"Wir kritisieren nur ungern das öffentliche Schulsystem"

12.09.1980

Mit Helmut Rausch, Vorstandsmitglied der Nixdorf Computer AG, sprach Helga Biesel.

- Auf seine Ausbildungsaktivitäten hat sich Nixdorf immer schon einiges zugute gehalten. Wann sind Sie auf den Gedanken gekommen, so etwas wie eine eigene Berufsschule einzurichten, und wo lagen die Hauptschwierigkeiten in der traditionellen Lehrlingsausbildung?

Wir sind praktisch schon 1969/70 auf diesen Gedanken gekommen. Damals haben wir einfach aus dem Problem heraus, daß bestimmte Berufsbilder, beispielsweise der Informations-Elektroniker, nicht definiert, also quasi noch in der Mache waren, letztlich die Initiative ergriffen und das gemacht, was in ganz Nordrhein-Westfalen gesetzlich realisiert werden kann: Wir haben unsere eigene Ersatzschule aufgebaut.

- Ist Ersatzschule gleich Privatschule?

Ja. Fast alle Länder sehen vor, daß, wenn die entsprechende Schulaufsicht gewährleistet ist, eine Privatschule aufgebaut werden kann, die sich der Schulaufsicht unterstellt, und jeder von uns hat einen Rechtsanspruch, daß diese Privatschule auch realisiert wird.

- Zur Frage der Kosten hat DER SPIEGEL berichtet, daß "der Staat bis zu 92 Prozent" der Kosten "dieser Berufsschule neuen Typs" übernehmen werde. Ist das richtig?

Korrektur zu den SPIEGEL-Informationen: Man erhält nur 92 Prozent der Kosten einer vergleichbaren öffentlichen Schule ersetzt, aber die Kosten: der projektierten Schule liegen natürlich wesentlich höher als die einer vergleichbaren öffentlichen Schule, so daß wir im Schnitt runde 50 Punkte - ich kann nicht von 50 Prozent sprechen - zusätzlich aufzuwenden haben werden. So gesehen ist die SPIEGEL-Darstellung etwas unfair; wir sparen kein Geld, sondern, ganz im Gegenteil: Wir geben wesentlich mehr Geld dazu.

- Wollen Sie noch die Schwierigkeiten, die in der traditionellen Lehrlingsausbildung liegen, konkretisieren?

Wir kritisieren jetzt eigentlich nur ungern das öffentliche Schulsystem, aber wenn wir schon entschlossen waren, eigene Initiativen durchzusetzen dann können Sie sich vorstellen, daß es eine ganze Reihe von dringend notwendigen Überlegungen dafür gab.

- Welcher Art?

Schlicht und einfach: Wir haben relativ fest gezimmerte Berufsbilder, aber parallel dazu leben wir in einer Branche, die ein Innovationstempo von zum Teil unter fünf Jahren hat. Heute darf jedoch der Feinmechaniker oder der Werkzeugmacher beispielsweise eigentlich nicht mit Elektro-Dingen konfrontiert werden.

- Muß aber ...

... muß aber. Das ist die erste Schwierigkeit. Wir müssen die Auszubildenden an diese Grundtechnologien mindestens heranführen. Das gilt auch für die Informationselektroniker, die sich ohne eine gewisse feinmechanische Ahnung im Grunde genommen viel zu früh zu Spezialisten entwickeln. Das gilt auch für den Industriekaufmann; wenn der heute noch nicht mal Datenverarbeitungswissen hat, als Zusatzqualifikation, dann habe ich Ihnen im Grunde genommen die ganze Skala der Schwierigkeiten dargestellt. Das Berufsbild sieht oft EDV-Kenntnisse eigentlich nicht vor, hat aber ein paar Grauzonen in die hinein wir jetzt tätig werden können. Wenn wir dicht ausbilden, das heißt, wenn wir die Zeit effektiv dazu nutzen, auch die theoretische Ausbildung auf mindestens zwei Tage in der Woche oder auf einen entsprechenden Blockzeitraum zu konzentrieren, dann können wir eine wesentlich bessere, breitere Ausbildung realisieren, können die entsprechenden Praktika dazupacken und zusätzlich sogar die Lehre verkürzen. Damit habe ich im Grunde genommen die Schwierigkeiten, die wir beseitigen wollen, geschildert. Das geht natürlich nur dann, wenn wir eine Dispositionsmöglichkeit der Lehrer haben. Das heißt nicht, daß die Lehrer 40 Stunden lang Maschinenöl riechen sollen.

- Sind ähnliche Berufsschulen in der Bundesrepublik bereits verwirklicht, mit anderen Worten haben Sie sich an Vorbildern orientiert?

Wir haben unser eigenes Vorbild. Es gibt aber in anderen Brachen beispielsweise in der Chemie, bei Bayer, ähnliche Schulen; in unserer Branche jedoch nicht.

- Zurück zu den Lehrern: Sie wollen in der neuen Berufsschule "echte" Lehrer einstellen, also nicht - wie im DV-Bereich üblich - Instruktoren mit unterschiedlicher, teils staatlich nicht anerkannter Vorbildung. Diese Lehrer sollen aber eine "normale" Arbeitszeit, eine Vierzig-Stunden-Woche, absolvieren. Wie wollen Sie den Job attraktiv machen? Gibt es rechtliche Voraussetzungen dafür, den künftigen Nixdorf-Lehrern beispielsweise mehr Geld zu geben als anderen Berufsschullehrern?

