Künstliche Intelligenz findet Talente

Wie KI das Personalwesen auf den Kopf stellt

27.06.2022
Von 
Dipti Parmar ist eine Marketing- und Technologieberaterin für Startups, E-Commerce-Marketn und B2B SaaS-Unternehmen. Sie ist Mitgründerin der Agentur 99stairs in Indien.
KI-Tools haben das Potenzial, das Personalwesen nachhaltig zu verändern. Optimisten erhoffen sich neue Möglichkeiten und Kosteneffekte. Skeptiker warnen dagegen davor, sich zu stark auf Daten zu verlassen.
Wie kann Automatisierung im Recruiting helfen?
Wie kann Automatisierung im Recruiting helfen?
Foto: Andrey_Popov - shutterstock.com

Da die Personalfluktuation in den Unternehmen hoch ist und der Fachkräftemangel unter Personalern ein Dauerthema, steht das Finden und Halten von Talenten nahezu überall weit oben auf der Agenda. Der Markt für Human Resource Management (HRM) einschließlich Software und Dienstleistungen rund um die Talentakquise wird derzeit auf fast 20 Milliarden Dollar geschätzt. Marktbeobachter erwarten, dass er bis 2028 aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung und Automatisierung der Personalbeschaffung und -verwaltung jährlich um über zwölf Prozent wächst.

Weltweit legen Unternehmen den Schwerpunkt darauf, die besten und klügsten Köpfe zu finden und an sich zu binden. Die Fortschritte in den Bereichen künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) bieten ihnen dabei ganz neue Möglichkeiten, ihr Recruiting zu automatisieren, während sie gleichzeitig mit radikalen Veränderungen in der Arbeitswelt konfrontiert sind.

Was bedeutet Automatisierung im Recruiting?

Vier von fünf Personalvermittlern geben in einer vom HR-Automation-Spezialisten Entelo beauftragten Studie an, ihre Produktivität würde steigen, wenn sie die Bewerbersuche und -einstellung weitestgehend automatisieren könnten. Die Befragten glauben, dass zusätzliche Daten sie bei vielen Aufgaben unterstützen könnten, zum Beispiel beim Bewerten von Kandidatenpools, dem Optimieren der ersten Kontaktaufnahme oder dem Ablauf des Einstellungsprozesses.

Dennoch verfügen 42 Prozent nicht über die nötigen Daten und auch nicht über die Zeit, um Analysen zu vertiefen und Daten in Erkenntnisse umzuwandeln. Jeder Tag, an dem eine Stelle unbesetzt bleibt, kostet Unternehmen aber Produktivität und im Zweifel auch Ertrag. KI-Tools können wichtige Daten über Kandidaten sammeln, den Per­sonalverantwortlichen zur Verfügung stellen und helfen, Teilprozesse zu beschleunigen und zusätzlich zu rationalisieren.

Wann geht Automatisierung schief?

"Die Zeiten, in denen man Hunderte von Lebensläufen von Hand sortieren und Stellenausschreibungen an jedem Board einzeln veröffentlichen musste, sind endgültig vorbei", sagt Ilit Raz, CEO von Joonko, einem Startup, dass Recruiting nach Diversity-Kriterien fördert. "Ohne HR-Technologie oder irgendeine Form der Automatisierung werden Arbeitgeber immer einen Schritt hinter ihren Wettbewerbern zurückbleiben, insbesondere wenn es um den Prozess der Rekrutierung geht", zeigt sich Raz überzeugt.

Für die Automatisierung des Recruiting-Prozesses stehen heute zahlreiche Lösungen im Software-as-a-Service(SaaS)-Modell bereit. Sie werden zunehmend durch KI unterstützt und können für nahezu alle Aspekte des Workforce-Managements eingesetzt werden. Zentrale Aufgaben sind:

  • Automatisieren von Rekrutierungsaufgaben und Arbeitsabläufen

  • Senken der Kosten pro Einstellung

  • Steigern der Produktivität von HR-Personal und Recruitern

  • beschleunigtes Besetzen offener Stellen

  • unvoreingenommenes Einstellen von Talenten

  • Verbessern des Talentprofils im Unternehmen insgesamt

Wie hilft KI-basierte Recruiting-Automatisierungstechnologie?

