Personalauswahl 4.0

Wenn Software in die Seele des Bewerbers schaut

16.06.2016
Von 
Michael Schweizer ist freier Autor in München.
Sprachanalyse- und Spielsoftware findet über Kunden, Mitarbeiter und Bewerber mehr heraus, als die selbst über sich wissen. Viele CIOs und ­Personalleiter bevorzugen persönlichere Methoden.
  • Mit Sprachsoftware lässt sich über Bewerber auf mehreren psychologischen Ebenen viel herausfinden
  • Zudem können bestimmte Softwaren helfen, Führungskräfte zu schulen
  • CIOs sehen noch keinen Bedarf für die Anwendung solcher Software

"Prävention wird im psychischen Bereich oft vernachlässigt", sagt Ralf Steinbrecher von Actimonda. Die Aachener Krankenkasse bot ihren Versicherten deshalb den Service "VoiceCheck" an. Kostenfrei und anonym konnten sie sich bei einem Sprachcomputer einwählen und zehn bis 15 Minuten lang telefonisch Fragen zum Urlaub oder dem typischen Verlauf eines Sonntags beantworten.

Wenig später hatten sie, versinnbildlicht durch einen mehr oder weniger blühenden Baum, eine automatisch erstellte Auswertung ihres Stresslevels auf dem Bildschirm, wenn nötig garniert mit Hinweisen auf autogenes Training oder ein Selbsthilfebuch. Auch ernsthafte psychische Erkrankungen sollen sich auf diese Weise früh erkennen lassen. Actimonda gab den Service wieder auf, weil zu wenige Versicherte ihn nutzten. Steinbrecher hält VoiceCheck aber für wissenschaftlich fundiert und sagt nur Gutes darüber.

Analysiert wird nicht, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird

VoiceCheck ist einer der Dienste, den das Aachener Unternehmen Psyware auf Grundlage seiner Software "Precire" entwickelt hat. Was der Testteilnehmer dem Sprachcomputer sagt, ist egal, Precire analysiert das Wie, und zwar einerseits prosodisch (Stimmführung, Tonlage etc.), andererseits linguistisch (Satzbau, Wortwahl etc.). Nach Angaben von Psyware unterscheiden die Precire-Algorithmen 180 000 sprachliche Variablen, die mit psychologischen Merkmalen korrelieren.

Dazu wurden Sprachproben von 5000 Personen genommen, die auch psychologische Tests durchliefen. "Auch wenn man ein Youtube-Video mit Precire auswertet, erfährt man auf zwei, drei psychologischen Ebenen viel über den Sprecher", wirbt Psyware-Gründer und -CEO Dirk Gratzel. "Mit einem kompletten Precire-Test sind es wesentlich mehr Ebenen."

Wenn das stimmt, dann liegt es nicht fern, sich von Precire bei der Personalauswahl helfen zu lassen. Dazu dient der Service "JobFit", zu dessen Anwendern das Zeitarbeitsunternehmen Randstad zählt. Der Bewerber ruft den Sprachcomputer an und antwortet etwa 20 Minuten lang auf bis zu 50 Fragen, danach geht eine Auswertung seiner Eigenschaften und Fähigkeiten von Psyware an den Auftraggeber. Die Fragen sind normalerweise immer dieselben, beziehen sich also nicht auf die zu besetzende Stelle. Der Bewerber bekommt keine Denkaufgaben zu lösen, wie sie für "Perls" und andere klassische Eignungstestsoftware typisch sind. Precire soll herausfinden, ob der Bewerber persönlich zu Unternehmen und Job passt.

CIOs fragen lieber selber

Eben davon machen sich viele CIOs lieber selbst ein Bild. Sebastian Saxe, CIO der Hamburg Port Authority (HPA) und CIO des Jahres 2015 in der Kategorie Mittelstand: "Ich bin ein Freund der Digitalisierung. Aber wenn wir unter den Bewerberinnen und Bewerbern eine Vorauswahl mit Software treffen würden, würden wir Leute mit Ecken und Kanten, die letztlich gut zu uns passen, nie zu Gesicht bekommen." Ob jemand gerne bei der HPA arbeiten und mit einem Gehalt des öffentlichen Dienstes zufrieden sein werde, "kann man nur in einem persönlichen Kontakt feststellen".

Sebastian Saxe, CIO der Hamburg Port Authority: "Wenn wir eine Vorauswahl mit Software treffen, würden wir Leute mit Ecken und Kanten nie zu Gesicht bekommen."
Sebastian Saxe, CIO der Hamburg Port Authority: "Wenn wir eine Vorauswahl mit Software treffen, würden wir Leute mit Ecken und Kanten nie zu Gesicht bekommen."
Foto: HPA

Auch für die fachliche Auswahl von Spezialisten findet Uta Knöchel, Leiterin Stabsstelle IT des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, die Kriterien, denen Auswahlsoftware folgt, zu allgemein: "Wir sind oft froh, wenn wir für eine freie Stelle drei versierte Interessenten finden." Angesichts von ungefähr 136 IT-Mitarbeitern im UKSH ist die Zahl der Einstellungsverfahren überschaubar. Vielversprechende Bewerber lädt Knöchel, die beim CIO des Jahres 2015 zu den Top Ten der Teilnehmer aus Großunternehmen gehörte, zu einem eintägigen Probearbeiten ein.

"Spielesoftware für Bewerber haben wir vor sechs, sieben Jahren mal ausprobiert", erinnert sich HPA-CIO Saxe. ­"Damit lassen sich sehr gute Einblicke in Verhaltensweisen und Persönlichkeit gewinnen." In diesem Sinne hat Shell Mitarbeiter mit dem Spiel "Wasabi Waiter" auf Innovativität getestet. Der Spieler schlüpft in die Rolle eines Kellners, nach 20 Minuten zeichnet die Software von ihm ein Persönlichkeitsprofil.

