Hannover Messe 2021

Wie Digitalisierung Fertigungsunternehmen stärkt

20.04.2021
Von 


Manfred Bremmer beschäftigt sich mit (fast) allem, was in die Bereiche Mobile Computing und Communications hineinfällt. Bevorzugt nimmt er dabei mobile Lösungen, Betriebssysteme, Apps und Endgeräte unter die Lupe und überprüft sie auf ihre Business-Tauglichkeit. Bremmer interessiert sich für Gadgets aller Art und testet diese auch.
Die Corona-Pandemie zwingt auch die Fertigungsindustrie, in Sachen Digitalisierung einen Zahn zuzulegen. Wie das WEF Global Lighthouse Network anhand von Industrievorreitern aufzeigt, lohnt sich der Aufwand.
Der Einsatz von Industrie 4.0 bringt enorme Vorteile, was Produktivität, Agilität, Nachhaltigkeit und Time-to-Market angeht.
Der Einsatz von Industrie 4.0 bringt enorme Vorteile, was Produktivität, Agilität, Nachhaltigkeit und Time-to-Market angeht.
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

"Die Pandemie war eine Riesenstörung für die Hersteller und ihre Lieferketten: Fehlender Einblick in den Betrieb, keine Möglichkeit, die Mitarbeiter auf die Produktionsfläche zu lassen, kein Blick auf die Lieferanten, man wusste nicht einmal, ob es ihnen finanziell gut geht, ob sie weiter produzieren können etc.", bringt es Çaglayan Arkan, Vice President Manufacturing bei Microsoft, in einem digitalen Kamingespräch am Rande der Hannover Messe Digital auf den Punkt.

"Die positive Seite", so der Microsoft-Manager, "Corona hat bei den Fertigern die Investitionen in Digitalisierung beschleunigt, denn niemand will in der nächsten Krise ähnlich kalt erwischt werden wie jetzt. Als Konsequenz erstellen sie nun Digital Twins, schaffen Möglichkeiten zur digitalen Fertigung und Remote Operations und investieren in die Stärkung ihrer Lieferketten."

In der ersten Welle der Coronakrise hätten die Unternehmen die Bedeutung der Digitalisierung zum Aufbau von Resilienz erkannt, führt Arkan aus. In der zweiten Welle werde die Digitalisierung nun genutzt, um die Industrie zu verändern. Der Microsoft-Manager geht davon aus, dass die durch die Pandemie verursachten Unterbrechungen Bestand haben und einen erhöhten Bedarf an Innovation und Risikomanagement mit sich bringen. "Wir befinden uns an einem Wendepunkt, an dem die alten Wege, Geschäfte zu machen, nicht mehr ausreichen werden", argumentiert er. "Die Pandemie hat uns gelehrt, dass die vierte industrielle Revolution kein Hype mehr ist. Jedes Unternehmen befindet sich auf einer digitalen Reise. Diejenigen, die auf ihrer Reise gut vorankommen, erzielen enorme Vorteile, was Produktivität, Agilität, Nachhaltigkeit und Time-to-Market betrifft", so Arkan.

Çaglayan Arkan, Vice President Manufacturing bei Microsoft
Çaglayan Arkan, Vice President Manufacturing bei Microsoft

Hannover Messe 2021: Entdecke die Möglichkeiten

Als ein Beispiel für die Möglichkeiten digitaler Technologien in der Fertigung verwies der per Video zugeschaltete Microsoft-Chef Satya Nadella auf den Pharmahersteller Johnson & Johnson. Das Unternehmen nutze bereits seit geraumer Zeit IoT in seinen eigenen Fertigungsstätten - aber nicht nur dort, sondern auch für die an Auftragsfertiger ausgelagerte Produktion. Auf diese Weise erhalte J&J einen digitalen Fußabdruck der outgesourcten Kapazitäten und könne auch dort die Qualität sicherstellen, erklärt Nadella. Ein anderes Beispiel sei der Konsumgüterkonzern Unilever, der mittlerweile bereits digitale Zwillinge von gut 140 Werken erstellt hat, um dort Lights Out Manufacturing betreiben zu können.

