Mit nachhaltigem Design Datenschätze heben

Wie "künstlich" ist die Intelligenz im Finanzsektor

01.03.2019
Von 


Dr. Roman Zollet ist Digital-Experte und in der Finanzbranche zu Hause. Er kennt die Herausforderungen der Finanzinstitute und berät sie seit über zehn Jahren in typischen Fragen des digitalen Wandels. Seit 2006 arbeitet er bei der Fullservice-Digitalagentur Namics und wurde 2015 zum Partner der inhabergeführten Agentur berufen. Als Client Service Director verantwortet er aktuell Kunden aus der Finanzbranche, zum Beispiel UBS und Swiss Life.
Auf Anwendungen mit Machine-Learning-Komponenten oder Deep Learning greifen Banken und Versicherungen höchstens zur Effizienzsteigerung zurück. Das Potenzial von Künstlicher Intelligenz für Innovationen in Richtung der Kunden ist allerdings noch nicht ausgeschöpft.
Eine optimale persönliche Kundenansprache am Bankschalter. Funktioniert das mit künstlicher Intelligenz auch digital?
Eine optimale persönliche Kundenansprache am Bankschalter. Funktioniert das mit künstlicher Intelligenz auch digital?
Foto: Laboo Studio - shutterstock.com

Artificial Intelligence ist der Begriff der Stunde. Auch Banken und Versicherungen versuchen, die Möglichkeiten der "lernfähigen Systeme" zu nutzen, schließlich erfüllen sie eine Grundvoraussetzung: Sie sitzen auf einem Berg von Daten, aus dem sich wertvolle Einsichten gewinnen und anwenden ließen. Doch bislang gehen sie mit diesem Asset noch eher verschwenderisch um.

Versicherungen verwenden laut World Insurance Report 2018 von Capgemini fortgeschrittene Analytik und die sich daraus ergebenden ausführbaren Einsichten ("Insights to Action") hauptsächlich auf einer grobgranularen Ebene. Dabei bedienen sie sich zumeist historischer Daten. Das reicht immerhin, um Prozesse zu beschleunigen oder Entscheidungen zu unterstützen.

Der erste Schritt zur künstlichen Intelligenz würde, so die Marktforscher, die Nutzung von Echtzeitdaten voraussetzen. Damit wäre eine Analyse und Vorhersage des individuellen Kundenverhaltens möglich. Aber diese Art Verhaltensforschung ist im Assekuranzbereich eher die Ausnahme als die Regel.

Die hohe Analytics-Kunst ist dann eine Kombination mit ML-Modellen oder Neuronalen Netzen. Sie ermöglicht es, die traditionellen Prozesse und operativen Modelle neu zu definieren und damit innovative Produkte beziehungsweise Geschäftsmodelle - einschließlich automatisierter Entscheidungen - zu entwickeln. Aber dazu ist bislang höchstens eine von sechs Versicherungen in der Lage.

Schlafende KI-Potenziale im Finanzsektor

Auch in der Finanzwirtschaft werden selbstlernende Systeme längst noch nicht flächendeckend eingesetzt. Es existieren einige Leuchtturmprojekte. Beispielsweise werden heute schon ML-Modelle entwickelt und genutzt, um Betrugsversuche zu entlarven. Aber im Großen und Ganzen legen Banken und Sparkassen den Fokus darauf, ihre existierenden Systeme effizienter zu machen. KI-getriebene Innovationen für das Kunden-Interface gibt es in der Finanz- und Versicherungswirtschaft kaum - zumindest nicht in Europa.

Im Gegensatz zu traditionellen Banken zeigen FinTechs Ansätze für neue Geschäftsmodelle, zum Beispiel Crowd Sourcing. Aber sie haben die Branche vor allem deshalb durcheinandergewirbelt, weil sie mit flachen Hierarchien, Do-it-yourself-Frontend und automatisierten Prozessen im Background kostengünstiger sein können als traditionelle Anbieter. Eine grundlegende Transformation des Geschäfts findet aber auch hier nicht statt.

Die Verbesserung der Kundeninteraktionen ist für viele Banken eben noch kein dominantes Thema. Dabei ließen sich mit KI-Hilfe hervorragend die aktuellen Lebensumstände des einzelnen Klienten analysieren, so dass man ihm wirklich maßgeschneiderte Finanzprodukte empfehlen könnte. Oder um es wie der Buch- und Blog-Autor Chris Skinner zu sagen: "Viele Banken nutzen KI vor allem für Compliance- und Risikoabschätzungen sowie für die Automatisierung von Bereichen, die sich zuvor nur schwer automatisieren ließen … Meiner Ansicht nach ist die Künstliche Intelligenz aber viel interessanter, wenn sie eingesetzt wird, um mehr Kundennähe zu schaffen und den jeweiligen Finanz-Lifestyle zu verstehen."

Individuelle Versicherungstarife sind erst der Anfang

Im Versicherungssektor sieht es kaum besser aus. Zwar möchten einige Krankenversicherungen gern die Daten aus den Fitness-Armbändern ihrer Kunden auslesen, um sie für eine gesunde Lebensweise mit günstigen Tarifen zu belohnen, und die ersten Autoversicherer kommen umsichtigen Fahrern finanziell entgegen, sofern sie Daten über deren Fahrweise sammeln können. Aber das sind noch Einzelfälle.

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In Asien ist man da schon weiter. Zum Beispiel im Schadensmanagement: der Assekuranzzweig des chinesischen Multikonzerns Alibaba ist heute schon in der Lage, einen Unfallschaden innerhalb von Sekunden anstatt im Verlauf von Tagen oder Wochen zu regeln – mit Hilfe einer Big-Data-Plattform, die vom Versicherten gemachte Handy-Fotos des Unfallorts unmittelbar auswerten kann.

Schadensregulierung mit wenigen Klicks ist in China teilweise schon Alltag.
Schadensregulierung mit wenigen Klicks ist in China teilweise schon Alltag.
Foto: Andrey_Popov - shutterstock.com

Fazit: Es fehlt digitales Design

Möglicherweise haben die europäischen Versicherungen und Banken ja nur ein wenig Starthilfe nötig. Neben verlässlichen Daten brauchen sie ein Konzept, wie sie ihre Produkte und Services ausweiten und innovativer gestalten können, quasi ein Digitales Produkt- und Service-Design.

Als Goldstandard hat sich hier ein vierstufiges Vorgehen erwiesen: von den "Einsichten und Visionen" bezüglich der Kunden über das eigentliche Design der digitalen Produkte und Services und dem anschließenden Proof of Concept bis zur Implementierung und Inbetriebnahme, die schließlich in die Vermarktung mündet.
Dazu müssen die drei Kompetenzen Geschäftsmodell, Design und Technik nahtlos ineinandergreifen. Vor allem aber sollten nicht die Methoden, sondern die Bedürfnisse der Nutzer im Mittelpunkt stehen.