WAN-Übertragungstechnik/

Wenn sich Altes und Neues im WAN trifft

16.08.1996

Die Ausgangssituation ist oft die gleiche: Sprache und Daten werden - noch - über getrennte Leitungen übertragen, wobei man für Daten in der Regel Fest- und für Sprache Fest- oder Wählverbindungen nutzt. Dies ist insofern ineffektiv, weil die vorhandenen Leitungskapazitäten selten zu 100 Prozent von einer Applikation benötigt werden und deshalb teure Bandbreite ungenutzt bleibt. Zudem gilt es, zwei verschiedene Infrastrukturen zu unterhalten.

Der erste Schritt zu einer Optimierung ergibt sich durch die gemeinsame Übertragung von Sprache und Daten über eine Leitung. Konsequenz: Es ist weniger Systemtechnik nötig und durch die Verwendung von Kompressionsverfahren läßt sich die Bandbreite erheblich reduzieren. Die Nutzung einer gemeinsamen Leitung für unterschiedliche Anwendungen setzt allerdings die Einhaltung des Quality-of-Service-Aspekts für jede einzelne Applikation voraus. Konstante Bit-Raten, wie sie etwa bei der Sprachübertragung entstehen, erfordern sehr geringe Verzögerungszeiten, gleichzeitig jedoch relativ konstante Bandbreiten, während umgekehrt bei variablen Bit-Raten die Verzögerung eher unerheblich ist, die Bandbreite aber stark schwankt.

Am effektivsten und sichersten erweisen sich hier Systeme, die variable Bit-Raten, zum Beispiel für die LAN-LAN-Kopplung, und konstante Bit-Raten für Sprache und Video unterscheiden. Sicher bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Übertragungsqualität für konstante Bit-Raten auch bei hohem Datenaufkommen gewährleistet ist - was im übrigen auch insofern von Vorteil ist, daß sich ungenutzte Kapazitäten eines Corporate Networks an andere Unternehmen oder Nutzer "untervermieten" lassen, denen in diesem Fall ebenfalls eine konstante Bandbreite und gleichbleibende Qualität garantiert werden muß. Effektiv heißt, daß für jede Applikation der optimale WAN-Dienst zur Übertragung gewählt sowie - je nach Anwendung - sich zusätzliche Optimierungstechniken wie etwa Komprimierungsverfahren einsetzen lassen.

So ist es unter anderem mög- lich, standortübergreifende LAN-LAN-Kommunikation über Frame Relay abzuwickeln, während bei anderen Datenanwendungen auf solche Anwendungsszenarien zugeschnittene WAN-Dienste (etwa ISDN oder X.25) zum Einsatz kommen. Frame Relay verkörpert für den Burst-artigen LAN-Verkehr die optimale Übertragungsart, weil hier eine flexible Nutzung der Bandbreite möglich ist.

Frame Relay deckt den Grundbedarf ab

Alle Frame-Relay-Verbindungen greifen dabei auf einen gemeinsamen Bandbreiten-Pool zu. Aus diesem Pool läßt sich wiederum jeder Verbindung eine garantierte Mindestbandbreite zuordnen. Abbildung 2 veranschaulicht dieses Szenario anhand dreier Verbindungen: Eine nutzt 70 Prozent ihrer zugewiesenen Kapazität, die zweite 30 Prozent, und die dritte ist voll ausgelastet. In diesem Fall kann aber beispielsweise auch Verbindung drei bei kurzfristig höherem Bandbreitenbedarf auf die ungenutzten Kapazitäten der anderen beiden Verbindungen zugreifen (siehe Abbildung 3).

Während also über Frame Relay der Grundbedarf an Übertragungskapazität für die LAN-LAN-Kopplung abgedeckt und gleichzeitig optimal zwischen den Verbindungen geteilt wird, gibt es auch Fälle, in denen zusätzliche Kapazitäten wünschenswert sind. Hierzu zählen beispielsweise Backup-Leitungen, die in der Regel immer dann Verwendung finden, wenn - zumindest teilweise - auch geschäftskritische Daten über das Netz transportiert werden und sich demzufolge auf eine entsprechende Ausfallsicherheit kaum verzichten läßt.

Die einfachste, aber auch teuerste Lösung ist hier die Anmietung einer weiteren Festverbindung - mit dem Nachteil, daß diese eben auf Dauer bezahlt werden muß.

