Sind Unternehmen bereit für disruptive Ideen?

Wie Führungskräfte Innovationen fördern oder verhindern

25.08.2016
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Seit 2008 fokussiert sich der ehemalige IT-Unternehmer und Bitkom-Hauptvorstand darauf, Führungskräfte und Mitarbeiter der IT-Branche als Coach und Trainer zu unterstützen. Er ist Autor des Fachbuchs "Führungspraxis für Ingenieure und IT-Experten"
Die Idee ist die Keimzelle einer jeder Innovation. Deshalb ist es unerlässlich, dass Unternehmen und Führungskräfte ihren Mitarbeitern genügend Raum und Zeit zum Entwickeln neuer Einfälle geben und sie auch ohne Vorbehalte prüfen. Nur so erhalten Firmen Impulse, die für das Überleben wichtig sind. Wer Innovation fordert, muss bereit sein, auch das eigene Geschäftsmodell über den Haufen zu werfen.
  • Kreative Mitarbeiter benötigen Freiräume und Zeit zur Entwicklung neuer Ideen.
  • Disruptive Denkansätze müssen in Unternehmen ein Forum zur Analyse bekommen.
  • Mitarbeitergespräche liefern bei genauem Zuhören oft Verbesserungsvorschläge und innovative Ideen.

Im Jahr 1975 wurde der erste Prototyp einer Digitalkamera entwickelt. Sie war langsam, schwer und mit 0,1 Megapixel Auflösung nicht sehr leistungsfähig. Aber sie funktionierte. Sie wurde in einem Unternehmen erfunden, das in der Welt der Fotografie eine bekannte Größe verkörperte: Kodak.

Doch genau dies war das Problem. Das Management von Kodak glaubte mit dieser Innovation seine Geldquelle der Analogfotografie zu gefährden. Ironie des Schicksals: Statt zum Vorreiter in der Digitalfotografie zu werden, verpasste Kodak den Trend und wurde zu seinem Opfer, als der Konzern 2012 bankrott ging.

Viele rufen lautstark nach Innovationen, fordern, disruptiv zu sein und out of the box zu denken. Oft klingt das so, als seien die Mitarbeiter ideenlos. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es in jedem Unternehmen Mitarbeiter mit exzellenten Ideen gibt.

Stellt sich also die Frage: Gibt es gar keinen Mangel an Ideen, sondern ist der Umgang mit der Kreativität der Mitarbeiter das eigentliche Problem?

Warum Ideen nicht zünden

"Genie sind ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration", soll der große Erfinder Thomas Alva Edison gesagt haben. Zur Inspiration kann eine Sekunde ausreichen, um daraus etwas Nutzbares zu machen, sind oft unzählige Stunden nötig. Wer in seinen Kalender blickt, wird darin kaum einen Mangel an Besprechungen finden. Wer weniger als die Hälfte der Woche mit Meetings verplant ist, gehört zur glücklichen Minderheit der Mitarbeiter, die noch die Chance haben, zumindest teilweise produktiv zu arbeiten.

Unternehmen, die am Markt eine Zukunft haben wollen, müssen ihr Kerngeschäft immer wieder in Frage stellen und Innovationen anstoßen.
Unternehmen, die am Markt eine Zukunft haben wollen, müssen ihr Kerngeschäft immer wieder in Frage stellen und Innovationen anstoßen.
Foto: Olivier Le Moal - shutterstock.com

Wenn aber bereits ein Großteil der Arbeitszeit für nicht selten ineffektive Besprechungen verloren geht, wann soll ein Mitarbeiter dann die Muße haben, sich ausführlich mit einer seiner Ideen zu beschäftigen? Zeit, die zwingend notwendig ist, damit aus einem kleinen Funken ein Innovationsfeuerwerk werden kann.

Wer Innovationen fördern will, muss Freiräume schaffen. Dabei ist es auch nicht mit einem Workshop getan, in dem ohnehin immer wieder von den gleichen Personen dieselben Ideen durchgekaut werden. Wirklich neue Einfälle werden zu oft von Vorgesetzten oder "dominanten" Kollegen mit dem Hinweis vom Tisch gefegt, das habe noch nie funktioniert, dafür sei keine Zeit oder es sei kein Sinn darin zu erkennen. Zudem kommt die bahnbrechende Idee nicht unbedingt an diesem einen Workshop-Tag, wo man auf Kommando kreativ sein soll. Es spricht viel mehr für einen Geistesblitz an einem der anderen 364 Tage des Jahres.

