Histopad

Wie iPad-AR Renaissance-Schlösser zum Leben erweckt

03.02.2020
Von 
Halyna Kubiv ist Content Managerin bei der Macwelt.
Bei einem Museums- oder Schloss-Besuch ein iPad statt einen Audio-Guide nutzen? Eine prima Idee, die eine kleine Firma in Paris umsetzt.

Tim Cook wird nicht müde zu betonen, dass AR, also die erweiterte Realität, die Zukunft der Technologiebranche ist. Seltsamerweise kann man diese Zukunft bereits in der Gegenwart erleben, wenn man weit in die Vergangenheit reist. Was nach "Alice im Wunderland" klingt, ist uns bei einem Besuch auf Schloss Chambord unweit von Orléans passiert. Nachdem wir unsere Tickets bezahlt hatten, gab uns ein Mitarbeiter noch ein klobiges Gerät in die Hand: Dieses sei wohl ein Navi für das Schloss und gebe zusätzliche Informationen. Das klobige Gerät hat sich als iPad Mini in einer Hülle wie für den Einsatz bei der Bundeswehr herausgestellt, darauf lief im Kiosk-Modus eine App, die uns tatsächlich durch diverse Räume navigierte.

Histopad
Histopad
Foto: Histovery

Doch als wir durch die Eingangshalle im Erdgeschoss spazierten, öffnete sich plötzlich auf dem Gerät ein Portal. Nur digital freilich, aber nach dem Scannen eines bestimmten Zeichens sollte sich ein Zeitportal öffnen, und tatsächlich – der Raum verwandelte sich in ein Schlafgemach, aber kein königliches, sondern eines für einfache Söldner, denn auf dem Bildschirm erschienen Matratzen und Decken, auf dem Boden aufgereiht. Noch irgendwo aus der Ecke des Bildschirmes sprang ein Hinweis, wir sollten doch bitte ein Rätsel lösen, das in diesem Raum versteckt sei, dafür würden wir einen Gegenstand erhalten. Gesagt, getan: Eine Münze rollte in den digitalen Geldbeutel, der Platz darin deutete darauf hin, dass es deutlich mehr von diesen Rätseln überall im Schloss gab. Für den Besuch bleibt uns aber knapp vier Stunden, so reißt uns unsere Begleitung das iPad aus den Händen und schaltet wieder in den Kartenmodus.

Die Apps und die iPads gibt es in Chambord knapp fünf Jahre. Damals, 2015, hatte man des 500sten Jahrestages der Errichtung des Schlosses gedacht und im Rahmen dieser Feierlichkeiten neue digitale Begleiter angeschafft. Seitdem liegen am Eingang rund 300 iPad Mini und warten auf die Besucher. Entwickelt hat für die App, die übrigens Histopad heißt, eine kleine Firma aus Paris namens Histovery engagiert. Was für die Besucher nach einer lustigen Schnitzeljagd klingt oder nach einem spaßigen Museumsbesuch, steht an der Schnittstelle von Technologie und Geisteswissenschaften – fast so, wie sich Steve Job jedes Gerät und Programm aus dem Hause Apple vorgestellt hat. Das Navi-System besteht aus rund 100 Bluetooth-Beacons, die sich mit dem iPad verbinden und so die Nutzer durch die Räume im Schloss navigieren. Schließlich gibt es davon rund 150 auf den vier Stockwerken, das Schloss ist in einem Viereck um einen Innenhof gebaut. Sich da zu verlieren ist leicht.

Die Inhalte, die sich digital bei jedem Ausstellungsstück einblenden und manche Räume so darstellen lassen, als habe die Königin ihr Schlafgemach eben erst verlassen, wurden über ein Jahr durch eine Kommission aus Historikern zusammengetragen. Die Wissenschaftler vom Renaissance-Museum in Châteu d'Ecouen und Schloss Chambord sollten die Fragen beantworten, wie das Leben in einem Schloss im XVI. Jahrhundert organisiert war, wofür die einzelnen Möbelstücke und Verzierungen dienten.

Diese Forschungserkenntnisse flossen dann als Input in die grafischen Darstellungen der App: Histopad beschäftigt 3D-Künstler, die auch immersive 360-Grad-Anschichten für die App schaffen. Ansonsten bietet das Projekt von Histopad alle Vorteile, die ein digitaler Museumsbegleiter bieten muss: Richtet man die Kamera des iPads auf ein bestimmtes Objekt, blenden sich dazu zusätzliche Informationen ein, Detailansichten von großen Gemälden oder Wandteppichen sind so möglich.

Was nach einem spaßigen Museumsbesuch klingt, verlangt im Hintergrund viel Know-How: Histovery stellt den Museen eine eigene Schnittstelle zur Verfügung, womit die Historiker eine vorgefertigte App mit eigenen Inhalten befüllen können. Dazu lassen sich unterschiedliche Module wie die erweiterte Realität oder die Innenraumnavigation hinzufügen. Das Ganze wird auf der firmeneigenen Cloud verwaltet, von dort aus lässt sich auch die Hardware mit den neuen App-Versionen aktualisieren. Was die Nutzer nicht mitbekommen: Die App wertet das Verhalten der Besucher aus und fasst zusammen, wie beispielsweise die Besucherzahlen an bestimmten Tagen oder Monaten ausgesehen haben, wie lange und wo genau sich die Besucher aufgehalten haben.

Die Eintrittspreise in die Museen, ausgestattet mit Histopad, ist etwas höher als sonst in der Gegend. Histovery erhält von den Betreibern einen festen Teil vom Ticketpreis. Doch der Aufpreis lohnt sich auf jeden Fall: Statt trockenen Info-Tafeln sind einzelne Ausstellungstücke direkt zum Anfassen, freilich auf dem iPad-Bildschirm. Hier will man direkt Tim Cook glauben, dass die erweiterte Realität das nächste große Ding sein wird. Auch wenn sich dies momentan auf ein Museum beschränkt, das sich mit der Vergangenheit beschäftigt... (Macwelt)