Was er ebenfalls gesehen habe ist, dass Servicemitarbeiter in der Produktion nun neue Tools wie die Microsoft Power Platform zu bedienen lernen, berichtet Nadella. Den Effekt könne man sich ähnlich vorstellen, wie die Veränderungen der Bildschirmarbeit durch Excel. Und nun gebe es diese Low-Code- oder sogar No-Code-Tools, die es Domain-Experten ermöglichen, Automatisierung im Edge-Bereich vorzunehmen, damit sie die Produktivität weiter steigern können.

"Ich denke, dass die Nutzung einer erstaunlichen Menge an digitalen Technologien, um die Einschränkungen durch die Pandemie überwinden zu können, zu einer dramatischen Veränderung führt", so der Microsoft-Chef. "Hinzu kommt: Die Erwartungen der Kunden haben sich gewandelt, sie wollen stärker personalisierte Produkte und Lösungen, das Gleiche gilt auch für die Mitarbeiter, und beides wird in der Zukunft sehr transformativ sein."

HMI 2021: WEF zeigt, wie Digitalisierung lohnt

Dass der Einsatz von Industrie 4.0 in der Pandemie Wettbewerbsvorteile und nachhaltiges Wachstum bringt, dokumentieren auch die Ergebnisse einer Untersuchung (PDF) des World Economic Forum und der Unternehmensberatung McKinsey & Company bei 50 Mitgliedern des WEF Global Lighthouse Network. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Vorzeigefabriken aus verschiedenen Branchen und Regionen, die als Plattform für die Entwicklung, Replikation und Skalierung von Innovationen dienen sollen.

Wie Enno de Boer, Partner bei McKinsey, ausführt, konnten 93 Prozent der Werke mit Hilfe von Digitalisierung trotz Krise mehr Umsatzwachstum generieren, entweder durch mehr Output oder durch neue Business-Modelle. Damit nicht genug, nutzten mehr als 51 Prozent die Digitalisierung als Treiber für mehr Nachhaltigkeit. "Sie erreichten dies, indem sie ihre Produktivität steigerten, Marktanteile gewannen, die Kunden in den Vordergrund stellten und eine sauberere Zukunft einläuteten", erklärt de Boer. Dabei seien die Ergebnisse mit wenig bis gar keinem Kapitalaufwand erzielt worden und die Vorreiter hätten entdeckt, dass Wachstum nicht auf Kosten der Umweltverantwortung gehen muss. Tatsächlich finde das Gegenteil statt, so der McKinsey-Mann: Produktivitätsverbesserungen treiben oft die Steigerung der Ressourceneffizienz voran und sind mit umweltbewussten Auswirkungen verbunden.

Hannover Messe Digital: Was Leuchtturmprojekte auszeichnet

Die Mitglieder des Netzwerks werden aus mehr als 1000 Fertigungsstandorten ausgewählt, basierend auf deren Erfolg bei der Einführung von Industrie-4.0-Technologien. Sie repräsentieren eine Reihe von Branchen, wie z. B. die Automobilindustrie, die additive Fertigung und die Konsumgüterindustrie. Vor drei Jahren mit gerade einmal elf Werken gestartet, ist das WEF Global Lighthouse Network mittlerweile auf 69 Fabriken angewachsen. Allein im letzten Jahr kamen 15 neue Werke dazu, unter anderem von Bosch, Ericsson, Foxconn und J&J.