Kreative Mitarbeiter brauchen Freiräume

Sehr viel bessere Erfahrungen machen Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Freiräume geben, um an Ideen zu arbeiten. Wenn eine Kultur etabliert ist, in der Mitarbeiter ein Zeitkontingent haben, das sie zur Beschäftigung mit neuen Gedanken nutzen können, wird damit der Grundstein für mehr hauseigene Innovationen gelegt. Damit eine Idee Realität oder zumindest ein Prototyp wird, wird neben Zeit auch ein Budget und gegebenenfalls zusätzliches Know-how benötigt. Dafür ist es angebracht, regelmäßig neue Ideen zu bewerten. Die Entscheidungskriterien, nach denen Budgets vergeben werden, müssen nachvollziehbar sein und offen kommuniziert werden. Eine "Höhle der Löwen" für firmeninterne Ideen könnte eine gute Lösung sein.

Zwischenfazit I: Wer von seinen Mitarbeitern mehr Innovationen einfordert, muss ihnen Freiräume zum Nachdenken, Ausprobieren und zum Gedankenaustausch mit anderen geben. Es darf keine Aufgabe sein, die auf den Zwölf-Stunden-Tag draufgesattelt wird.

Was passiert mit Ideen?

Innovationen sind nicht nur große, weltbewegende Veränderungen. Beispielsweise spart Volkswagen jährlich 130.000 Euro ein, nur weil ein Mitarbeiter die Idee hatte, die Autoschlüssel bei der Auslieferung nicht mit einem Metallring, sondern einem Kunststoffband zusammenzuhalten. Simpler Einfall, große Ersparnis.

Möglichkeiten für solche Verbesserungen stecken in jedem Detail. Und gesehen wird dies von eben dem Mitarbeiter, der das Detail kennt. Was passiert jedoch intern, wenn der Mitarbeiter die Idee beiläufig oder in einer Besprechung äußert? Wird sie aufgenommen und weiterverfolgt? Wird dem Mitarbeiter zugehört und er darum gebeten, die Idee zu konkretisieren, um sie danach erneut zu präsentieren? Oder wird sie einfach übergangen, weil gerade andere Themen wichtiger sind?

Mitarbeitergespräche als Innovationschance

Auch in Mitarbeitergesprächen werden Verbesserungspotenziale und Ansätze für Innovationen zum Ausdruck gebracht. Wenn sich ein Mitarbeiter über einen Arbeitsprozess oder mangelnde Effektivität in der Zusammenarbeit beklagt, liegen im Grunde bereits zwei Grundvoraussetzungen für Innovationen auf dem Tisch: nämlich ein Ärgernis und das Interesse, diesen Ärger zu beseitigen.

Doch nicht nur Beschwerden, sondern auch konkrete Innovationen werden mitunter in Mitarbeitergesprächen geäußert. Allerdings werden diese Gespräche oft nicht als Chance für Innovationen gesehen, sondern als Pflichtübung, die eine Führungskraft schnellstmöglich abhandeln muss. Innovative Ideen und Verbesserungsvorschläge stören dabei nur und fallen mehr oder weniger ungehört unter den Tisch. Die Konsequenz: Die Bereitschaft der Mitarbeiter, neue Ideen einzubringen, sinkt gegen null. Ein Beschäftigter, der in einer Besprechung oder einem Mitarbeitergespräch eine Idee äußert, aber keine Resonanz findet, wird diese mit großer Wahrscheinlichkeit fallen lassen. Versucht er es mit einer anderen Idee und erlebt dasselbe Desinteresse erneut, folgert er vermutlich daraus, dass zumindest seine Ideen keine Chance haben, und gibt auf. Wird dann einmal im Jahr ein Innovations-Workshop veranstaltet, wird dieser Mitarbeiter kaum zur Höchstform auflaufen. Schließlich hat er die Erfahrung gemacht, dass seine Ideen nicht angenommen werden.

Wertschätzung für den Mitarbeiter zeigen

Äußert ein Mitarbeiter eine Idee, die der Vorgesetzte interessant findet, sollte er ihn unbedingt anregen, sie zu konkretisieren. So ist viel gewonnen, und die Führungskraft zeigt ihre Wertschätzung. Natürlich sind Angestellte, die jede Woche mit einer Idee kommen, die sich nach fünf Minuten Diskussion als unhaltbar herausstellt, etwas anders zu behandeln. Aber wie heißt es so schön: "Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn." Also ist es in einem solchen Fall wichtig, die Vorschläge nicht automatisch abzulehnen, sondern dem Mitarbeiter zu helfen, selbständig besser zu analysieren, ob sein Einfall Potenzial hat.

