Windows-Versionen, die kaum jemand kennt

04.05.2012
Windows Server 2008 R2 und Windows 7 sind Microsofts Kassenschlager und genießen Promi-Status. Viele ihrer Verwandten fristen dagegen ein Schattendasein. Selbst Experten kommen bei diesen Kuriositäten ins Staunen.

Die Windows-Versionen, die in aller Munde sind, sind längst nicht die einzigen ihrer Art. Vielmehr hat Microsoft eine ganze Reihe von Varianten entwickelt. Die Rede ist hierbei nicht von Oldies wie Windows 286 und nie veröffentlichten Projekten wie Windows Neptune. Vielmehr geht es um aktuelle Windows-Versionen, die munter abseits der Öffentlichkeit existieren.

Schul(ungs)-Server

Öffentlichen Schulen und Hochschulen sowie privaten Instituten und Schulungsabteilungen von Unternehmen reicht die Leistung preisgünstiger PCs meist aus, um mehrere Benutzer gleichzeitig daran arbeiten zu lassen. Klassische Terminal-Server sind ihnen zu teuer, und Windows 7 kennt keinen Multiuser-Modus. Für dieses Szenario hat Microsoft "Windows Multipoint Server" (WMS) im Angebot. Der erste Versuch in Form von WMS 2010 erschien Anfang des Jahres 2010 und war primär für Schwellenländer gedacht. Dafür bietet diese Windows-Variante etwas, das es bislang bei keinem anderen Server-Betriebssystem aus Redmond gab: Die Tastaturen und Mäuse von Arbeitsplatz-Stationen lassen sich über USB-Hubs direkt an den WMS-PC anschließen. Die Monitore dieser Stationen werden ebenfalls direkt mit dem Server verbunden. Dazu sind mehrere Grafikkarten mit eigenen Videoausgängen in den Rechner einzubauen oder spezielle Multifunktions-Hubs per USB an den WMS-PC anzuschließen.

Multipoint Server

Zu den neuen Features des neueren, aktuellen "Windows Multipoint Server 2011", der im Frühjahr 2011 das Licht der Welt erblickte, zählt die Unterstützung von LAN/WLAN-Netzwerkstationen. Auf diese Weise hat Microsoft die Begrenzung auf wenige Meter, die prinzipbedingt durch die Nutzung von USB als Kommunikationsmedium auftrat, aufgehoben. Die Kommunikation mit LAN/WAN-Netzwerkstationen erfolgt über das hauseigene Remote Desktop Protocol (RDP). Außerdem bieten Hersteller wie NComputing Add-ons an, um die eigenen Stationen im LAN einzubinden.

Wie schon sein 2010er Vorgänger hat WMS 2011 Merkmale im Gepäck, die es von Microsoft andernorts nicht gibt. So erlaubt es die Splitscreen-Funktion zwei benachbarten Anwendern, sich einen einzigen physischen Monitor - idealerweise ein Breitbild-Display - zu teilen. Dafür müssen jedoch die Tastaturen und Mäuse direkt an den WMS-PC angeschlossen sein (auf Netzwerkstationen ist dieser Modus leider nicht verwendbar). Zudem werden mit dem WMS-PC verbundene USB-Speichermedien in der Desktop-Umgebung von Remote-Benutzern automatisch als Laufwerk eingeblendet.

Technisch ist die Verwandschaft mit Windows Server 2008 R2 SP1 unverkennbar. Das vereinfacht nicht nur die Bedienung, sondern auch die Verwaltung. Allerdings verfügt nur die auf 20 Stationen begrenzte Premium-Edition von WMS 2011 über die Möglichkeit zur Active- Directory-Domänenintegration sowie zum Betrieb als Hyper-V-Virtualisierungshost.

Schlankheitswahn

Ein in freier Wildbahn sehr selten anzutreffendes Client-Windows-Betriebssystem ist "Windows Thin PC". Es hat im Sommer 2011 die Nachfolge des betagten und noch auf Windows XP beruhenden "Windows Fundamentals for Legacy PCs" angetreten.

Windows Thin PC orientiert sich am modernen Windows 7. Damit sie auf leistungsschwachen, extrem energiesparenden oder veralteten Arbeitsplatzrechnern eingesetzt werden kann, hat Microsoft diese Betriebssystem-Variante radikal verschlankt. So begnügt sich Windows Thin PC bei Bedarf mit einem 800-Megahertz-Pentium-3-Prozessor und 512 MB RAM, so dass sogar auf Uralt-PCs ein Hauch von Windows-7-Feeling aufkommen kann.