Eine kostengünstigere Alternative stellt eine ISDN-Wählverbindung dar, die bei einem Ausfall der Hauptverbindung automatisch vom Switch oder Multiplexer aktiviert wird. Das gleiche Verfahren kann auch bei Überlastung der Hauptverbindung eingesetzt werden. Hier "wählt" der Switch über das öffentliche ISDN Bandbreite hinzu und stellt in Spitzenzeiten zusätzliche Kapazitäten zur Verfügung, was in einem Corporate Network sowohl für Daten- als auch für Sprachanwendungen attraktiv sein kann. Bis zu welcher durchschnittlichen Auslastung sich eine Fest- respektive wann sich eine ISDN-Wählverbindung rechnet, sollte der Anwender allerdings zuvor in einer Verkehrsanalyse ermitteln.

Das Optimum läßt sich hier relativ einfach durch eine Gegenüberstellung der Gebühren pro Leitungstyp und dem kundenspezifischen Bandbreitenbedarf herausfinden. Dabei ist das gesamte Verkehrsprofil zu berücksichtigen. Analysen zeigen beispielsweise, daß zu bestimmten Tageszeiten, etwa morgens und nachmittags, die Auslastung sowohl bei den Daten- als auch bei den Sprachanwendungen gleichermaßen steigt. In solchen Fällen hilft es nur wenig, wenn man beispielsweise versucht, sogenannte Sprachspitzen mit der Umschaltung auf eine vorhandene Datenleitung abzufangen. Viel kostengünstiger ist es dann, lediglich die durchschnittlich benötigte Kapazität für Sprache und Daten anzumieten und bei zusätzlichem Bedarf ISDN zu nutzen.

Ist die Integration von Sprache und Daten in einem Corporate Network anhand wirtschaftlicher Überlegungen normalerweise durchaus wünschenswert, birgt diese unter Umständen aber - je nach verwendeter Systemtechnik - auch Nachteile in sich. Kritisch zu beleuchten sind dabei vor allem zwei Dinge: die Sicherstellung einer gleichbleibend hohen Übertragungsqualität bei konstanten Bit-Raten (für Sprache und Video) sowie die netzweite Verfügbarkeit klassischer PBX-Leistungsmerkmale (Privat Branche Exchange), zum Beispiel Rufweiterleitung oder automatischer Rückruf.

In einem Corporate Network kommunizieren die PBX-Anlagen heute in der Regel immer noch über proprietäre Protokolle, etwa das von Siemens unterstützte Cor-Net-N oder das von British Telecom (BT) entwickelte und in Systemen von Alcatel und Ericsson implementierte DPNSS1. Zwar wurde mit dem QSIG-Protokoll ein Standard etabliert, der eine Verständigung von Anlagen unterschiedlicher Hersteller ermöglicht, bis heute sind allerdings nur Basisfunktionen spezifiziert. Darüber hinaus wird QSIG noch nicht von allen Herstellern unterstützt. Da die genannten herstellerspezifischen Protokolle weit mehr und vor allem komfortablere Leistungsmerkmale als QSIG bieten, ist davon auszugehen, daß sie auch noch in den nächsten Jahren die "PBX-Szenerie" in Corporate Networks dominieren werden.

Anwender, die netzweit den gleichen Komfort wie bei der internen Kommunikation wünschen, müssen daher - zumindest für absehbare Zeit - ihr Corporate Network mit PBX-Anlagen einer einzigen Firma bestücken oder sich bei einer heterogenen Umgebung mit den QSIG-Basisfunktionen begnügen. Im öffentlichen ISDN sieht die Situation etwas anders aus. Hier werden die nationalen Kommunikationsprotokolle (zum Beispiel 1TR6 in Deutschland) gerade durch das allgemein standardisierte Euro-ISDN (DSS1) abgelöst - ein Prozeß, der bis Ende des Jahrtausends abgeschlossen sein soll und damit schneller vonstatten gehen dürfte als die generelle Einführung von QSIG.

