Die Schlacht um den 16-Bit-Mikro-Mini-Markt ist in vollem Gange:

Wird der Minicomputer den Mikrocomputer ersetzen?

06.04.1979

Der Mikroprozessor-Chip hat den DV-Markt in Bewegung gebracht und die Fachwelt immer wieder zu weitreichenden Spekulationen über die Zukunftsperspektiven dieses universell einsetzbaren Bauelements angeregt. Von einer Verdrängung des Minicomputers aus seinen angestammten Marktbereichen war da die Rede, von einem allmählichen Vordringen des Mikroprozessors in traditionelle Minicomputer-Anwendungen. Der technologische Fortschritt hat diese Spekulationen bereits eingeholt.

Es kann heute kein Zweifel mehr darin bestehen, daß Mikroprozessoren beziehungsweise auf ihrer Basis realisierte Mikrocomputer vom oberen Endes des Mikroprozessormarktes zum unteren Ende des Minicomputermarktes expandieren. Und dennoch: Bei der Lektüre von Geschäftsberichten und Bilanzen der großen Minicomputerhersteller bietet sich dem Leser ein beeindruckendes Bild: Hohe Zuwachsraten, steigende Umsätze und viel Zukunftsoptimismus - auf einem Markt, der durch zunehmenden internationalen Wettbewerb, vor allem auch von seiten der Halbleiterhersteller gekennzeichnet ist. Was geschieht nun eigentlich auf diesem Markt?

Unerläßliche Voraussetzung zum Verständnis der gegenwärtigen Marktsituation ist die sorgfältige Analyse von Produktstrategien und Marktverhalten der beiden wichtigsten Anbietergruppen: der Halbleiter- und Minicomputerhersteller.

Die gewaltigen Fortschritte der Halbleitertechnologie in den letzten 20 Jahren haben eine für den Laien unvorstellbar hohe Integration und Miniaturisierung elektronischer Schaltelemente ermöglicht. Heute können auf einem kaum fingernagelgroßen Siliziumscheibchen über 20 000 Transistorfunktionen untergebracht werden - vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung, deren Ende heute noch niemand absehen kann, ist der komplette, funktionsfähige Zentralprozessor auf einem einzigen Halbleiter-Chip. Die ersten Ein-Chip-Mikroprozessoren, die zu Beginn der siebziger Jahre auf den Markt kamen, stellten keine ernsthafte Konkurrenz für den Minicomputer dar. Sie waren viel zu langsam und boten eine im Vergleich zu anspruchsvollen Minicomputersystemen weitaus geringere Leistung. Im Gegenteil: Mikroprozessoren erfüllten lange Zeit eine wichtige Komplementärfunktion auf dem DV-Markt. Sie bildeten die ideale Ergänzung, die das Leistungsspektrum der Minicomputersysteme nach unten abrundete. Mikroprozessoren wurden bei vielen Anwendungen eingesetzt, in denen Minicomputer aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage kamen.

Hier hat sich nun in den letzten Jahren eine Menge geändert: Leistungsfähige 16-Bit-Mikroprozessoren bieten heute die Verarbeitungsleistung eines mittleren Minicomputers und sind damit in bestimmten Anwendungsbereichen zu einer ernsthaften Konkurrenz geworden.

Interessanterweise sind nun Halbleiter- und Minicomputerhersteller etwa gleich jung, nämlich rund 20 Jahre. Die Minicomputer der "ersten Generation" verwendeten noch mit diskreten Bauelementen bestückte Platinen. Alle nachfolgenden Systeme standen ganz im Zeichen der fortschreitenden Miniaturisierung und Integration der elektronischen Schaltelemente. Von einfachen integrierten Schaltungen über die MSI-Technologie bis hin zu hochintegrierten LSI-Bausteinen mit Zehntausenden Transistorfunktionen pro Chip - die Minicomputerhersteller haben den Fortschritt der Halbleitertechnologie von Anfang an aktiv mitgestaltet. Und sie haben es verstanden, das Leistungspotential neuer Technologien bedarfsgerecht und kostengünstig in die Entwicklung, Konstruktion und Fertigung ihrer Produkte zu integrieren.

LSI-Chips in Zentraleinheiten sind heute die Norm. Auf dieser Basis realisierte Mikrocomputer expandieren zum unteren Ende des Minicomputermarktes. Minicomputer mit einem LSI-Chip als Zentraleinheit fallen dagegen in die Preisklasse des oberen Mikrobereichs - der Mikro ist zum Mini, der Mini zum Mikro geworden. In dieser Situation sollten wir von liebgewordenen Definitionen Abstand nehmen. Die Grenze zwischen Mikro- und Minicomputer verwischt sich immer mehr, eine klare Trennungslinie ist nicht mehr erkennbar.