Nur 512 MB für Windows

Der Abmagerungskur fiel bis auf Internet Explorer, Windows Explorer und Remote-Desktop-Verbindung praktisch alles zum Opfer. Erhalten blieben für Unternehmen wichtige Funktionen wie Gruppenrichtlinien, BitLocker und Direct Access. Genauso ist die Remote-Desktop-Verbindung mit an Bord. Wie bei Windows 7 beherrscht der in Windows Thin PC enthaltene RDP-Client die Version 7.1. Dadurch lassen sich visuelle Effekte wie Aero Glass auf dem Bildschirm darstellen. Außerdem ist die Arbeitsstation in Kombination mit Remote FX auch für VDI-Szenarien (Virtual Desktop Infrastructure) nutzbar.

Softwarefilter machen das Ganze noch interessanter. Mit ihrer Hilfe können Unternehmen Schreibzugriffe auf Laufwerke oder Dateien unterbinden oder Tastenkombinationen wie Strg+Alt+Entf ins Leere laufen lassen. So werden Veränderungen an der Konfiguration sowie dem Betriebsstatus des Windows-Thin-PC-Computers bequem verhindert.

Autos, Roboter und Co.

Aus technischer Sicht handelt es sich bei Windows Thin PC um eine Paketierung von "Windows Embedded Standard". Anbieter schlanker Computer wie Igel ziehen diese Windows-Variante ebenfalls in einer angepassten Form heran, um einige ihrer Thin-PC-Modelle damit ab Werk auszustatten.

Embedded-Varianten

Für viele andere Szenarien hat Microsoft weitere Embedded-Varianten kreiert. In aller Regel weisen diese nur einen kleinen Footprint auf und begnügen sich mit extrem wenig Speicher (teilweise reicht schon weniger als ein Megabyte). Dazu hat Microsoft den Funktionsumfang dieser Windows-Winzlinge auf spezifische Anforderungen abgestimmt. "Windows Embedded Automotive" zum Beispiel ist auf die Anforderungen in Fahrzeugen zugeschnitten. Hier kommt es beispielsweise auf die bequeme Medienwiedergabe und Sprachsteuerung an. Ein Autohersteller, der auf diese Technologie setzt, ist Fiat: Unter der Haube des Infotainment-Systems "Blue&Me" der Italiener werkelt ein angepasstes Windows Embedded Automotive von Microsoft.

Für Geräte, die etwa im Bereich der industriellen Automatisierung zur Robotersteuerung, in IP-Settop-Boxen sowie in der Medizintechnik eingesetzt werden, bietet Microsoft das Echtzeit-Betriebssystem "Windows Embedded Compact" an. Diese Weiterentwicklung des einst von Handhelds verwendeten "Windows CE", das bereits 1996 auf den Markt kam, läuft auch auf ARM-Prozessoren. Selbst in so manchem Kassensystem gibt Windows den Ton an. "Windows Embedded POSReady 7" nutzt Windows 7 als technisches Fundament und profitiert dadurch von Merkmalen wie der zentralen Verwaltung über Active-Directory-Gruppenrichtlinien, der Touchscreen-Bedienung sowie der Möglichkeit zum Anschluss von Barcode-Scannern und RFID-Lesern.

Anonymität

Dass diese Windows-Versionen ziemlich unbekannt sind, kommt nicht von ungefähr. Microsoft investiert hier bewusst kaum ins Marketing, weil sich die Zielgruppen in wenig lukrativen Nischen bewegen. Insbesondere die Embedded-Umsetzungen adressieren sehr spezielle Szenarien, deren Zielgruppe überschaubar ausfällt.

Das Manko von Windows Thin PC liegt im Bezugsmodell: Es steht nur Microsoft-Volumenlizenzkunden zur Verfügung (dann aber kostenfrei), die "Software Assurance" gebucht haben. Zwar schließt das Firmen, die sich für die Windows-Virtual-Desktop-Access-(VDA-)Lizenzierung entschieden oder ein Windows-Intune-Abonnement gekauft haben, ein. Allen anderen verwehrt der Softwareriese aus Redmond jedoch die Nutzung des extrem verschlankten Thin Windows.

Lizenzfragen

Windows Multipoint Server wiederum ist schlicht ein Produkt, das für Microsoft nicht sonderlich wichtig ist und deshalb stiefmütterlich behandelt wird. Im Wesentlichen wird das Marketing OEM-Partnern wie Fujitsu überlassen. Interessierte stolpern schon mal über die komplexen Lizenzbedingungen. Denn wer beispielsweise Microsoft Office auf dem Server laufen lassen möchte, braucht dafür ebenso wie für Terminal-Server-Umgebungen jeweils separate Lizenzen. Genauso ärgerlich ist, dass sich zum Virenschutz auf dem WMS-PC eigentlich nur Server-Lösungen eignen, die jedoch mehrmals so teuer sind wie die Desktop-Pendants. Das treibt die Kosten der Lösung in die Höhe - was potenzielle Spar-effekte des WMS-Gesamtpakets ad absurdum führt. (hi)

Eric Tierling ist freier Journalist und Buchautor im Rheinland.