Wenn Science und Fiction verschmelzen

18.11.1988

Im Untergeschoß des naturwissenschaftlichen Gebäudes der amerikanischen Purdue University steht die Skulptur eines in Plastik gegossenen Enzyms. Das Molekülmodell gleicht einem kahlen Brombeerstrauch: Es besteht aus einem Wirrwarr farbcodierter Zweige, die die verschiedenen chemischen Bindungen symbolisieren.

Aus dem angrenzenden Computerraum hört man ein Stimmengewirr: Wissenschaftler sind dabei, das moderne Pendant des Molekülmodells zu diskutieren. Sie stehen vor einem Computerbildschirm, der in klaren Strichen und extravaganter Farbsymphonie ein Schnupfenvirus aufleuchten läßt. Die Struktur des Virus ist 80mal größer und wesentlich komplexer als jene des Enzyms in der Vorhalle.

Die Wissenschaftler geraten ins Schwärmen

Vor dem Bildschirm baumeln stereoskopische Brillen, mit denen sich das langsam rotierende Virus in drei Dimensionen betrachten läßt. Auf Tastendruck können die Forscher eine bestimmte Perspektive anwählen, einzelne Molekülstränge in hellen Farben kennzeichnen oder sogar Bindungen entfernen, um so deren Bedeutung für die gesamte Virusstruktur zu untersuchen.

Die Möglichkeiten, die der Computer bietet, sind so phantastisch, daß selbst die nüchternen Wissenschaftler ins Schwärmen geraten. Ein Waliser Kristallograph und Fan des Schriftstellers J. R. Tolkien taufte das Computerprogramm FRODO, nach dem fußhaarigen Helden der Elben in Tolkiens Epos "Der Herr der Ringe". Über dem Bildschirm steht eine Tafel mit der Aufschrift "Meisterwerke der Science-fiction". Die beiden Vergleiche sind angebracht: Neben der Molekularbiologie gibt es wohl kaum einen Forschungsbereich, in dem Fiktion und Wissenschaft so gelungen miteinander verschmelzen.

Willkommen also im Reich von Michael Rossmann und seines Forscherteams! Sie haben einiges zu bieten: 1985 war es ihnen gelungen, das Strukturrätsel eines menschlichen Schnupfenviren zu lösen. Damit war zum ersten Mal eine Virusstruktur vollständig - bis auf die Atomebene - bekannt. Ein Jahr später zeigten Thomas Smith und seine Kollegen, wie eine Klasse von Antiviren die Verbreitung von Viren verhindern kann.

Diese Entdeckungen haben der Virologie einen gewaltigen Auftrieb gebracht. Heute setzen die wissenschaftlichen Institute und Pharmahersteller weltweit Computersysteme ein, um neue chemische Verbindungen zur Bekämpfung von Viren zu finden - aber auch, um hinterher die Wirkungsweise bestehender Medikamente zu erforschen. "Wir wissen jetzt, wie wir Medikamente verändern müssen, damit sie wirksamer werden", erklärt Edward Arnold, ein Chemiker in Rossmanns Team. Tatsächlich gelang es den Forschern, die Wirkkraft solcher Medikamente durch eine chemische Modifikation zu versechsfachen.

Fehlende Gene einfach einimpfen

Ein anderer, vielversprechender Weg für die Bekämpfung von Krankheiten ist die Verwendung von "ausgehöhlten" Viren als Transportmittel für genetisches Material. Auch da können die Purdue-Forscher bereits einige Erfolge verbuchen: "Wir kennen heute Molekülsysteme, die sich dafür hervorragend eignen", erklärt Arnold. "Zum Beispiel hat es im Virus, den man für die Pockenimpfung, genügend Platz, um es als Transportmittel für neue Gene zu benutzen."

Hier wird die Sache - gelinde gesagt - spannend: "Auf diese Weise", fährt Arnold fort, "könnte man mit bestimmten Viren ungefährliche Teile von andern Viren - zum Beispiel von AIDS-Viren - in den Körper einschleusen, so daß das menschliche Immunsystem sich die typischen Merkmale potentieller Angreifer merken und so Abwehrstrategien entwickeln kann, bevor es wirklich einmal ernst wird."

AIDS-Viren in den Körper einschleusen? Das Entsetzen des Besuchers ist perfekt. "Natürlich", betont der Forscher rasch, "darf man für diesen Zweck nur reproduktionsunfähige Teile eines gefährlichen Virus in den Körper bringen - Teile also, die menschliche Zellen nicht angreifen und eine Infektion verursachen können."

Ein noch futuristischer anmutendes Gebiet der Virologie ist die "Einimpfung" fehlender Gene in menschliche Zellen. Mit dieser Methode hoffen technikgläubige Forscher, dereinst auch Genschäden reparieren zu können. Rossmann: "Was wir tun, ist nicht nur wichtig für die Viren, sondern für die gesamte biologische Zellforschung - das Potential ist riesengroß." Mit dieser Aussage wäre wohl auch FRODO einverstanden.