Wie das Web die Unternehmen verändert

05.05.2009
Von Wolfgang Sommergut 
Je stärker sich die Web-Technologien verbreiten, desto mehr zwingen sie Unternehmen zu einem kulturellen Wandel. Wer sich nicht öffnet, wird nicht profitieren.

Seit sich die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wandelt und wissensintensive Tätigkeiten immer mehr an Bedeutung gewinnen, versuchen viele Unternehmen, die Motivation, Kreativität und Kooperationsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zu steigern. Seit Jahrzehnten haben sich zu diesem Zweck eine Reihe von Praktiken und Tools eingebürgert, von Coaching, Teamentwicklung, Vorschlagswesen und Workshops über Groupware und Wissens-Management bis zu betrieblich organisierten Freizeitaktivitäten.

Viele dieser Bemühungen führten nicht zu den erhofften Ergebnissen. Häufig zerschellten die im Workshop entwickelten Vorsätze an verkrusteten Strukturen, Tools für die Zusammenarbeit scheiterten an mangelnder Akzeptanz.

Das Web als Innovationsmotor

Auf der anderen Seite macht das Internet als Collaboration-Plattform seit einigen Jahren vor, wie lose Netzwerke aus weltweit verteilten Individuen komplexe Aufgaben bewältigen, die bis vor kurzer Zeit großen Firmen oder staatlichen Institutionen vorbehalten blieben. Die bekanntesten Beispiele sind Linux und die Wikipedia, zu denen hoch talentierte Leute aus aller Welt genauso beisteuern wie zahllose weniger spezialisierte Benutzer, die Softwaremängel melden oder Tippfehler in Artikeln korrigieren.

Die Dynamik des sozialen Web hat unter dem Begriff "Enterprise 2.0" erneut die Debatte angefacht, wie die Mitarbeiter eines Unternehmens am besten zusammenarbeiten und dabei ihr Wissen einbringen können. Ein wesentliches Anliegen besteht darin, die im Web gewonnenen Erfahrungen sowie die dort entstandenen Tools für Firmen nutzbar zu machen.

Der Charme einfacher Tools

Im Vergleich zu der Enterprise-Software, die in den 90er Jahren von vielen Firmen für die Teamarbeit und das Knowledge-Management eingeführt wurde, sind die meisten im Web erfolgreich eingesetzten Werkzeuge einfach zu nutzen. Ein Anbieter eines Online-Dienstes kann nicht davon ausgehen, dass seine Kunden Handbücher wälzen oder gar an Schulungen teilnehmen, um beispielsweise ein Blog-Posting zu publizieren, einen RSS-Reader zu verwenden oder einen Kontakt in einem sozialen Netzwerk zu knüpfen.

Die Einfachheit vieler Werkzeuge und ihre Verfügbarkeit als Open Source oder kostengünstiger Service haben nicht nur die Voraussetzung geschaffen, dass sich Individuen im Web zusammenfinden und kooperieren können. Sie senken auch die Einstiegshürden für Nutzer in den Unternehmen, so dass mit dem Hype um das Web 2.0 relativ schnell Weblogs und Wikis Eingang in die Firmen fanden.

SLATES – die Eselsbrücke des E 2.0

Andrew McAfee von der Harvard Business School formte das Akronym "SLATES", um die wichtigsten Aspekte des Enterprise 2.0 zusammenzufassen:

  • Suche: Die Auffindbarkeit von Informationen fördert ihre Wiederverwendung und ihren Einfluss.

  • Links: Die Verwendung von URLs schafft Tausende Verbindungen zwischen Enterprise Content.

  • Autorschaft: Jeder Mitarbeiter sollte einfachen Zugang zu Enterprise-2.0-Werkzeugen haben.

  • Tags: Diese Metainformationen erlauben eine schnelle und natürliche Organisation von Daten unter verschiedensten Gesichtspunkten.

  • Erweiterungen: Ausbau des Wissens durch Analyse des Benutzerverhaltens.

  • Signale: Das Publizieren ("Push") von Änderungen vereinfacht die Aufnahme von Informationen (Beispiel: RSS).

Dies erfolgte wie seinerzeit bei den ersten Intranets häufig nach einem Bottom-up-Ansatz, weil Fachabteilungen den Nutzen dieser Tools erkannten und sie ohne Unterstützung der IT-Abteilung in Betrieb nehmen konnten. Entsprechend kommt eine Ende 2007 von Berlecon veröffentlichte Studie zum Ergebnis, dass 90 Prozent der befragten Unternehmen Collaboration-Werkzeuge aus dem Web weder abteilungs- noch firmenübergreifend einsetzen.

