Windows NT: Novell-Anwender zeigen keine große Euphorie

20.11.1992

Würde man im Bereich LAN-Betriebssysteme die jeweiligen Marktanteile zum Maß aller Dinge erklären, wäre die Situation eindeutig - zu groß ist die Übermacht von Novells Netware mit weltweit rund sechzig Prozent. Mit der Ruhe in diesem Marktsegment ist es jedoch vorbei, seit Microsoft-Chef Bill Gates vor rund zwei Jahren das Networking zur neuen Domäne seines Unternehmens erklärte. Machte sich die Gates-Company mit der Bauchlandung ihrer Netzsoftware LAN Manager zunächst zum Gespött der Branche, könnte, so Insider, dem Rohrkrepierer von einst nun ein Comeback zu gelingen - in Verbindung mit Windows NT oder als dessen Bestandteil. Die Debatte Windows/DOS kontra OS/2 hat jedenfalls, soviel steht fest, eine weitere, netzwerkorientierte Dimension erhalten. Nichts dokumentiert dies besser als das Bestreben Novells, sich vom Image einer reinen Netzwerk-Company zu befreien Offensichtlich weniger beeindruckt vom Marktgeschrei der Kombattanten zeigen sich indes die Novell-Anwender. Netware gegen ein anderes System (Windows NT) auszutauschen ist, so scheint es, für viele allenfalls eine Abwägungsfrage im konkreten Einzelfall, jedoch keine strategische Alternative.

Für Josef Reichhard, zuständig für den Bereich Systembetreuung Großrechner und PC bei der Ehichem Deutschland AG, ist die Situation klar. Bei der Münchner Dependance des italienischen Chemieriesen ENI steckt man, was Client-Server-Computing und LAN-Erfahrung betrifft, gewissermaßen noch in den Kinderschuhen und befindet sich derzeit in der Planungsphase. Mitte nächsten Jahres soll ein Konzept verabschiedet werden, das nach Angaben von Reichhard zunächst die Vernetzung von rund 60 PCs sowie deren Anbindung an den firmeneigenen BS2000-Großrechner vorsieht.

Neben dem Einsatz von Standard-Applikationen wie Windows und Excel ist Reichhard zufolge vor allem vorgesehen, die Adabas-Datenbank vom Großrechner auf das Netz herunterzuladen. Wie die meisten Downsizer erwartet der IT-Manager von einer PC-LAN-Struktur eine Erleichterung für den eigenen User-Support, mehr Datensicherheit sowie eine bessere Zugänglichkeit der Daten und Ausnutzung von Peripheriegeräten. Auch wenn angesichts des aufgestellten Kriterienkataloges "noch keine grundsätzliche Entscheidung für Netware getroffen wurde", spricht nach Auffassung Reichhards zum gegenwärtigen Planungsstand vieles für das Produkt des Marktführers, das "in gewissem Sinne durchaus als Standard bezeichnet werden kann".

Diese Anschauung vertritt wirft man einen Blick auf die Anzahl der verkauften Lizenzen - offensichtlich nach wie vor die Mehrzahl der LAN-Anwender und kann es, wenn es nach dem Unternehmensberater Franz-Joachim Kauffels geht, "weiterhin beruhigt tun". Daran ändere auch, wie der Netzwerk-Spezialist ausführt, das gegenwärtige Durcheinander im

Markt und die damit einhergehende Verunsicherung wenig. Feuchte Hände vor Aufregung rechtfertige für Netware-Anwender höchstens das Warten auf das neue Release 4.0, das, so Kauffels, "endlich über ein Naming-System verfügen wird, und die unzähligen Netware-Inseln in den Unternehmen in angemessener Weise zusammenführt".