Auf Rechenaufgaben und Logikfragen kann man sich vorbereiten. Software wie Perls ist insofern für den Bewerber ein Gegner, der mit offenem Visier kämpft. Das Bestechende und Beunruhigende an Precire und Wasabi Waiter ist, dass sie bewerten sollen, wie Menschen unwillkürlich handeln, gewissermaßen: wie sie wirklich sind. Das wirft ethische Fragen auf. Guy Halfteck, der Erfinder von Wasabi Waiter, argumentiert mit Gerechtigkeit und Objektivität: Der Algorithmus verbessere die beruflichen Aussichten von Begabten, die keine teure Universität besucht hätten.

Uta Knöchel ist Leiterin Stabsstelle IT des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und sieht aufgrund der überschaubaren Anzahl an Bewerbern keine Notwendigkeit für eine Software.
Uta Knöchel ist Leiterin Stabsstelle IT des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und sieht aufgrund der überschaubaren Anzahl an Bewerbern keine Notwendigkeit für eine Software.
Foto: Uniklinikum Schleswig-Holstein

Precire-Gründer Gratzel verweist auf zwei ethische Sicherungen. Die eine besteht darin, dass Psyware die Auswertungstechnik nicht aus der Hand lässt: "Wo damit Missbrauch getrieben würde, gibt es kein Precire." Die andere ist der katholische Pfarrer und Schriftsteller Christoph Stender, der Psywares Scientific Advisory Board angehört: "Er ist ein sehr wertvoller Partner für uns in allen grundlegenden ethischen Fragen, die unsere Arbeit betreffen."

Das könnte auch für das rhetorische Spannungsfeld zwischen Überzeugen und Überreden gelten. Gratzel empfiehlt, Führungskräfte auf Basis von Precire-Analysen in optimistischerer Sprache zu trainieren, wenn in ihrem Unternehmen Änderungen bevorstehen. "Um solche Dinge" gehe es auch in den Kooperationen mit den Personalberatungen ifp und Kienbaum.

Kein Bedarf in der IT?

"Wir haben in unserer IT-Branche nicht so viele Bewerbungen, dass wir eine maschinelle Auswahl treffen müssen, sondern wir können noch händisch auswerten", argumentiert Herbert Wittemer, Leiter Personal des Dienstleisters msg Systems. Auch für HPA-CIO Saxe zählt die Größe: "Wenn wir 5000 oder 10.000 Mitarbeiter und entsprechend viele Bewerber hätten, müssten wir uns in der Vorauswahl auch von Software helfen lassen." Er ist froh, dass er das nicht tun muss: "Wenn es um die Auswahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geht, möchte ich die IT-gestützten, mechanisierten Vorgänge etwas zurücknehmen."

Im Video: Professionelle Bewerbungsunterlagen - das Anschreiben

(Quelle: video2brain, Trainer: Erich Buchinger)

Software und Services für die Bewerberauswahl

1. Sprach- und Sprechanalyse-Software Precire
Unterbezeichnungen wie VoiceCheck und JobFit sollen aufgegeben werden.

Hersteller: Psyware, Aachen. Umbenennung in Precire Technologies vorgesehen.

Zweck: Die Software schließt aus sprachlichen Mustern wie Syntax und Wortwahl und aus Sprechweise und Stimmführung auf die Stressbelastung des Sprechenden (VoiceCheck) oder auf seine Eignung für bestimmte berufliche Profile (JobFit).

Funktionsweise: Der Teilnehmer beantwortet einer Telefonstimme maximal 20 Minuten lang Fragen etwa zu Alltag, Urlaub und Beruf.

Zusätzliche Services: Online-Coaching für gestresste Führungskräfte (VoiceCheck+), automatisch erzeugte Einarbeitungs- und Personalentwicklungspläne nach der Einstellung (JobFit+), rollenspezifische Trainings durch zertifizierte Partner nach automatischem Telefoninterview (PersonnelDevelopment).

Anwender: Sekurit, DAK-Gesundheit (VoiceCheck), Rand­stad (VoiceCheck, JobFit, JobFit+), Actimonda (VoiceCheck, ehemalig), ips, Kienbaum (Kooperationen).

2. Perls

Hersteller: Eligo, Bochum und Berlin.

Zweck: Auswahl externer und interner Bewerber, Potenzialanalysen.

Funktionsweise: Klassische, online zu absolvierende Leistungs- und Eignungstests. Die Aufgaben betreffen unter anderem Denkgeschwindigkeit, Rechnen, Schlussfolgern, Regelerkennung, Sprachgefühl und Teamorientierung.

Zusätzliche Services: Marketing-Konzepte, Online-Assessments, Auswahlinstrumente für die persönliche Vorstellung.

Anwender: Allianz, Edeka, Lufthansa, Sparkasse Bielefeld, Telekom und viele andere.

3. Wasabi Waiter, Balloon Brigade

Hersteller: Knack, Palo Alto.

Zweck: Aus dem Geschick und Ungeschick, mit dem jemand spielt, schließt die Software auf seine charakterlichen und intellektuellen Eigen­schaften. Wasabi Waiter erstellt ein solches Persönlichkeitsprofil nach 20 Minuten Spiel.

Funktionsweise: Wasabi Waiter und Balloon Brigade sind App-Games, die jeder auch ohne beruflichen Bezug für sich alleine spielen kann. Bei Wasabi Waiter übernimmt der Spieler die Rolle eines Kellners in einem Sushi-Restaurant, der viele Gäste zu bedienen hat. Bei Balloon Brigade muss er mit Hilfe von Wasserballons Blumen gießen.

Anwender: Shell (testweise)