Typische Störungen beim Telefonieren wie Rauschen, Halleffekte oder Echos können zum einen auftreten, wenn Switches oder Multiplexer eingesetzt werden, die - wie erwähnt - bei der Zuordnung der Bandbreite beziehungsweise der Verbindungen nicht zwischen variablen und konstanten Bit-Raten unterscheiden, oder aber durch die verwendeten Komprimierungsverfahren. Letztere sind jedoch nahezu unabdingbar, da sie zur effektiveren Ausnutzung der Bandbreite beitragen. In einfachen Punkt-zu-Punkt-Verbindungen stellen sie jedoch meistens kein Problem dar, da auf Sendeseite komprimiert und auf Empfangsseite dekomprimiert wird. In vermaschten Netzen, in denen ein "Ruf" aber über mehrere Netzknoten läuft, muß beim Einsatz herkömmlicher Übertragungssysteme an jedem Knoten dekomprimiert werden. Dies deshalb, weil die über den D-Kanal mit jedem Signal transportierte Routing-Information in der PBX-Anlage und nicht im Multiplexer ausgewertet wird - die PBX-Anlage aber lediglich 64-Kbit/s-Signale und keine komprimierten Signale akzeptiert.

Mehrfachkompression verschlechtert Qualität

Diese Mehrfachkompression trägt entscheidend zu einer Verschlechterung der Übertragungsqualität bei, weshalb modernere Übertragungssysteme das Problem geschickt zu umgehen versuchen. Die gängige Lösung hierzu heißt Voice-Switching, eine spezielle Form der Sprachvermittlung. Dabei werden derzeit zwei Verfahren auf dem Markt angeboten: protokollabhängige Voice-Switching-Verfahren und das protokollunabhängige Procedere Super Tandem HCV.

Die protokollabhängigen Verfahren vermeiden die Mehrfachkompression, indem sie die Routing-Informationen nicht nur in der PBX, sondern auch im Übertragungssystem, also vor allem im Multiplexer oder Multiservice-Switch, vorhalten. Mit anderen Worten: Der Multiplexer entscheidet anhand seiner Routing-Tabelle, ob er der letzte Multiplexer in der Übertragungskette ist, dekomprimiert in diesem Fall und gibt das dekomprimierte Signal an die adressierte PBX weiter, die das Signal ihrerseits an den angeschlossenen Endteilnehmer vermittelt.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß der Multiplexer quasi feststellt, daß er nur als eine Art Zwischenknoten fungiert, und das Signal an den nächsten Multiplexer in der Kette weiterleitet. Diese Entscheidung trifft er allein, ohne die hinter ihm geschaltete PBX einzubeziehen. Die Verlagerung der Routing-Informationen in die Multiplexer löst zwar das Problem der Mehrfachkompression und die dadurch hervorgerufene Qualitätsminderung, bringt aber in der Praxis zusätzliche Probleme mit sich. So müssen die Routing-Tabellen in beiden Systemen gehalten und laufend, meist von Hand, aktualisiert werden.

Die mehrfache Vorhaltung der Routing-Tabellen hat zudem zur Folge, daß sowohl in der PBX als auch im Multiplexer Vergebührungsdaten über ein und dasselbe Telefonat entstehen. Sollen die Kosten beispielsweise abteilungsbezogen weiterberechnet werden (was von den Anwendern in den Corporate Networks immer öfter gewünscht wird), müssen die Daten der unterschiedlichen Systeme miteinander abgeglichen werden.

Multiplexer sollten in der Regel QSIG verwenden

Bei Änderung des Kommunikationsprotokolls in den PBX-Anlagen sind daher auch die eingesetzten Multiplexer entsprechend anzupassen. Da die PBX-Anlagen in Corporate Networks vorwiegend auf der Basis proprietärer Protokolle kommunizieren, bedeutet dies, daß die Multiplexer entweder alle auf dem Markt vorhandenen Kommunikationsprotokolle implementiert haben oder QSIG verwenden müssen. Letzteres hat aber automatisch zur Folge, daß die PBX-Anlagen einen Großteil ihrer gerade durch die proprietären Protokolle möglichen komfortablen Funktionen verlieren.

Anders dagegen bei Super Tandem HCV. Auch hier vermeidet man eine Mehrfachkompression, die Routing-Informationen werden aber nicht verteilt, sondern bleiben in der PBX. Erhält ein entsprechend konfigurierter Multiplexer ein komprimiertes Sprachsignal, entscheidet er selbständig, ob er dieses vor der Weitergabe an die PBX dekomprimieren muß oder nicht. Der Super-Tandem-HCV-Algorithmus ist dabei so angelegt, daß der Multiplexer für diese Entscheidung keine eigenen Routing-Tabellen benötigt.