Der Nutzen flüchtiger Kontakte

Das "Bullauge des Enterprise 2.0" zeigt, dass nützliche Kontakte vor allem dort erschlossen werden können, wo bisher kaum ein Austausch stattfand.
Das "Bullauge des Enterprise 2.0" zeigt, dass nützliche Kontakte vor allem dort erschlossen werden können, wo bisher kaum ein Austausch stattfand.

Vordenker des Enterprise 2.0 wie der Harvard-Professor Andrew McAfee, der diesen Begriff prägte, sehen den Nutzen von sozialer Software jedoch besonders darin, dass sie Mitarbeiter vernetzen kann, die normalerweise wenig miteinander zu tun haben. Kollegen, die über lange Zeit eng zusammenarbeiteten, könnten sich in der Praxis beim Beschaffen neuer Informationen oder spezifischen Kenntnissen nicht gut helfen, weil sie sich weitgehend in den gleichen Kreisen bewegten. Dagegen dienten flüchtige Kontakte ("weak ties") als Brücken zu anderen Netzwerken und könnten damit Zugang zu neuen Ideen verschaffen oder zu einem anderen Blickwinkel auf ein Problem verhelfen.

Weblogs, in denen manche Firmen vorschnell bloße Marketing-Tools sehen, können als gut geführte Journale Auskunft darüber geben, mit welchen Problemen sich ein Projekt gerade herumschlägt, welche Ideen oder Vorschläge für neue Produkte existieren oder welche Anregungen ein Konferenzteilnehmer mitgebracht hat. Leser außerhalb der engeren Kollegenschaft können davon entweder selbst profitieren oder mittels Kommentaren dem Autor neue Aspekte aufzeigen.

Soziale Netze für Firmen

Neue soziale Software für Unternehmen nach dem Muster von Xing, LinkedIn oder Facebook ist noch stärker als Blogs darauf zugeschnitten, eine große Zahl von Kontakten zu pflegen und diese über die eigenen Aktivitäten auf dem Laufenden zu halten. Zu den ersten Produkten dieser Kategorie zählt etwa IBMs "Lotus Connections".

Aufgrund seiner großen Verbreitung dient in vielen Firmen Microsofts Sharepoint als Basis für Enterprise-2.0-Anwendungen, weist jedoch in der aktuellen Version 2007 gerade in diesem Bereich noch erhebliche Defizite auf und muss durch Zusatzmodule von dritter Seite aufgerüstet werden. Auch ECM-Anbieter Opentext arbeitet unter dem Codenamen "Bloom" an einem derartigen Werkzeugkasten, dessen genaues Aussehen noch nicht bekannt ist.

Je mehr Kollegen aus anderen Abteilungen oder Standorten ein Mitarbeiter über sein soziales Netz zur Lösung eines Problems einbeziehen kann, desto größer sind die Chancen für die erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe. Dieses Versprechen der Enterprise-2.0-Anhänger wird auch durch ein zentrales Ergebnis gestützt, zu dem James Surowiecki in seinem Business-Bestseller "The Wisdom of Crowds" gelangt.

Seine These lautet, dass große Gruppen meistens zu besseren Lösungen kommen als ihre fähigsten Mitglieder alleine. Bedingung sei aber, dass die einzelnen Individuen unabhängig und unbeeinflusst entscheiden müssten. Andernfalls könne es zu Lemmingeffekten oder in hierarchischen Organisationen zu Gruppendynamiken kommen, die das Urteil der Beteiligten in eine bestimmte Richtung beeinflussten.

Wissens-Management 2.0

Die Übertragung von Tools und Techniken aus dem sozialen Web eröffnet einen neuen Zugang zu Wissens-Management und Teamarbeit. Von den Expertensystemen der 80er Jahre und den Knowledge-Management-Lösungen der 90er Jahre wurde häufig erwartet, dass sie Wissen aus den Köpfen der Mitarbeiter in IT-gestützte Systeme übertragen würden und ihr Know-how daher im Unternehmen bliebe, selbst wenn sie zu einem anderen Arbeitgeber wechselten.

Nach Ansicht von Willms Buhse, Gründer der Netzwerkagentur DoubleYUU, steht im Enterprise-2.0-Modell wieder mehr der Mitarbeiter mit seinen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Anstatt bei der Lösung von Problemen primär auf Informationen aus Datenbanken zu vertrauen, gehe es bei Social Software vor allem darum, die kompetentesten Ansprechpartner zu finden und deren Wissen sowie Erfahrung zu nutzen.

Maßgeblich für diesen Wandel dürfte die Einsicht sein, dass dokumentiertes Wissen alleine oft nicht weiterhilft, wenn es sich nicht in den Erfahrungshorizont eines kompetenten Mitarbeiters einordnen lässt – gerade so, wie die Lektüre einer Tennisanleitung noch keinen guten Spieler macht. Hinzu kommt, dass gerade in besonders wissensintensiven und dynamischen Branchen wie der IT die Halbwertszeit von Informationen so kurz ist, dass sie in wenigen Jahren veralten. Daher besteht wenig Hoffnung, dass sich über eine IT-gestützte Wissensbasis die Folgen des demografischen Wandels abfedern lassen, wenn die Generation der Baby Boomer ihr Know-how mit in den Ruhestand nimmt.

