Revolution der Barrierefreiheit

Wie KI die Inklusion verbessert

05.06.2023
Von   IDG ExpertenNetzwerk
Thomas Kräuter ist seit 2021 CTO bei intive. Der Experte für digitale Transformation blickt auf mehr als 17 Jahre Erfahrung in der IT-Branche zurück. Vor seinem Einstieg bei intive 2017 war er u.a. bei BSH tätig. Er hat an der TH Ingolstadt studiert und ist unter anderem Mitglied der IEEE Technology and Engineering Management Society (TEMS).
Künstliche Intelligenz kann den Alltag von Menschen mit Einschränkungen erheblich verbessern. Das sind die wichtigsten Anwendungsfälle.
Künstliche Intelligenz kann den Alltag von Menschen mit Einschränkungen erheblich verbessern.
Künstliche Intelligenz kann den Alltag von Menschen mit Einschränkungen erheblich verbessern.
Foto: jittawit21 - shutterstock.com

Kaum ein Tag vergeht ohne Schlagzeilen über bahnbrechende KI-Innovationen: Voice-Cloning rüttelt die Musikindustrie auf, Text-zu-Video-Programme werden stetig verbessert und durch Plug-ins bekommen Chatbots Zugang zum Internet. Ein Bereich, in dem Künstliche Intelligenz enormes Potenzial bietet, ist bislang jedoch wenig beachtet worden: die Barrierefreiheit und Inklusion.

Dabei kann KI den Alltag von Menschen mit Einschränkungen erheblich verbessern, indem sie Aufgaben automatisiert, die normalerweise menschliche Intelligenz erfordern. Das sind die wichtigsten Anwendungsfälle.

Wirklich smarte Sprachassistenten

Alexa, Siri und Co. machen tägliche Aufgaben für Menschen mit eingeschränkter Mobilität zugänglicher. Besonders praktisch ist die Verknüpfung mit Smart-Home-Geräten wie Beleuchtung, Thermostaten und Türsteuerung. Doch in Bezug auf Konversations-Skills erfüllen Sprachassistenten die hohen Erwartungen bislang nur teilweise: "Das weiß ich leider nicht" ist die Standardantwort auf komplexere Fragen.

Bei komplexeren Anforderungen müssen Alexa, Siri & Co. in der Regel kneifen.
Bei komplexeren Anforderungen müssen Alexa, Siri & Co. in der Regel kneifen.
Foto: Tada Images - shutterstock.com

Der Durchbruch von großen Sprachmodellen schafft nun enormes Potenzial, Assistenten weiterzuentwickeln. Anstatt nur Informationen bereitzustellen oder rudimentäre Anfragen zu beantworten, werden Sprachassistenten wirkliche Dialoge führen können und zahlreiche Aufgaben erledigen können – und sich so zu echten Alltagshelfern entwickeln. Menschen mit Einschränkungen wird das helfen, unabhängiger zu agieren.

Diese Funktionen sind nicht nur auf Smart Speaker beschränkt, sondern lassen sich vielfältig integrieren. Ein Beispiel dafür ist die Plattform Connecting You Now, die Bürger dabei unterstützt, sich im Dschungel von Behördenwebseiten schneller zurechtzufinden. Über das Front-End können sie über Sprache oder Text mitteilen, welche Services sie benötigen und werden zur richtigen Stelle gelotst.

Text-to-Speech und Speech-to-Text

KI-Lösungen, die geschriebene Inhalte vorlesen (Text-to-Speech) oder gesprochene Wörter in Text umwandeln (Speech-to-Text), machen Informationen für Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen leichter zugänglich. Solche Generatoren werden schon in vielen Bereichen eingesetzt – etwa im Gaming, für Animationen und für Hörbücher.