Die Firmen wollen auditiert werden und sehen das Lighthouse Network als eine Art Meilenstein auf ihrer digitalen Reise, erklärt de Boer die steigende Nachfrage der Unternehmen. Gleichzeitig stellten die Fabriken eine Art Fenster für die Zukunft der Betriebe dar. "Früher sind Fabrikbetreiber nach Japan gereist, um mehr über Lean Production zu erfahren, und hätten dann zuhause das Gelernte angewendet und ein eigenes Produktionssystem entwickelt", fügt Microsoft-Manager Arkan hinzu. "Heute stellt die WEF-Plattform eine Art Japan der digitalen Produktion dar."

"Jedes der 69 Lighthouses bietet spezielle Lektionen, etwa, wie es in verschiedenen Dimensionen eine Skalenwirkung erreicht hat und seine Transformationsreise durchstanden hat", erklärt de Boer. So sei das Bosch-Werk in Wuxi als eines der 15 neuen Leuchttürme eigentlich als Aushängeschild der Lean Transformation bekannt. Digitale Werkzeuge und Lean Management gingen aber Hand in Hand - sie ermöglichen es Organisationen, die bereits lean sind, den nächsten Schritt zu gehen.

Der schwedische Netzausrüster Ericsson wiederum errichtete in Dallas das erste 5G Lighthouse. Dazu führten die Schweden eine moderne Cloud-basierte Architektur ein, konkret Microsoft Azure, was ihnen laut de Boer ermöglichte, neue Use Cases schneller als alle anderen einzuführen. Außerdem arbeitet Ericsson in Dallas auch mit agilen Methoden und Sprints mit Minimal Viable Products (MVP). Auf diese Weise waren die Schweden dem McKinsey-Mann zufolge in der Lage, in neun Monaten 25 Use Cases ins Leben zu rufen. Diese wiederum ermöglichten eine um 120 Prozent höhere Produktivität, 70 Prozent kürzere Produktlieferzeiten und 50 Prozent weniger Lagerbestände. "Diese Ergebnisse kann man nicht ohne Digitalisierung erreichen", so de Boer.

Ein anderes Beispiel ist der Auftragsfertiger Foxconn, der in seinem Lighthouse die Produktivität der Mitarbeiter verdreifachen konnte. Dem McKinsey-Manager zufolge war diese Steigerung - von bereits hohem Niveau - nur mit Künstlicher Intelligenz, Mixed Reality und IoT möglich.

Johnson & Johnson wiederum hat bereits sein fünftes Leuchtturm-Werk auf der WEF-Plattform, berichtet der McKinsey-Mann. Es handelt sich dabei um eine Produktionsstätte in Helsingborg, Schweden, die komplett CO2-neutral arbeitet.

HMI Digital Edition: Wege aus dem Fegefeuer

Trotz der 69 Lighthouses dürfe man jedoch nicht vergessen, dass es rund zehn Millionen Fabriken weltweit gebe, führt de Boer an. Davon befinde sich der Großteil im "Pilot Purgatory", dem Fegefeuer der Pilotprojekte. Das Faszinierende an den Lighthouses sei, dass sie es geschafft haben, zu skalieren. Dabei gebe es fünf Skalierungsfaktoren, die regelmäßig bei den Vorreitern gefunden wurden, nämlich:

  1. Eine moderne Cloud-basierte Architektur, um schnell viele Use Cases zum Laufen zu bringen;

  2. Ein agiler Ansatz, da keine Zeit für Perfektion ist, sondern MVPs erweitert und verbessert werden;

  3. Ein größeres Tech-Ökosystem, mit dem zusammengearbeitet wird;

  4. Ein Weg zum Upskillen der Belegschaft;

  5. Ein Transformation Office, das sicherstellt, dass es echte Wertsicherung und Governance gibt und die Strategie beibehalten wird.

"Wir sehen, dass Skalierung das wichtigste Thema ist und Unternehmen besonders fordert", erklärt de Boer, "denn ein Pilotprojekt oder Use Case ist leicht. Die Frage ist jedoch, wie man ein solches über das gesamte Netz und dann das gesamte Ökosystem mitsamt der Zulieferer und Kunden ausrollt."