Gemeint ist ein X.500-Directory-Service, der innerhalb der Netware-Welt auf beliebige Server verteilt werden kann und den die Novell-Anwender bisher vermißten - vor allem angesichts vergleichbarer Features beim Konkurrenzprodukt Banyan Vines. Speziell dieser Global Naming Service ist einer der Gründe, weswegen beispielsweise die Kommunalverwaltung der Stadt Pforzheim in Richtung Netware 4.0 marschiert. Dort sind derzeit, wie Andreas Hurst, Leiter des Benutzerservice, berichtet, zwölf Netware-3.11-Server im Einsatz, die rund 400 Netzanwender bedienen. Die kommunalen Beamten haben sich Hurst zufolge fürs nächste Jahr einiges vorgenommen. So soll die bisherige Token-Ring-Konzeption der Stadtverwaltung durch einen FDDI-Backbone ergänzt beziehungsweise umgestellt werden, zweites Projekt von größerer Tragweite ist die flächendeckende Umstellung auf Netware 4.0. "Wenn wir migrieren, dann komplett in einem Zug", gibt DV-Planer Hurst als Devise aus. Als registrierter Entwickler und Mitglied der von Novell initiierten "Netware-4.0-Focus-Gruppe" weiß der Schwabe offensichtlich mehr als andere Anwender, worauf er sich einläßt; jedenfalls hat er konkrete Vorstellungen davon, was das neue Netware-Release leisten soll: eine Vereinfachung der netzweiten Benutzerverwaltung, eine bessere Datennutzung durch erhöhte File-Kompression sowie eine generelle Erleichterung durch die Möglichkeit, das Netware-Menü mehrsprachig und insbesondere deutsch erscheinen zu lassen.

Zurückhaltender in Sachen Netware 4.0 ist man momentan noch bei der Düsseldorfer BP Chemicals GmbH. Die deutsche Tochter und Chemie-Division des britischen Mineralölmultis betreibt ein PC-LAN auf Netware-3.11-Basis mit Anbindung an die Großrechnerwelt des

Mutterkonzerns. Nach Angaben von Hubert Abels, Gruppenleiter EDV, decken die rund 60 vernetzten PCs mit ihren Applikationsmöglichkeiten den Tagesbedarf und sind "die einzige Plattform, die wir in der

Niederlassung noch haben". Derzeit sei man, wie der LAN-Koordinator

bilanziert, "mit der Netware-3.11.-Version zufrieden". Zwar wäre der für Abels nächste denkbare Schritt die Server. Spiegelung mit Netware 4.0, ernsthaft daran denken würden die Düsseldorfer Chemiker jedoch erst, "wenn die Gewißheit bestehe, daß dies auch vernünftig funktioniert".

Skeptisch gegenüber dem Thema Netware 4.0 sind auch die DV-Verantwortlichen beim Hamburger Axel Springer Verlag. Walter Glissmann vom Support-Center PC-Netze will sich zwar das neue Netware-Release, wenn es nächstes Jahr auf den Markt kommt, anschauen; solange man jedoch nichts genaues weiß, heißt für ihn die Devise abwarten. Der Grund: "Oft genug halten die mit lautem Getöse erfolgten Ankündigungen nicht, was die tatsächlichen Features nachher bieten" gibt der PC-Koordinator, zu Protokoll. Zudem sei das strategische Netzwerk-Betriebssystem des Verlages Banyan Vines, während Netware vorwiegend als Insellösung für spezielle Applikationen eingesetzt werde. Glissmanns Favorit für eine eventuelle Neueinführung ist daher eher Banyans neue Connectivity-Lösung ENS für Netware, um so beide Netzwerkwelten besser verbinden zu können.

Nun will Novell im nächsten Jahr ja nicht nur sein neues Netware-Release lancieren. Auch Microsoft überraschte vor wenigen Wochen mit dem LAN Manager 2.2, und das derzeit überall diskutierte Windows NT soll - glaubt man jüngsten Ankündigungen - kurz nach Netware 4.0 auf den Markt kommen. Der Softwaregigant in Redmond will, das ist ja kein Geheimnis mehr, über die "Windows-Schiene" endlich in Novells Bastion einbrechen und zu einem ernsthaften Mitbewerber in diesem Marktsegment avancieren. Das Low-end-Produkt Windows for Workgroups könnte hier - von seiner Konzeption her und dem sich abzeichnenden Erfolg nach Auffassung vieler Insider nur ein Vorgeschmack dessen sein, was auf Novell in den nächsten Jahren in puncto Wettbewerb zukommen wird.

Auseinandersetzen mußte sich der LAN-Primus aus Provo seit je her mit den unzähligen Windows-Applikationen auf den PCs und hat dieses Problem, so der einhellige Tenor in der Branche, bisher - was die Integration der Windows-Welt in Netware angeht - auch zufriedenstellend gelöst. Die Frage die sich angesichts der Microsoft-Strategie eines "All-in-one-Konzeptes" stellt, ist die nach der Vergänglichkeit der Windows-Argumentation für Novell-Anwender.

