Menschen statt Schubladen

"Wir brauchen echte Diversität"

08.02.2022
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Karen Funk ist Senior Editor beim CIO-Magazin und der COMPUTERWOCHE (von Foundry/IDG). Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind IT-Karriere und -Arbeitsmarkt, Führung, digitale Transformation, Diversity und Sustainability. Als Senior Editorial Project Manager leitet sie zudem seit 2007 den renommierten IT-Wettbewerb CIO des Jahres. Funk setzt sich seit vielen Jahren für mehr Frauen in der IT ein. Zusammen mit einer Kollegin hat sie eine COMPUTERWOCHE-Sonderedition zu Frauen in der IT aus der Taufe gehoben, die 2022 zum 6. Mal und mit dem erweiterten Fokus Diversity erschienen ist.
Bei Diversity geht es um mehr als Zugang. Wie Führungskräfte Silos aufbrechen, verrät Andreas Schindler, Geschäftsführer Avanade Schweiz.
Andreas Schindler verantwortet als Geschäftsführer bei der Avanade Schweiz GmbH die komplette regionale Geschäftsentwicklung. Er setzt sich für mehr Diversität in Unternehmen ein.
Andreas Schindler verantwortet als Geschäftsführer bei der Avanade Schweiz GmbH die komplette regionale Geschäftsentwicklung. Er setzt sich für mehr Diversität in Unternehmen ein.
Foto: Avanade

Herr Schindler, Sie sagen, wir brauchen echte Diversität in Unternehmen. Und Menschen statt Schubladen. Wie meinen Sie das?

Andreas Schindler: Häufig fällt in jüngerer Zeit der Begriff der "alten weißen Männer", ob in Gesprächen oder Medienbeiträgen. Doch seien wir ehrlich: Damit ist oft - wenn auch vielleicht implizit - gemeint, jüngere und in der Regel gut ausgebildete Frauen an deren Stelle zu bringen; im "besten Fall" wird dabei das gesamte Gender-Spektrum einbezogen. Eine solche Herangehensweise ist jedoch nichts anderes, als eine Bubble durch eine andere zu ersetzen.

Ich denke, wir sollten uns vielmehr fragen, ob wir denn mit der bisherigen Sichtweise unsere ganze gesellschaftliche Realität abbilden. Oder finden erneut viele Menschen kein Gehör, die ohnehin zu oft durch das Raster von Unternehmen fallen? Die Antwort: Für wahrhafte Diversität ist, die oben skizzierte Denkweise selbstredend nicht ausreichend. Die Inklusion von Menschen mit Erkrankungen oder anderweitigen persönlichen Einschränkungen ins Arbeitsleben wird viel zu selten thematisiert.

"Diverse Belegschaften arbeiten erfolgreicher"

Es geht also um mehr als nur Zugang?

Schindler: Es handelt sich dabei schon lange nicht mehr nur um Zugang ("Access"), sondern um volle Teilhabe ("Equity"). Und für Unternehmen sowie Organisationen geht es letztlich auch um den Kampf der besten Köpfe. Denn mehrere Studien - unter anderem von Accenture - belegen, dass diverse Belegschaften erfolgreicher arbeiten und Herausforderungen besser anpacken sowie lösen können. Unterschiedliche Sicht- und Denkweisen samt Know-how sowie eine charakterliche Vielfalt sind einige der wichtigsten Gründe dafür.

Wie sind Ihre eigenen Erfahrungen?

Schindler: Aus meiner eigenen Tätigkeit als Geschäftsführer kann ich bestätigen, dass bewusst vielfältig zusammengestellte Teams effizienter sind. Innovationsfähigkeit und Problemlösungskompetenz steigen analog.

Was müssen Arbeitgeber bei der Zusammenstellung von diversen Teams beachten?

Schindler: Es gilt, Bedarfsermittlung, Prozesse und Trainings für alle Beteiligten individuell anzupassen, um Stigmata aktiv abbauen zu können. Das perfekte, allgemein gültige Rezept gibt es leider nicht. Aber es gibt ein paar Grundregeln. Dazu zählt eine ehrliche Analyse zum Status quo. Auch die Basics, so selbstverständlich sie scheinen, müssen stets beachtet werden. Formulare und Vorlagen barrierefrei gestalten hilft etwa, um die Normalität herzustellen, die jeder Mensch verdient.

Wie sollten Unternehmen also konkret vorgehen?

Schindler: Zunächst geht es darum, eine zum Unternehmen passende Strategie zu finden und diese in die Prozesse einzubinden. Das beginnt, bevor die Menschen ins Unternehmen einsteigen. Wer etwa die Vorgaben für die Gewinnung von neuen Team-Mitgliedern nicht entsprechend gestaltet, springt bereits zu kurz; schon bei der Bedarfsermittlung muss die entsprechende Denkweise greifen. Und ebenso selbstverständlich müssen begleitende Prozesse angepasst werden. Eigene Trainings helfen, insgesamt eine entsprechende Wahrnehmung zu schaffen.