Moderne IT als Köder für Talente

Im Vergleich zu manch sperriger Enterprise-Software sind mit den einfachen Tools aus dem Web 2.0 nicht nur geringe Einstiegshürden verbunden. Ihr Vorteil besteht auch darin, dass gerade jüngere Mitarbeiter damit aus ihrer Freizeit vertraut sind. IT-Hersteller, die Social Software für Unternehmen anbieten, argumentieren teilweise damit, dass die Modernisierung von Collaboration- und Kommunikationswerkzeugen nötig sei, um talentierten Nachwuchs zu gewinnen. Die "Digital Natives" seien nicht bereit, mit aus ihrer Sicht veralteten Mitteln wie Desktop-PCs und E-Mail vorlieb zu nehmen.

Bei der Rekrutierung von Talenten spielen Tools aus dem Web 2.0 indes noch eine andere Rolle, als eine Firma zu einem attraktiven Arbeitgeber zu machen. In seinem viel zitierten Buch "Wikinomics" beschreibt Don Tapscott als ein zentrales Merkmal einer neuen Unternehmenskultur, dass sich Firmen stärker nach außen öffnen müssen.

Der Werkzeugkasten

Mit Enterprise 2.0 ist gemeint, dass Unternehmen Tools aus dem sozialen Web intern nutzen. Zu den regelmäßig genannten Kandidaten zählen:

  • Weblogs,

  • Wikis,

  • RSS,

  • Social Bookmarks,

  • Mashups,

  • dynamische Clients auf Basis von Ajax/RIA,

  • soziale Netzwerke,

  • Instant Messaging/Unified Communications,

  • Microblogging (Twitter).

Firmen adaptieren Community-Kultur

Dies betrifft nicht nur die engere Kooperation mit Partnerfirmen, sondern auch Online-Communities aus lose organisierten Individuen. Zum einen produzieren sie etwa im Rahmen von Open-Source-Projekten Produkte, die mit kommerziellen Angeboten konkurrieren oder diese ergänzen können. Die meisten Softwarehäuser verwenden heute Open-Source-Komponenten, so dass sie in irgendeiner Form mit den freien Teams interagieren müssen.

Der rein konsumierende Ansatz greift in der Regel zu kurz, weil Unternehmen damit keinen Einfluss auf die Richtung des Projekts gewinnen. Zudem werden ihre eigenen Erweiterungen auf diese Weise nicht Bestandteil der Distribution und damit nicht von der Community weiterentwickelt.

Eine enge Kooperation mit Open-Source-Projekten setzt nicht nur die Verwendung ähnlicher oder gleicher Arbeits- und Kommunikationsmittel voraus, sondern bedingt auch eine kulturelle Angleichung. Vorschläge für neue Features werden nicht deshalb akzeptiert, weil es der Chef eines fest angestellten Open-Source-Entwicklers möchte. Vielmehr müssen kommerzielle Teilnehmer die gleichen Spielregeln beachten wie jene, die unbezahlt in ihrer Freizeit mitarbeiten.

Interaktion mit dem Kunden

Zu den immer wieder genannten Triebkräften, die zu einer offenen Unternehmenskultur drängen, zählt die veränderte Rolle des Kunden. Er kann dank Internet viel besser zwischen Produkten und Preisen verschiedener Hersteller vergleichen. Unzufriedenen Käufern stehen zudem viele Möglichkeiten offen, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, um ihren Unmut öffentlich kundzutun und den Ruf eines Unternehmens zu ramponieren.

Der mitgestaltende Prosumer

Kunden treten jedoch nicht nur als potenzielle Bedrohungen in Erscheinung, sondern können in Form des aktiv an der Produktentwicklung mitgestaltenden Prosumers wertvolle Ideen und Anregungen beisteuern. Voraussetzung ist auch dafür, dass Firmen entsprechend durchlässig sind und solche Beiträge von außen integrieren können.

Zu diesem Zweck bedarf es einerseits passender Tools, aber vor allem einer entsprechenden Kultur. Firmen, die intern die Prinzipien von Offenheit und Transparenz nicht leben, tun sich damit schwer. Wenn etwa nur die Marketing- und PR-Abteilungen Collaboration-Software einsetzen und ein Monopol für die externe Kommunikation für sich beanspruchen, dann wird das Unternehmen nur einen einseitigen und beschränkten Zugang zu Außenstehenden finden. Wer selbst nicht gut zusammenarbeitet, kann dies auch nicht mit seinen Partnern und Kunden tun.