Zunächst einmal unterliegen wir der Schulaufsicht, und deswegen müssen wir tatsächlich "echte" Lehrer mit zwei Staatsprüfungen mit vorsehen. Es gibt aber an dieser Tätigkeit ein ganz, ganz großes Interesse, weil wir die vierzig Stunden-Tätigkeit ja nicht als Lehrtätigkeit allein, sondern auch als ständige Ausbildungszeit betrachten. Und ich habe da eigentlich keine Sorgen, da sich das Angebot als so attraktiv erweist, daß sich schon viele Leute gemeldet haben. Und es sind die qualifizierten Lehrer, die sich insbesondere wegen dieser Weiterbildungsmöglichkeiten interessieren. Es ist also bei Mehrleistungen durchaus möglich, daß eine sogenannte Ersatzschulzulage auf die üblichen öffentlichen Gehälter gezahlt wird, aber die ist dann leistungsorientiert.

- Wenn man also bei Nixdorf Lehrling ist, dann geht man zwangsläufig, das heißt glücklicherweise, in diese neue Schule; also braucht man nicht noch eine gesonderte Aufnahmeprüfung zu machen?

Nein, weil man dann im Grunde genommen als Auszubildender schon die Aufnahmeprüfung hinter sich hat.

- Normalerweise wird man dann nach Abschluß seiner Lehrzeit - auch bei Nixdorf bleiben, muß aber nicht?

Der Mann ist frei. Wenn er bleibt, freuen wir uns. Wir können ihn nicht festbinden!

- Mit welchen Qualifikationen verläßt er die Schule?

Das geht quer durch die ganzen Berufe der Nachrichtentechnik, der Elektrotechnik, der Feinmechanik und der entsprechenden kaufmännischen Berufe: Industrie-Kaufmann, Datenverarbeitungs-Kaufmann, Feinmechaniker, Werkzeugmacher, oder Informationselektroniker; das sind die wesentlichsten.

Es kommt aber eines hinzu, daß wir nämlich, beispielsweise auch auf die Schwächeren bezogen, einige Dinge gemacht haben, aus meiner Sicht recht interessante. Schon seit vier Jahren machen wir für Sonderschüler eine sogenannte Teilezurichterlehre. Nach einer zweijährigen Ausbildungszeit haben die Jungens die Möglichkeit sich der Prüfung zu stellen. Wenn sie die erfolgreich bestehen - praktisch der gleiche Prozentsatz wie in den normalen Ausbildungsberufen besteht sie - dann können sie in eine normale Lehre übernommen werden. Ein Jahr wird anerkannt. Auch das sieht die öffentliche Berufsschule nicht vor.

- Beabsichtigen Sie, diese Aktivitäten noch auszuweiten im Rahmen der neuen Schule, etwa für Gehörgeschädigte oder Blinde?

Wir können hier nur einen begrenzten Kreis ansprechen. Aber aus unseren Erfahrungen hat sich ergeben, daß - wenn man eine mehr polytechnische Ausbildung realisieren würde -, ein hoher Prozentsatz dieser denkbaren sogenannten Berufshilfsarbeiter wirklich beruflich qualifiziert werden könnten. Jedoch können wir leider nicht das gesamte Ausbildungssystem . . .

- Wer weiß, vielleicht geben Sie den Anstoß dazu.

Unterscheiden sich denn die Unterrichtsinhalte auch von denen an öffentlichen Berufsschulen und in welcher Weise?

Das fragen Sie mich, um mich in Versuchung zu führen. Wir würden das Ganze nicht machen, wenn wir nicht innerhalb des Berufsbildes, innerhalb der Links- und Rechtsbegrenzung, die wir nun einmal haben - wir können ja keinen "Nixdorf-Werkzeugmacher" ausbilden, sondern nur einen "Werkzeugmacher" - wenn wir da nicht den gesamten Spielraum bis hin zu den numerischen Steuerungstechniken etc. entsprechend nutzen würden. So gesehen unterscheidet sich das schon sehr, weil wir den Einzelnen auch an die Grundlagen der Elektrotechnik und der Elektronik heranführen. Das qualifiziert ihn dann auch für andere Tätigkeiten nicht nur solche bei Nixdorf. Er erhält eine viel breitere Berufsgrundlage. Ich sage das, weil da ja immer wieder der Verdacht auftaucht, daß wir zu früh Spezialistentum entwickeln könnten.

- Bauen Sie ein neues Schulgebäude?

Wir bauen auch ein neues Gebäude mit einem richtigen Berufsschul-Campus; Sport und Spiel spielen eine Rolle, wie sie sonst überhaupt nicht vorgesehen ist. Das sind alles Dinge, die, wenn Sie so wollen, in der gesamten Motivation liegen. Wir wollen uns aber nicht darum kümmern, neue Zehnkampf-Weltrekordler dort zu entwickeln, aber wir wollen Sport als Ausgleichselement in natürlichste Form mit in die Schule einbeziehen.

- Soll er auch so etwas wie Chorpsgeist fördern?

Ja.

- Glauben Sie, daß man Ihnen in anderen Bundesländern und bei anderen DV-Unternehmen, die Werkberufsschule nachmachen wird?

Es gibt keine Anzeichen dafür. Aber ich frage mich, wie diese Branche den Mut aufbringt, die 80er und 90er Jahre gestalten zu wollen, mit ständig neuen Umschulaktivitäten und nicht mit einer beruflichen Erstausbildung. Das darf doch wohl nicht sein, daß man erst einen ganz anderen Beruf lernt und dann die Datenverarbeitung - die den Beruf wesentlich bestimmt - aufpfropft, möglicherweise viel zu spät.