"Windows ist für uns eine strategische Entscheidung", erklärt der Kommunalbeamte Hurst - "allerdings nur für den Desktop-Bereich". Die Pforzheimer DV-Spezialisten haben trotz ihres Plädoyers für Netware Windows NT in einer Beta-Version installiert und sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: Windows NT sei ein PC-Betriebssystem, vergleichbar OS/2, und für den Einsatz an High-end-Arbeitsplätzen prädestiniert; beispielsweise im CAD/CAM-Bereich. Wolle man Windows NT etwa mit Netware 4.0 vergleichen, müsse man, so Hurst, "ein Add-on wie den LAN Manager für Windows NT miteinbeziehen". Komme Windows NT als Insellösung in einer Netware-Umgebung zum Einsatz, sei dies voraussichtlich problemlos zu bewerkstelligen, weil man davon ausgehen könne, "daß von Windows NT aus auch auf Netware-File- und -Print-Services zugegriffen werden kann."

Den Markt weiter beobachten will Axel-Springer-Mann Glissmann, konkrete Planungen in Richtung Windows NT gebe es in Hamburg jedoch nicht. Die DV-Abteilung des Verlagshauses bereite zwar derzeit den Testbetrieb mit einer Betaversion von Windows NT vor - Intention sei aber zunächst nur, die grundsätzliche Frage zu klären, "ob der Einsatz dieses Systems für uns Oberhaupt Sinn macht". Der PC-Experte glaubt einerseits, daß der Markt prinzipiell ein Betriebssystem benötigt, "der das herkömmliche Windows als Betriebssystem-Erweiterung ablöst", kann sich jedoch - schon aus Kostengründen nur schwer vorstellen, daß das aufwendige Windows NT "sich am normalen Büroarbeitsplatz wird durchsetzen können".

Sowieso scheinen die Anwender, dieser Eindruck drängt sich dem Beobachter mehr und mehr auf, des Geschreis der Marketiers langsam, aber sicher überdrüssig zu werden. "Netware 3.11 ist zur Zeit noch das, was uns vollkommen ausreicht und auch hinlänglich beschäftigt", gibt der Leiter des User-Supports eines renommierten deutschen, international tätigen Haarkosmetik-Herstellers und Friseur-Ausstatters zu bedenken. Der hessische DV-Spezialist will jedoch namentlich nicht genannt werden - vielleicht auch deshalb, weil er kein Blatt vor den Mund nimmt.

Die derzeitige Diskussion Über Betriebssysteme verunsichert jedenfalls seiner Meinung nach ganz erheblich den Markt und trägt nicht gerade zu einem entsprechend günstigen Investitionsklima bei. "Für den normalen Anwender bringt Windows NT zunächst genauso wenig wie OS/2", schreibt er den Vertriebs- und Marketing-Stäben der Hersteller ins Stammbuch. Gewinner seien in erster Linie die Softwarefirmen, indem sie immer neue Programme mit unüberschaubareren Ausmaßen anbieten und auch verkaufen, die die Anwender in vielen Fällen gar nicht benötigen.

In seinem Verantwortungsbereich hat der User-Support-Chef daher die Notbremse gezogen. So wird man, wo immer es Sinn macht, weiterhin auf DOS setzen und sicherlich "in Zukunft auch verstärkt mit einer Windows-Oberfläche arbeiten".

Nur im Einzelfall geprüft werde daher der Einsatz von Lösungen wie Windows NT oder OS/2, schon aufgrund der vorhandenen 286er Hardwarebasis. "Wir können weder für OS/2 noch für Windows NT auf einen Schlag alle unsere Rechner wegschmeißen und, wie es die Industrie gerne hätte, neue kaufen", definiert der streitbare Anwender seinen Sparkurs und fügt hinzu: "Bevor wir auf der Betriebssystem-Schiene umschwenken, sind wir eher bereit, auf der Novell-Seite eine Änderung vorzunehmen".

Ins gleiche Horn stößt auch Hubert Abels von BP Chemicals. Er steht in seinem Verantwortungsbereich unter Umständen vor einem gewissen Dilemma, weil sich der britische Mutterkonzern gerade in einem

Rahmenvertrag mit Microsoft für die konzernweite Einführung entsprechender Produkte auf der Desktop-Ebene ausgesprochen hat. Dies könnte Abels zufolge mittel- oder langfristig sicherlich zu der Entscheidung führen, Windows for Workgroups beziehungsweise Windows NT einzusetzen - vor allem auch in der bis dato klassischen Netware-Domäne, dem Server-Bereich.

