Berufsbild mit vielen Facetten und Unschärfen

Wer hat Angst vor dem E-Commerce-Profi?

04.02.2000
MÜNCHEN (hk) - Alle suchen ihn, nur was er tut, weiß keiner so genau. In Jobanzeigen fahnden Firmen nach E-Commerce-Spezialisten. Was ihre Arbeit angeht, sind heute noch viele Interpretationen möglich.

Ob Bedarf herrscht oder nicht: Wer als Arbeitgeber in seiner Stellenanzeige mit dem Begriff E-Commerce wirbt, kann sicher sein, dass er ein paar Bewerbungen mehr bekommt. Denn jeder Jobsuchende möchte in einem Umfeld mit Perspektiven arbeiten und zu den Pionieren der neuen Ökonomie gehören.

Der vielzitierten New Economy soll die Zukunft gehören, wenn man den zahlreichen Prognosen der Analysten Glauben schenken darf. Einer Vorhersage des European Information Observatory (Eito) zufolge sollen die online vorgenommenen Handelstransaktionen bereits bis 2001 weltweit ein Gesamtvolumen von 500 Milliarden Mark pro Jahr übersteigen. Deutschland könnte dabei mit geschätzten 25 Milliarden Mark zum größten interaktiven Markt Europas werden. Und laut einer aktuellen Gartner-Group-Studie werde beispielsweise allein das Business-to-Business(B-to-B)Geschäft im Internet von jetzt 174 Milliarden Dollar auf 7,2 Billionen im Jahre 2004 wachsen. Beste Voraussetzungen also - zumindest auf dem Papier - für die Entstehung neuer Jobs.

So gesehen war es nur konsequent, dass das Münchner Arbeitsamt zu einer Veranstaltung über die Chancen von E-Commerce-Spezialisten einlud. Der Vortragssaal, in dem eine Podiumsdiskussion mit Vertretern von fünf Hightech-Firmen stattfand, war so gut besetzt wie schon lange nicht mehr. Auch in der daran anschließenden Ausstellung, in der sich große und kleine, alte und junge Unternehmen als E-Commerce-Arbeitgeber präsentierten, herrschte zeitweilig großes Gedränge.

Wer allerdings darauf gehofft hatte, hier Stellenbeschreibungen serviert zu bekommen, war auf der falschen Veranstaltung. Frank Kohler, gleichzeitig Geschäftsführer des Computer Bildungszentrums (CBZ) und der Internet-Startup-Firma Nexxus, machte in der Diskussion deutlich, dass es im Internet-Zeitalter "keine geregelten Berufe" mehr gibt und dass "E-Commerce viele Facetten beinhaltet", die jedem Bewerber auch Chancen einräume.

Für den Münchner Unternehmen gibt es drei große Bereiche, wo E-Commerce-Jobsuchende unterkommen können:

-Infrastruktur: Dazu zählt er die klassischen Hardware- und Softwarehersteller sowie die Internet-Provider;

-Content: Damit meint Kohler Medienunternehmen und Verlage.

-Beratung: Hier drängen die etablierten IT- und Multimedia- Dienstleister in dieses Geschäft.

Die konkreten Einsatzgebiete sind jedoch weniger spektakulär wie Alexander Protogerov vom E-Commerce-Anbieter City 24 ausführt. Gefragt sind demnach Netzwerkspezialisten, Webmaster, Vertriebler und Projektverantwortliche. Auseinander gingen die Meinungen, als über das Thema Qualifikation und Ausbildung diskutiert wurde.

"Aus einem Soziologen wird kein Entwickler"Ixos-Personalchef Rüdiger Lindenmeyer und Andreas Achner von Mummert + Partner fordern solide Softwarekenntnisse. Achner, studierter Schiffbauingenieur, empfahl eine Ausbildung zum Systementwickler, weil diese am ehesten helfe, sich auf allen technologischen Plattformen zurechtzufinden.

Lindenmeyer erwartet von einem Bewerber, der E-Commerce-Lösungen entwickelt, ein technisches Studium und Erfahrung in C++, Java und HTTP. Allerdings würde er trotz gegenwärtigen Personalnotstands nicht jeden Absolventen eines technischen Studiums nehmen: ein Kernphysiker oder Bauingenieur sind für ihn bereits Exoten. Eine klare Absage erteilt er den Quereinsteigern: "Wir können aus Soziologen keine Entwickler machen." Vorbei seien die Zeiten, in denen man es sich leisten konnte, monatelang Branchenfremde einzulernen. Das Internet-Geschäft erlaube keine Verschnaufpause - also auch keine Zeit, Mitarbeiter auszubilden.

Achner hat da eine pragmatischere Haltung. Angesichts des leer gefegten IT-Arbeitsmarktes müsse er Kompromisse eingehen. Einer davon sieht so aus, dass er auch Quereinsteiger nimmt, diese aber für zwei bis drei Monate bei einem Schulungsinstitut fit für das E-Commerce-Geschäft machen lässt.

In der Beratung, aber auch im Marketing und Vertrieb gehe es vor allem darum, zu verstehen, was es mit dem Thema E-Commerce auf sich habe. Nexxus-Chef Kohler bringt es auf den einfachen Punkt: Wer keine Neigung verspüre, in dieses neue Geschäft einzusteigen, dem werde auch keine Schulung nützen. Er erwähnt die vielzitierten Schlüsselqualifikationen, die einen Beschäftigten des E-Commerce-Zeitalters auszeichnet: Phantasie, Kreativität und Geschwindigkeit. Protogerov von City 24 versucht den Quereinsteigern Mut zu machen: "Was Sie brauchen, ist gesunder Menschenverstand." In seinem Haus säßen ein Geologe und ein Historiker in führenden Positionen. Er erwarte "das Funkeln in den Augen des Bewerbers." Arbeit sei genügend da, nur passten die Kandidaten nicht immer zu den Firmen.

Weniger euphorisch sind dagegen die rund 500 Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft, die der Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaften der Universität Erfurt im Rahmen der Delphi-Studie befragt wurden. Mehr als die Hälfte von ihnen rechnet aufgrund der Rationalisierungspotentiale des digitalen Handels mit Beschäftigungsverlusten von mindestens zehn Prozent innerhalb der Europäischen Union. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch eine E-Commerce-Studie der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD). Sie geht davon aus, dass Online-Aktivitäten in hohem Maße nur bisherige Geschäftsprozesse ersetzen werden und es daher zu keiner Mehrbeschäftigung kommt. Positive Effekte erwarten die Experten im Hinblick auf die Ausweitung von Telearbeitsplätzen.

Unabhängig davon, ob nun Skeptiker oder Optimisten bezüglich der Anzahl der entstehenden Jobs Recht behalten werden, ist im E-Commerce-Umfeld eine positive Stimmung für Unternehmensgründungen entstanden, wie auch die Arbeitsamtveranstaltung in München widerspiegelte. Und jeder Gründer schafft rein statistisch gesehen fünf neue Arbeitsplätze. Allerdings ist diese Rechnung Makulatur, wenn die Beobachtung der Gartner Group richtig ist, wonach 75 Prozent aller E-Commerce-Neugründungen schnell wieder Pleite gehen. Auf der Veranstaltung in München herrschte bei den "Jungen Wilden" dennoch großer Optimismus.