Vielleicht sollten Wir beide Systeme ganz einfach Computer nennen. Wir haben folglich eine Situation, in der Halbleiter- und Minicomputerhersteller Produkte anbieten, die auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich scheinen. Die genauere Prüfung des Herstellerangebots läßt jedoch ganz entscheidende Unterschiede erkennen. Sie liegen vor allem in den vier Bereichen:

- Hardware,

- Service,

- Software,

-Philosophie.

Natürlich werden diese Parameter im konkreten Anwendungsfall jeweils unterschiedlich zu gewichten sein, denn nur so ist im individuellen Falle eine bedarfsgerechte Systemauswahl gewährleistet.

Im folgenden werden die vier Parameter kurz diskutiert:

Hardware

Beim Erwerb eines Mikrocomputersystem kann der Anwender zwischen drei verschiedenen Ausbaustufen wählen:

Systemkomponenten:

Der Anwender erwirbt einen sogenannten Entwicklungskit, das heißt einen kompletten Bausatz, der alle erforderlichen Komponenten wie Schaltungen, Leiterplatten, Design und Layout enthält, und baut seinen Mikrocomputer selbst zusammen. Diese Methode erweist sich besonders bei hochvolumigen Anwendungen als vorteilhaft und bietet dem Anwender ein Höchstmaß an Flexibilität bei der Gestaltung seines Systems.

Platinencomputer:

Viele Hersteller bieten ihre Chips heute als funktionsfähige Einheiten an, als komplette Mikrocomputer auf einer Platine einschließlich Netzgerät. Der Anwender benötigt keine speziellen Fachkenntnisse, das System ist einfach zu konfigurieren und bietet dabei immer noch ein gewisses Maß an mechanischer Flexibilität. Am besten bewährt hat sich dieses Verfahren bei mittleren Anwendungsvolumen von 10 bis 200 Einheiten pro Jahr.

Komplette Systeme:

Die dritte Ausbaustufe schließlich bilden kompakte, getestete Gehäusesysteme, die ohne jede Nach- und Weiterentwicklung durch den Anwender sofort implementiert werden können. Ungeachtet ihres höheren Anschaffungspreises stellen diese Systeme für begrenzte Anwendungsvolumen die insgesamt gesehen wirtschaftlichste Lösung dar.

Service

Aufgrund der Standardisierung ihrer Produkte können die Minicomputerhersteller dem Anwender einen umfassenden Service zur Unterstützung seines Systems bieten. Hinter den Erzeugnissen dieser Anbieter stehen die Ressourcen einer - in vielen Fällen weltweiten - leistungsfähigen Serviceorganisation. Daß dem Anwender, der seinen Computer selbst baut, derartige Kapazitäten nicht zur Verfügung stehen, liegt auf der Hand.

Software

Leistungsfähige Softwaresysteme - damit steht und fällt die effektive Nutzung der verfügbaren Hardwarefunktionen. Hier liegen die größten Risiken für den Anwender. Die Hardwarekosten halbieren sich alle zwei bis drei Jahre, während die Softwarekosten weiterhin steigen. Das bedeutet, daß Softwaresysteme beim Anwender künftig erheblich gewichtiger zu Buche schlagen werden als die Hardware. In dieser Situation läßt das Software-Engagement der potentiellen DV-Anwender zu wünschen übrig. Die kritische, anwendungsbezogene Überprüfung des aktuellen Softwareangebots rangiert beim Anwender meistens weit hinter seiner Hardware-Entscheidung.

Philosophie

Die Halbleiterhersteller waren in den letzten Jahren stets bemüht, die jeweils neuesten Errungenschaften der DV-Technologie umgehend in ihre Produkte zu integrieren. Dies bedeutete jedoch, daß mit fortschreitender technologischer Entwicklung (zum Beispiel größere Wortlängen) eine wiederholte Revision von Architektur und Befehlsvorrat erforderlich wurde.

Die Minicomputerhersteller hingegen nutzen neue Technologien vorwiegend, um das Preis-/Leistungsverhältnis ihrer Produkte noch günstiger zu gestalten, denn sie können die gleiche bewährte Bus-Struktur verwenden und auf einen einheitlichen Befehlssatz zurückgreifen.

Die Schlacht um den 16-Bit-Mikro-/Mini-Markt ist in vollem Gange. Der Mini- oder sollen wir ihn besser Mikro nennen? - hat in diesem Rennen jedoch nicht zu übersehende Rundenvorteile: Sein umfangreiches Software-Potential und die Kontinuität der Systemarchitektur, zwei Faktoren, die letztendlich über die Wirtschaftlichkeit eines Produktes entscheiden können.

Hans Reiter ist Marketing Manager OEM bei der Digital Equipment GmbH ,München