Jetzt hat man also ein Regelwerk. Was nun?

Schindler: Die nächste Herausforderung ist ungleich größer als die Findung eines Regelwerks. Enablement - also ein Ermöglichen, ein Können - über Strukturen und Weiterbildung ist keinen Cent wert, wenn die Menschen nicht mitziehen, weil sie nicht wollen. Ein solcher kultureller Wandel kann nicht über Prozesse erzwungen werden, das ist eine Tatsache. Denn nicht nur bei CRM, ERP und Co. gilt, dass neue Vorgehensweisen nicht immer auf fruchtbaren Boden fallen - das ist nur menschlich.

Haben Sie ein Beispiel?

Schindler: Etabliert ein Unternehmen als Plan A eine Regelung, um mehr Frauen einzustellen, wird es einen "Plan B" benötigen, falls am Arbeitsmarkt keine passende weibliche Kraft zu begeistern ist. Bewusst oder unbewusst werden viele Beteiligte aber eine erstaunliche Expertise aufbauen, um genau auf diesen Plan B aktiv hinzuarbeiten, anstatt ihre ganze Energie in Plan A zu investieren. Die Auflösung dieses Dilemmas ist mühsam, kann jedoch gelingen. Für das genannte Beispiel wäre es eine Option, die Personalsuche anders zu gestalten, etwa im Hinblick auf Portale, Team-Mitglieder oder Interview-Partner.

"Diversität heißt nicht, eigene Vorstellungen projizieren zu wollen"

Wer Dinge ändern will, stößt meist auf Ablehnung. Wie kann man hier überzeugen?

Schindler: Eine grundsätzliche Aufgabe ist es, das Verlassen der jeweiligen Komfortzone attraktiv zu gestalten. Das Durchbrechen von "Running Systems" fordert entsprechenden Einsatz. Dabei ist es wichtig, niemand einen Vorwurf zu machen, und sei es nur gedanklich. Denn es ist schon so: Die Vorteile für Einzelne sind abstrakt, die Aufwendungen für dieselben Personen hingegen sehr konkret. Hinzu kommt die Wahrnehmung impliziter Kritik, in der Vergangenheit sei etwas falsch gelaufen. Ein hohes Maß an Kommunikation ist daher das A und O.

Welche Rolle spielt dabei das Thema "Unconscious Bias", also das Vorhandensein unbewusster Annahmen in Bezug auf Geschlecht, Sexualität, Herkunft, Religion, Alter etc.?

Schindler: Auch beim Unconscious Bias gilt es, Teams und Führungskräfte zu sensibilisieren und zu trainieren. Steter Tropfen höhlt den Stein; dabei ist es in aller Regel ja nicht so, dass sich Team-Mitglieder bei dem Thema sperren. Eben weil es unbewusst ist, fehlt häufig schlicht die Fähigkeit, Situationen zu erkennen und zu bewerten. Der Ausweg: die Selbstreflexion erhöhen.

Was heißt das für die Führungskräfte?

Schindler: Das Leader-Team muss auf Augenhöhe und mit Respekt führen. Diversität heißt eben nicht, eigene Vorstellungen in eine diverse Belegschaft projizieren zu wollen. Es bedeutet, auf Eigenverantwortung, Vertrauen und Kommunikation zu setzen. Dabei darf auch kein Unconscious Bias also ein unnötiger Schutzinstinkt zum Tragen kommen.

Was sind solche unnötigen Schutzinstinkte?

Schindler: Wer Team-Mitglieder, die vermeintlichen Randgruppen angehören, nicht auch einmal konstruktiv kritisiert, erweist weder den Betroffenen noch sich oder dem Unternehmen einen Gefallen. Die Menschen wollen Leistung bringen; das funktioniert nur mit einer Trennung von Sach- und Persönlichkeitsebene. Ein Perspektivwechsel ist hier für Führungskräfte wichtig, jedoch können sie diesen nur vornehmen, wenn sie sich dazu auch befähigen: Kommunikation! Nachfragen, Mitarbeitende abholen.

Gibt es ein Positivbeispiel aus Ihrem Unternehmen?

Schindler: Ja, eine Kollegin ist nach gut überstandener ernsthafter Erkrankung in den Arbeitsalltag zurückgekehrt, durchaus mit Sorgen und Ängsten, ob und wie sie die Wiedereingliederung erfolgreich gestalten kann. Bereits kurze Zeit später war sie nicht nur voll integriert, sondern hatte eine Beförderung erhalten. Glauben Sie mir: Sie hat sie sich verdient. Nicht aus Rücksicht, sondern durch Leistung - davon profitiert sie selbst sowie das Unternehmen. Ich bin der Überzeugung: Unterschiede bereichern unser Leben, auch im Arbeitsleben. Der Verzicht auf Charaktere und Talente kostet viel mehr als womöglich daraus folgende Aufwendungen.