Für folgende Aufgaben kann KI eine wichtige Rolle spielen:

  • Ausschreibungen von Stellenanzeigen: Recruiting-Software kann helfen, automatisiert Werbeplätze auf Jobplattformen und anderen Websites zu kaufen. Sie nutzt die Möglichkei­ten von programmatischer Werbung und unternehmensspezifischem Content, um Stellen­anzeigen auf Websites zu schalten, die von den Zielkandidaten häufig besucht werden. Die Software kann auch helfen, das Budget für Stellenanzeigen optimal einzusetzen und die Kosten pro Bewerber zu senken.

  • Bewerbungs-Tracking: Ein ATS (= Application Tracking System) ist eine Software, die den gesamten Einstellungs- und Rekrutierungszyklus für ein Unternehmen automatisiert. Es bietet einen zentralen Ort, um Stellenausschreibungen zu verwalten, Lebensläufe zu sortieren, Bewerbungen zu filtern und die am besten geeigneten Kandidaten für offene Stel­len zu identifizieren. Auf diese Weise können Personalverantwortliche den Überblick behal­ten und haben einfachen Zugang zu den Details über den Stand des Einstellungsprozesses eines Bewerbers.

  • Lebenslauf-Screening: Die manuelle Über­prüfung von Lebensläufen gehört zu den zeitaufwendigsten Aspekten der Vorauswahl. KI-basierte Software "lernt und versteht" die Anforderungen auf der Grundlage der Stellen­ausschreibung und filtert Lebensläufe anhand von Schlüsselwörtern, Begriffen und Phrasen, die von den Kandidaten verwendet werden.

  • Vorqualifizierung von Kandidaten: Intelligente Algorithmen können interessante Kandidaten herausfiltern, indem sie deren Fähigkeiten, Erfahrungen und anderen Merkmale mit den Anforderungen der ausgeschriebenen Stelle und den Qualifikationen des früheren Personals vergleichen. Sie können diese Kandidaten auch einstufen und bewerten. Zusätzlich sammeln KI-basierte Chatbots Informationen, indem sie Gespräche mit den Bewerbern beginnen und mehr über sie "lernen". Algorithmen können auch die LinkedIn-, Twitter-, Facebook- und andere Social-Media-Profile der Kandidaten sowie branchenspezifische Plattformen durchsuchen, auf denen diese ak­tiv sind (etwa Stack Overflow für Entwickler). So werden automatisiert Daten herangeholt, mit denen sich Personaler ein besseres Bild von der Persönlichkeit und den Fachkenntnis­sen beziehungsweise Fähigkeiten der Bewerber machen können.

Trotz der Fortschritte, die im Bereich der digitalen Automatisierung von Personalbeschaf­fungsprozessen erreicht wurden, ist Software kein Allheilmittel für die Herausforderungen im HR-Bereich. Sind Rekrutierungsprozesse im Grundsatz fehlerhaft, kann auch Technologie nicht weiterhelfen. Ein Problem ist häufig auch das Zuviel an Daten. Personaler verfü­gen teilweise über so viele Daten – sowohl über Bewerberinnen und Bewerber als auch über Stellen –, dass sie weder die Zeit noch die Fähigkeit haben, diese so zu analysieren, dass am Ende die richtigen Entscheidungen getroffen werden können. In anderen Fällen stehen die Daten wiederum gar nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung, weil die Kosten zu hoch sind oder der Zugriff zu kompliziert für die Unternehmen ist.

Ein weiteres, seit langem bestehendes Problem ist die persönliche Voreingenommenheit der handelnden Personen. Auch wenn die Recruiter selbst neutral sein mögen, verlassen sie sich doch häufig auf Wünsche und Empfehlun­gen von Mitarbeitenden, die von Vorurteilen geprägt sein können. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen sind abhängig von der Qualität der Trainingsdaten. Werden diese einseitig ausgewählt, kann auch das die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigen.

