Wi(e)der die alten Strukturen!

13.11.1992

Fritz Schmidthäusler; freier Fachjournalist in Mönchengladbach

In den östlichen, den neuen Bundesländern nennt man sie Seilschaften: die alten Personalstrukturen, die sich nicht auflösen können beziehungsweise wollen. Sich von alten Strukturen zu trennen, fällt aber auch vielen Menschen in den alten Bundesländern schwer. Zwar wurde bereits in den 60er Jahren der Abbau der Hierarchien in den Unternehmen propagiert; doch ist in dieser Hinsicht so wenig passiert, daß heute die alten Theorien unter dem neuen Schlagwort vom schlanken, vom Lean Management wieder auf den (Schreib-)Tisch kommen.

Apropos Schreibtisch: Auf vielen Schreibtischen: steht heutzutage ein PC. Und da es anscheinend - oder angeblich? - sehr schwer ist, sich von alten Angewohnheiten zu verabschieden, wird auf vielen PCs der Schreibtisch nachgebildet. Als die Icon-Technik bei Xerox in den USA entwickelt und später von Apple verbreitet wurde, war das Ziel, die Funktionen und Arbeitsabläufe auf' dem Bildschirm so darzustellen, daß der Benutzer damit gewohnte, manuelle Arbeitsvorgänge assoziieren könnte, um sich schneller einzuarbeiten,

Es war aber keineswegs das Ziel, den Bildschirm mit bunten Bildchen zu überladen. Doch während anfangs noch von einer Abbildung des Schreibtisches die Rede war, ging es später gleich um "alle wesentlichen Gegenstände und Funktionen eines herkömmlichen Büros". Da aber früher niemand sein ganzes Büro auf dem Schreibtisch hatte, fragt man

sich, warum er es jetzt auf dem Bildschirm sehen soll. Übrigens sollte man dann auch wenigstens die Kaffeemaschine abbilden, denn diese läßt sich - im Gegensatz zu einem Schnellhefter - sogar vom PC aus starten.

Zugegeben, der Mensch denkt in Verb-Objekt-Zusammenhängen - das Subjekt habe ich hier mal weggelassen -, wobei dieses Denken stark bildlich geprägt ist; bei dem Wort "Auto" sieht man beispielsweise das eigene Fortbewegungsmittel vor dem geistigen Auge. Deshalb erscheint es logisch, diese Denkweise bei der Arbeit am Computer zu berücksichtigen und die zu bearbeitenden Objekte entsprechend zu visualisieren.

Aber man kann alles auch übertreiben. Ein typisches Beispiel dafür sind die elektronischen Archivierungs-Systeme, die fast alle auf einer bildlich dargestellten Hierarchie von Dokument, Mappe, Ordner, Schrank basieren.

Dabei funktionieren elektronische Speichermedien nach völlig anderen Kriterien; und zwar nach solchen, die sich auch für Laien verständlich darstellen lassen und die zudem völlig neue Nutzungsmöglichkeiten erschließen. Warum also die Nachbildung sequentieller, hierarchischer Strukturen bei wahlfreien, direkten Zugriffsmöglichkeiten? Anders gefragt: Warum soll man sich zum Beispiel über den langen Weg Schrank-Ordner-Mappe-Dokument hangeln, wenn man mit jedem guten Textverarbeitungs-Programm

ein gesuchtes Dokument direkt - und sogar mittels eines im Text enthaltenen Suchbegriffes - finden kann?

Und wenn dann auf dein Bildschirm Schränke, Aktenordner und Sammelmappen noch in den unterschiedlichsten Farben und Formen dargestellt werden,

muß sich ein denkender Mensch doch fragen: Was soll's? Kennen Sie vielleicht jemanden, der beim Anblick eines grünen Ordners im gelben Fach des roten Schrankes an den Brief für den Kunden Heinrich Müller denkt? Aber mit dein Denken gibt es sowieso ein gewisses Problem. Da findet man zum Beispiel auf manchen Bildschirmoberflächen einen Papierkorb abgebildet. Doch Manchmal steht dieses Symbol nur für das Clipboard, das heißt, wenn man ein zweites Stück Papier hineinwirft, ist das erste verschwunden (das ist eher ein Müllschlucker als ein Papierkorb), während man bei anderen Anwendungen noch nach einer gewissen Zeit -bevor die Putzfrau da war- wieder etwas aus dem Papierkorb entnehmen kann.

Allerdings könnte man aufgrund der Struktur vieler PC-Anwendungen annehmen, daß sowieso die meisten Briefe und Dokumente für den Papierkorb gedacht sind. Da gibt es beispielsweise selbst bei den modernsten Textverarbeitungs-Programmen noch immer die sogenannte Serienbrief-Schreibung, die bereits zu Zeiten der dedizierten Textsysteme - also vor mehr als einem Jahrzehnt- von den Fachleuten für tot erklärt worden war.

Schließlich war es ja endlich möglich, mittels Textbausteinen individuelle Briefe schnell zu erstellen. Daß die beim Empfänger in jeder Hinsicht besser ankommen und dem Absender mehr Nutzen bringen als ein serienmäßig vervielfältiger Text, sollte inzwischen allgemein bekannt sein.

Die Serienbrief-Schreibung ist ein Relikt aus jenen Zeiten, als man einen Text auf der Schreibmaschine schrieb und dann auf einer Offset-Maschine vervielfältigte, um anschließend mit Adrema-Platten die Adressen auf die Vervielfältigungen zu drucken.

Diesen Ablauf mit einem elektronischen Werkzeug wie dem PC nachzuvollziehen, erscheint schon fast hirnverbrannt. Denn damit handelt man sich unter anderem das uralte Problem wieder ein, daß das Angebot sich nicht in der Korrespondenz mit dein jeweiligen Kunden befindet. Im Klartext: Der elektronische Kunden-Aktenordner ist unvollständig.

Es gibt noch viele andere Beispiele für die elektronische Nachbildung alter und überholter Strukturen. In den 50er Jahren zitierte der Autor einer utopischen Story ein Lebewesen von einem anderen Planeten mit den Worten: "Wer bei uns sagt ,Das haben wir aber schon immer so gemacht', der wird aus unserer Gemeinschaft, ausgestoßen." Vielleicht wäre eine Neuauflage dieses Romans ganz sinnvoll.