Hierzu ein Beispiel, wie ein revolutionäres Produkt erkannt und der CEO überstimmt wurde. Eine Niederlassung des Navigationsspezialisten Garmin in Südafrika nutzt ein ganz simples Prinzip: Hat ein Mitarbeiter eine Idee, bringt er sie zu Papier. Die Idee wird intern diskutiert und bewertet. Findet sie intern genügend Unterstützung, wird sie weiterverfolgt. Das Topprodukt, das erste Radarsystem für Fahrradfahrer, das den Sportler vor nahenden Autos warnt, wurde anfangs vom CEO als wenig erfolgversprechend angesehen. Doch seine Mitarbeiter überstimmten ihn, Das System ging in eine erste Prototypenphase, und sein Potenzial wurde sichtbar. Das Ergebnis können Sie heute weltweit als "Garmin Varia TM" kaufen. Hätte der CEO, ganz klassisch, die Entscheidung alleine getroffen, wäre dieses Produkt nicht Realität geworden.

Zwischenfazit II: Jede Idee, egal in welcher Form und in welchem Rahmen geäußert, muss beachtet und bewertet werden. Dazu empfiehlt sich eine standardisierte und einfache Vorgehensweise, um Ideen einzureichen. Führungskräfte müssen ferner Mitarbeiter, die Anregungen haben, ermutigen, sie auch zu kommunizieren. Die bewertende Instanz sollte aus mehreren, möglichst chancenorientierten (im Gegensatz zu risikoorientierten) Personen bestehen. Je näher diese Menschen am Endkunden des Unternehmens oder Nutzer sind, desto besser.

Doch was geschieht, wenn die Innovation das bestehende Geschäftsmodell scheinbar oder tatsächlich gefährdet?

Blicken wir nochmals auf Kodak. Die Digitalkamera wurde als Gefahr des aktuellen Geschäftsmodells angesehen. Diese Einschätzung war grundsätzlich korrekt. Die Wirtschaftsgeschichte ist aber voll von Unternehmen, die einen neuen Trend verpasst und an einem alten Geschäftsmodell festgehalten haben, bis sie entweder pleitegingen oder für einen symbolischen Preis gekauft wurden. Nur wenige schaffen es, sich selbst neu zu erfinden und alles, woran man über Jahre und Jahrzehnte geglaubt hat, auf den Prüfstand zu stellen.

Natürlich ist es ein heikles Unterfangen, wenn Mitarbeiter Ideen entwickeln, durch die der Goldesel der Firma tangiert würde. Es geht aber auch nicht darum, jeder Idee Tür und Tor zu öffnen. Wichtig ist vielmehr, ob das Unternehmen ein Klima schafft, in dem die "verbotenen" Gedanken gedacht und ausgesprochen werden dürfen. Ein Klima eben, in dem Führungskräfte bis hin zur obersten Geschäftsführung kontinuierlich nach Möglichkeiten suchen, das Unternehmen auch für die nächsten 10 oder 20 Jahre fit für den Markt zu machen. Dann müssen sie auch für Ideen offen sein, die dem heutigen Geschäftsmodell widersprechen.

Werden Daimler-Benz, Ford oder Porsche in 20 Jahren noch Autos bauen? Vermutlich schon. So wie heute? Nur noch zum Teil. Tesla hat die meisten Regeln der Automobilherstellung gebrochen, weil es sie nicht kannte. Eigentlich hat das Unternehmen einen Computer auf Rädern gebaut. Alle anderen Automobilhersteller fertigen Autos, die einen immer größeren Computeranteil haben, und stoßen damit ständig an ihre Grenzen. Würde ein Mitarbeiter dieser Hersteller Unterstützung für eine Idee bekommen, die dem heutigen Vorgehensmodell komplett entgegensteht? Was würde gar mit ihm passieren, wenn er eine Geschäftsidee hätte, bei der das Bauen von Autos nur noch Nebensache und die Nutzung der Mobilitätsdaten der gesamten Flotte das neue Geschäftsmodell wäre? Er würde vermutlich skeptische Blicke ernten. Noch wahrscheinlicher ist jedoch, dass er von seinem Vorgesetzten einen der folgenden Kommentare zu hören bekommt:

• "Hast du nichts Besseres zu tun?"

• "Das ist doch Blödsinn, wir bauen Autos, Punkt."