Es braucht genügend und die richtigen Daten

"Wenn Sie als Unternehmen nicht über einen repräsentativen Datensatz zu all den entschei­dungskritischen Charakteristika verfügen, können Sie Bewerber nicht vernünftig finden und bewerten", sagt Jelena Kovacevic, IEEE Fellow und Dekanin der NYU Tandon School of Engineering.

"Wenn zum Beispiel Menschen mit dunkler Hautfarbe oder auch Frauen in der Vergangenheit systematisch ausgeschlossen wurden und der Algorithmus auf dieser Grundlage erstellt wurde, setzt sich dieses Problem verstärkt fort." Wenn Unternehmen nur Bewerber und Bewerberinnen mit einer bestimmten schulischen Ausbildung einstellten, könnten sie nie herausfinden, wie sich solche von einer weniger bekannten Schule schlagen. Es gibt also verschiedene Ebenen der Voreingenommenheit.

KI als Problem, Analytik als Heilmittel

Obwohl KI also sicher kein Allheilmittel für die Personalbeschaffung ist, legt sie inzwischen doch eine erstaunliche Reife an den Tag. Die Entelo-Studie ergab, dass datengesteuert arbeitende Rekrutierungsteams durch die Bank besser abschneiden als ihre Kollegen. Außerdem sind 84 Prozent der Recruiter zuversichtlich, dass sie KI und maschinelles Lernen in ihrem täglichen Arbeitsablauf einsetzen können.

Die wichtigste Frage lautet also: Wie lassen sich in der Personalbeschaffung KI-Algorithmen so nutzen, dass menschliche Voreingenommenheit keine Ergebnisse verfälschen oder Vorurteile sogar noch verstärken kann? Unternehmen begegnen dem Problem, indem sie firmenspezifische Leistungsbenchmarks einführen, Kennzahlen zur objektiven Messung der Kompetenz von Bewerbern erheben und Talentanalysen verwenden, um den Erfolg und die Effizienz ihrer Einstellungsbemühungen zu messen.

Algorithmen, die den Zweck, für den sie ent­wickelt wurden, am besten erfüllen, tun das häufig deswegen, weil die größten und um­fangreichsten Datensätze für sie bereitstehen. Es liegt in der Verantwortung der Arbeitgeber, die richtigen Datenpunkte zu finden und die Informationen in ihre Talent-Pipeline sowie in ihre Software zur Automatisierung der Personalbeschaffung einzuspeisen.

Bei der Implementierung kehrt sich der Prozess um. In dieser Phase ist es eine gute Idee, den Algorithmus an einem kleinen, aber vielfältigen Kandidatenpool zu testen und seine Ergebnisse manuell zu überprüfen, bevor man die Software als De-facto-Einstellungslösung einführt und sich in der Breite abhängig davon macht.

Wo die KI versagt

Wenn es gilt, daten- und KI-unterstützt einzustellen, dann sind Vielfalt, Gleichheit und Inklusion die Bereiche, bei denen es am häufigsten zu Problemen kommt. Einige der größten Fehler, die Unternehmen begehen, sind:

  • eine unsensible, elitäre oder wenig integrative Sprache in Stellenausschreibungen. Sie hält Bestimmte Bevölkerungsgruppen davon ab, sich zu bewerben.

  • Suche in eingeschränkten Kandidatenpools. Dann bleiben beispielsweise Kandidaten und Kandidatinnen aus bestimmten Regionen oder mit Schulabschlüssen, die nicht ins Schema passen, außen vor.

  • keine Rücksicht auf Remote-Work-Wünsche, das hält nicht nur freiheitsliebende ITler, sondern auch Jobsuchende mit Behinderungen und fehlenden Transportmöglichkeiten ab.

  • Diversity und Inclusion nur auf dem Papier – um regulatorische oder Industriestandards zu erfüllen. Die meisten Talente lassen sich davon nicht blenden.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer US-Schwesterpublikation cio.com.