posthoff: "Die Sektion Informatik entwickelt gegenwärtig Expertensysteme für operative Entscheidungen in komplexen Produktionssystemen. Theoretische Ansätze werden gemeinsam mit Betrieben der Glas- und Zellstoffindustrie untersucht. Im VEB Glaswerk Hosena soll zum Beispiel ein CAM-System die Herstellung von Streuscheiben für Pkw-Scheinwerfer an mehreren Glaspreßautomaten optimieren. Dabei fällt der Rechner seine Entscheidungen auf der Grundlage von Expertenwissen.

"Dessterr" für den Umweltschutz

Die subjektive Bewertung der Scheibenqualität, der Glasschmelze und der Tropfenform, wird unmittelbar zum Einstellen von Glastemperatur und Maschinenparametern genutzt. Anhand auftretender Prozeßwidersprüche werden die Expertenvorgaben ständig kontrol.

Ein anderer Bereich, in dem sich in den letzten Jahren vor allem verschiedene Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR engagiert haben, sind Expertensysteme für den Umweltschutz. Ein Beispiel dafür ist "Dessterr"("Decision Support System on Low-waste Territories"). Diese "Entscheidungs- beratung im Territorium" soll örtlichen Behörden Hilfe für die Genehmigung von Industrieansiedlungen geben. Dabei werden verschiedene Stofffluß-Szenarios für ein bestimmtes Gebiet berechnet. Ziel ist dabei die Reduzierung komplexer Umweltbelastungen und die Folgeabschätzung für neue Technologien und Produktionsstandorte. Das am Institut für Geographie und Geoökologie entwickelte System läuft auf jedem kompatiblen AT und benötigt fünf MBSpeicherplatz auf der Festplatte.

Ein weiteres derartiges Expertensystem - vom Zentralinstitut für Kybernetik und Informations- prozesse entwickelt - ist PEMU/Luft. Dieses Prognose- und Entscheidungsmodell dient der Optimierung von Emissionsreduktions-Programmen, der Berechnung kritischer Belastungsgrenzen, dem Ausgrenzen von Risiko-Gebieten und der Verursacheranalyse.

CAP-DSS für längerfristige Planung

Neben der Entwicklung von eigenen Expertensystemen, die an verschiedenen Instituten und Hochschuleinrichtungen läuft, befassen sich zur Zeit in der DDR zirka zehn Projekte mit der Entwicklung von Softwarewerkzeugen für wissensbasierte Systeme. Einige davon haben bereits ein nahezu anwendungsreifes Stadium erreicht, beziehungsweise die ersten Ausbaustufen befinden sich schon in der Industrieerprobung. Dabei handelt es sich um Shells (Rahmen-Expertensysteme), Tools (Flexible Entwicklungsumgebungen für Expertensysteme) und Programmiersprachen (insbesondere Prolog, Lisp und objektorientierte Sprachen).

Ein Beispiel für ein Rahmen-Expertensystem ist CAP/DSS ("computer aided planning/decision support system") von der Karl-Marx-Universität Leipzig. Es ist ein wissensbasiertes und entscheidungsunterstützendes System für die längerfristige (zwei bis fünf Jahre) und strategische (bis zehn Jahre) Planung in Betrieben und Unternehmen. Der Gesamtentwicklungsaufwand für das System, dessen Installation in mehreren Unternehmen der Bundesrepublik und der Schweiz vorbereitet wird, betrug mehr als 30 Mannjahre. In der DDR ist CAP/DSS in einem Betrieb des VEB Kombinat Mikroelektronik Erfurt im Einsatz, das Rahmen-Expertensystem wird zur Zeit noch kostenlos abgegeben und eingeführt. Der erreichte Ist-Anwendernutzen soll in bestimmten Verhältnissen im Zeitraum von drei Jahren zwischen Entwickler und Exporteur sowie Anwender aufgeteilt werden.

In der Sektion Mathematik der Ostberliner Humboldt-Universität beschäftigt sich seit mehreren Jahren eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern mit Fragen der Programmiersprache Prolog, die neben Lisp der Favorit für die Entwicklung von Expertensystemen ist. Heute ist das HU-Prolog nicht nur unter Unix, sondern auch unter MS-DOS und VMS sowohl auf kompatiblen PCs (von 8086/ 8088 bis 80386) als auch auf VAX verfügbar.

KI-Forscher in der DDR sind optimistisch

Für die Zukunft sind die KI-Forscher der DDR optimistisch. Professor Kempe vom Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse: "An vielen Einrichtungen der DDR gibt es die gute Tradition der Verbindung von Wissenschaft und Praxis, wie sie für westeuropäische Länder unüblich ist. Dabei geht es nicht um den Mißbrauch von Forschungseinrichtungen für die Lösung der Tagesaufgaben der Industrie, sondern um die sehr oft in hoher Perfektion bewußt gepflegte Verzahnung von Grundlagenforschung, anwendungsorientierter Forschung und Entwicklungsanwendung, die zu anerkannten

Ergebnissen geführt hat".

Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse, Kurstr. 33, Berlin, 1086

Institut für Geographie und Geoökologie, Georg-Dimitroff-Platz 1, Leipzig, 7010

Humbold-Universität zu Berlin, Sektion Mathematik, Postfach 1297, Berlin, 1086

Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Informatik, Karl-Marx-Platz, Leipzig, 7010