Damit diese Tools richtig genutzt werden können, müssen Webseitenbetreiber tätig werden und sicherstellen, dass alle Inhalte in Textform vorliegen und von Screenreadern erfasst werden können. Es gibt bereits eine Vielzahl von Text-to-Speech-Generatoren mit verschiedenen Features (etwa mehrere Sprecherstimmen).

Ein Beispiel dafür ist Speechify. Für Webseiten, die nicht barrierefrei gestaltet sind, schaffen Bild-zu-Text-Lösungen zunehmend Abhilfe. Diese erkennen Bilder und Texte auf Webseiten und wandeln diese Informationen in hörbare Sprache um.

Bild- und Objekterkennung im Alltag

KI-gesteuerte Bild- und Objekterkennung kann Menschen mit Sehbeeinträchtigungen dabei helfen, ihre Umgebung besser wahrzunehmen: So etwa Microsoft Seeing AI, eine Computer-Vision-Plattform, die das Aussehen von Personen beschreibt, Texte vorliest oder Gesichter erkennt. OrCam entwickelt KI-basierte Geräte mit integrierter Kamera, die am Brillengestell befestigt werden und Texte laut vorlesen können – und so ein neues Maß an Unabhängigkeit für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen ermöglichen.

KI-gesteuerte Prothesen und Mobilitätshilfen

Hand- und Armprothesen haben sich in den letzten Jahren dramatisch verbessert. Aber dennoch haben viele Nutzer Schwierigkeiten, sie zu steuern. Zukünftig werden fortgeschrittene KI-Algorithmen in Prothesen und Mobilitätshilfen integriert, um eine natürlichere, intuitive Bewegung und Kontrolle zu ermöglichen.

KI-gesteuerte Geräte können aus den Bewegungen und Gewohnheiten des Benutzers lernen und personalisierte Unterstützung sowie erweiterte Funktionalität bieten. KI kann zum Beispiel in Armprothesen eingesetzt werden, damit diese autonom Fingerbewegungen ausführen können, wenn die Finger sich auf ein Objekt zubewegen. Solche Prothesen befinden sich noch ganz am Anfang der Entwicklung, aber schon jetzt gibt es beachtliche Fortschritte in diesem Bereich.

Übersetzung von Gebärdensprache

1,6 Milliarden Gehörbeeinträchtigte gibt es weltweit laut WHO – darunter schwerhörige und gehörlose Menschen. Es gibt zwar Projekte, die Computern die Gebärdensprache beibringen, sie weisen aber aufgrund mangelnder Trainingsdaten oft keinen hohen Reifegrad auf.

Von einer standardmäßigen Produktion von Texten und Videos in Gebärdensprache durch KI sind wir noch weit entfernt. Doch auch hier werden Fortschritte gemacht. Ein besonders gutes Beispiel ist das von Priyanjali Gupta: Die Maschinenbau-Studentin hat kürzlich ein Modell entwickelt, das bestimmte Gebärdensprachen-Zeichen ins Englische übersetzt – das Video davon ging auf Linkedin viral.

Personalisiertes Lernen

KI-gesteuerte Bildungsplattformen können sich an die individuellen Lernbedürfnisse von Menschen mit Behinderungen anpassen sowie maßgeschneiderte Bildungsinhalte und Unterstützung bieten. Diese Systeme analysieren den Lernstil, die Stärken und Schwächen der Benutzer und passen den Unterricht an, um optimale Lernerfolge zu erzielen. Indem sie individualisierte Lernmöglichkeiten bieten, unterstützen sie eine inklusive Bildung und Chancengleichheit.

Ein riesiges Potenzial

Es gibt inzwischen eine KI für fast alles – darunter auch zahlreiche zweifelhafte Anwendungen. Die oben genannten Beispiele zeigen jedoch das riesige Potenzial der Technologie auf, Menschen mit Einschränkungen eine größere Teilhabe zu ermöglichen. Es bleibt spannend zu beobachten, welche KI Lösungen für die komplexesten Herausforderungen von Menschen mit Einschränkungen hervorbringen wird. (mb)