• Oder: "Wenn ich das der nächsten Hierarchiestufe vorstelle, ist meine Karriere zu Ende. Es ist unser Job, die Automobilentwicklung zu beschleunigen, und nicht, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln."

Vom Mitarbeiter und Querdenker zum Unternehmer

Ein ganz kleiner Teil dieser Mitarbeiter, deren Ideen von ihren Vorgesetzten nicht verfolgt oder abgelehnt wurden, akzeptiert dies nicht und macht sich selbständig. So war es beispielsweise 1972, als SAP gegründet wurde.

Nicht jede Idee ist gut. Vor allem nicht jede revolutionäre. Aber man kann dies erst dann entscheiden, wenn sie wirklich analysiert wurde. Eine Aussage wie "Das haben wir noch nie gemacht" zeigt, dass keine Analyse stattgefunden hat.

Wie wäre es aber, wenn es einen separaten internen Prozess gäbe, der für ebensolche "geschäftsgefährdenden" Ideen eingerichtet würde? Entkoppelt und mit einem Entscheidungsgremium besetzt, das diese Ideen auf ihre Zukunftsfähigkeit mit einem Horizont von 10 bis 20 Jahren prüft. Wird dieses Gremium auch mit einem eigenen Budget versehen, um geeignete Anregungen erproben zu können, wäre dies ein guter Anfang.

Alphabet, die 2015 gegründete Muttergesellschaft des Suchmaschinengiganten Google, arbeitet kontinuierlich daran, neue Geschäftsmodelle zu finden. Denn den beiden Google-Gründern Sergey Brin und Larry Page ist klar, dass die heute sprudelnde Geldquelle eines Tages versiegen wird. Also arbeiten sie mit Hochdruck daran, Hunderte von Ideen zu verfolgen, von denen eine Handvoll am Ende zu neuen Goldeseln werden. Was sie von den meisten Unternehmen unterscheidet, ist, dass sie am Ersatz des Geschäftsmodells arbeiten, während es die größten Gewinne abwirft.

Fazit

Wenn ein Unternehmen tatsächlich disruptive Innovationen out of the box einfordert, muss es darauf vorbereitet sein, dass manche Ideen das aktuelle Geschäftsmodell gefährden. Langfristig agierende Unternehmen und Führungskräfte nehmen solche Vorschläge besonders ernst und schaffen einen Raum, in dem auch verbotene Ideen getestet und umgesetzt werden können. Denn es ist immer besser, die Geschwindigkeit des Niedergangs eines aktuellen Geschäftsmodells selbst zu kontrollieren und parallel dazu ein neues aufzubauen, als von der Konkurrenz überholt und langfristig vernichtet zu werden.

Erkenntnis: Die Führungskraft hat entscheidenden Einfluss darauf, ob ihre Mitarbeiter Innovationen hervorbringen und umsetzen. In allen genannten Punkten spielen sowohl die direkte Führungskraft eines Mitarbeiters als auch die gesamte Führungskultur eine entscheidende Rolle. Doch es sind nicht die einzigen Hindernisse für Innovationen. Seit Daniel Kahneman 2002 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Erkenntnisse über das irrationale Verhalten von Menschen erhalten hat, ist auch immer mehr Managern bewusst, dass unsere Spezies wesentlich irrationaler handelt, als wir glauben.

Wer Innovationen verlangt, muss parallel zur Arbeit an neuen Ideen auch die Hindernisse für Innovationen im Unternehmen finden und sie aus dem Weg räumen. Ein großer Teil der Hürden steckt übrigens in den Köpfen von Menschen, beispielsweise festgefahrene Denkmuster, Angst vor Rückschlägen oder der Not-invented-here-Virus.

Daher tun Führungskräfte gut daran, sich selbst und den von ihnen geführten Mitarbeitern regelmäßig die Frage zu stellen, ob sie Innovationen fördern oder verhindern. Insbesondere unbewusstes Verhalten ist hierbei eine Falle, in die man sehr leicht hineintappt.

Aufgrund der Bedeutung von Innovationen für das Überleben von Unternehmen beschäftigt sich das Buch "Führungspraxis für Ingenieure und IT-Experten - Der Werkzeugkasten für die Führungskraft der IT der Zukunft" im Kapitel "Wie Führung Innovationen fördert oder verhindert" mit den fünf größten Hindernissen, denen Innovationen innerhalb von Unternehmen begegnen, und gibt konkrete Anregungen, um den Weg für mehr Innovation frei zu machen. (pg)

Eine Checkliste zur Förderung von Innovationen finden Sie hier.