Für den jeweiligen Betreiber des Corporate Networks bedeutet das eine entscheidende Entlastung. So muß er keine Routing-Tabellen im Multiplexer verwalten. Zudem ist auch die Weiterverrechnung von erbrachten Netzleistungen problemlos möglich, da die Vergebührungsdaten nicht über mehrere Systeme verteilt sind. Das Super-Tandem-HCV-Verfahren verhindert damit die Mehrfachkompression, ohne neue Nachteile mit sich zu bringen. Entscheidend ist vor allem, daß es von den PBX-Kommunikationsprotokollen unabhängig ist und somit mit jeder PBX-Anlage und all deren übergreifenden Leistungsmerkmalen funktioniert.

Prinzipiell gilt jedoch: Keiner der heute verfügbaren WAN-Dienste ist für Sprach- und Datenanwendungen gleichermaßen gut geeignet, vielmehr wurde jeder für einen bestimmten Applikationstyp optimiert (siehe Grafik auf Seite 29). So ist zum Beispiel X.25 heute bei Datenanwendungen weit verbreitet, kommt aber aufgrund seiner Nachteile, vor allem der niedrigen Übertragungsgeschwindigkeit und des mit dem Protokoll verbundenen hohen Overheads sowie der dadurch hervorgerufenen Verzögerungen, gerade für die Zielgruppe mit dem größten Bedarf an WAN-Kommunikation - die LAN-Anwender - kaum in Frage.

Ähnliches gilt für Festverbindungen mit reinen Zeitmultiplexern (TDM), da diese durch die fest zugewiesene Übertragungskapazität für die LAN-LAN-Kopplung zu ineffizient sind. ISDN wiederum besitzt eine hohe Verfügbarkeit und ist kosteneffektiv für Backup- oder Überlaufzwecke für eine kontinuierliche Nutzung in einem Corporate Network eignet es sich aufgrund der im Vergleich zum TDM-Verfahren höheren Kosten jedoch nicht. Frame Relay läßt sich indes sehr effektiv bei der LAN-LAN-Kopplung verwenden, nicht aber für Sprache oder andere zeitkritische Daten.

ATM schließlich gilt zwar schon seit Jahren als das Übertragungsverfahren der Zukunft schlechthin, noch dazu als eines, das für alle Anwendungen verwendet werden kann. Ein genereller Einsatz wäre heute im WAN-Bereich aber noch verfrüht. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: zum einen, weil man beim Betrieb von Corporate Networks heute in der Regel noch mit 2-Mbit/s-Leitungen gut auskommt - einer Bandbreite, für die ATM zu ineffizient ist. Zum andern steht ATM momentan zwar als 155-Mbit/s-Festverbindung, nicht jedoch als flexibler und vor allem kostengünstiger WAN-Dienst zur Verfügung.

Hierin liegt letztlich das Plus eines Multiservice-Switches, der die Funktionen eines X.25- und Frame-Relay-Knotens ebenso wie die eines TDM-Multiplexers oder auch ATM-Switches bietet. Auf der Seite des Endteilnehmers stehen Schnittstellen für alle Endgeräte zur Verfügung, auf der WAN-Seite konzentriert der Switch Sprache sowie Daten und entscheidet, welches WAN-Protokoll für die entsprechende Applikation das wirtschaftlichste ist. Das bedeutet, daß nur eine Leitung für alle Dienste benutzt werden kann, daß sich für jede Anwendung der günstigste WAN-Dienst und in Zukunft außerdem der jeweils preisgünstigste Carrier für die WAN-Übertragung auswählen läßt.

Angeklickt

Integration heißt das Motto im Corporate Network - nicht nur, was die Verbindung der vormals getrennten Sprach- und Datenwelten angeht, sondern auch in puncto unterschiedlicher WAN-Dienste respektive Übertragungsverfahren. Die jeweils spezifische Anwendung und ihre Erfordernisse rücken, neben dem Zwang zu erhöhter Effektivität und einer deutlichen Kostenreduktion, immer mehr in den Vordergrund. Der Multiservice-Switch könnte dabei den Anwender aus seinem "Dienste-Dilemma" befreien.

*Olaf Krahmer ist im Geschäftsbereich Vernetzungssysteme der Siemens AG verantwortlich für Produkt-Management.