Dies aber erst, wenn erwiesen ist, "daß eine Umstellung Vorteile mit sich bringt und bessere Kommunikationsmöglichkeiten gewährleistet, als Novell sie momentan bietet". Sei dies nicht der Fall, sieht der Düsseldorfer IT-Manager für Microsofts Absatzchancen eher schwarz: "Nur wegen eines anderen Betriebssystems auf 486er Rechner

umzusteigen, wäre der Unternehmensleitung nicht vermittelbar".

Die Lösung aus einer Hand, wie Microsoft sie propagiert, ist letztlich auch für den Axel Springer Verlag kein Argument. "Warum soll ein Anwender ohne ersichtlichen Grund den Schritt in Richtung Vereinheitlichung der Betriebssysteme gehen und sich damit in die Abhängigkeit eines einzigen Hersteller begeben?" gibt Glissmann zu bedenken.

Etwas gelassener, kann man die politische Debatte bei Datev eG, der DV-Organisation für die bundesdeutschen Steuerberater, verfolgen. Deren Sprecher, Thomas Kähler, weiß von der überwiegenden Mehrheit der angeschlossenen Kanzleien, daß dort vorwiegend Novells Netware im Einsatz ist. Die als Genossenschaft strukturierte Organisation hat zwar allein am Standort Nürnberg 52 verschiedene Netze im Inhouse-Betrieb mit allen gängigen Netzwerk-Betriebssystemen laufen, neben der eigenen Verwendung sei jedoch immer maßgebend, was bei den Kanzleien der einzelnen Mitglieder im Einsatz sei. Konsequenz laut Kähler: "Wofür die sich entscheiden, werden wir als Dienstleistungs-Organisation immer unterstützen müssen".

Im Moment ist es daher, so Kähler, nur schwer vorstellbar, "daß wir aufgrund der vielen Applikationen, die bei unserer Klientel auf Novell-Basis laufen, ohne weiteres umschwenken könnten". Gleichwohl arbeiten die Nürnberger seit knapp einem Jahr an einer neuen Softwaregeneration auf Basis von OS/2 2.0, die, den Steuerberatern eine völlig neue, durchgängige grafische Benutzeroberfläche bereitstellen soll. Dabei wird Kähler zufolge sowohl die Verbindung mit der Novell- als auch der Windows-Welt gewährleistet sein.

Was die Durchführung dieses Projekts im Markt bewirken würde, ist sich der Datev-Sprecher durchaus bewußt. Wir wissen, so Kähler, was es für die IBM bedeutet, wenn wir sagen: "OS/2 ist es, und 33 000 Steuerkanzleien schlagen zu." Gleichwohl erwarten die Mitglieder von Datev nicht nur eine "wegweisende Denke", sondern vor allem auch eine investitionsschätzende Vorgehensweise. Deshalb halte sich die Datev insofern noch bedeckt, um solange wie möglich einen kostengünstigen Umstieg auf Windows NT bewerkstelligen zu können. Kählers Argument: "Es gewinnt nicht immer das bessere Betriebssystem, sondern oft das, für das besser geworben wird".

Daß die Anwender dem Rühren der Werbetrommel seitens der Hersteller nach wie vor zuviel Aufmerksamkeit widmen beziehungsweise sich selbst und ihre eigenen Anforderungen an ein Netzwerk-Betriebssystem überbewerten, glaubt indes Franz-Joachim Kauffels. "Der Netzwerk-Betriebssystem-Markt bietet dem Anwender endlich das Durcheinander, das er sich seit Jahren wünscht", lautet seine Analyse. Eine ganze Reihe von Anwendern wollen eine Art eierlegende Wollmilchsau mit Multiuser- und Multitasking-Features, die nichts koste, keinen Speicherplatz benötige und unzählige Funktionen anbiete. Fragt man dann, so Kauffels trockenes Fazit, welche Applikationen tatsächlich zum Einsatz kommen, stellt sich heraus, daß man "in vielen Fällen lediglich die alte DOS-Textverarbeitung darauf laufen läßt".