"Wenn Kinder solche Helme aufsetzen, ist es gefaehrlicher"

19.05.1995

Der deutsche Mediziner Ingolf Mertens untersucht an der University of California in Berkeley, welche negativen Auswirkungen elektronische Displays auf das menschliche Sehsystem haben koennen. Hilde-Josephine Post sprach fuer die CW mit dem Forscher.

CW: Die Entwicklung bei VR-Datenhelmen steckt noch in den Kinderschuhen. Ist es nicht noch zu frueh, um physiologische Auswirkungen zu untersuchen?

Mertens: Ich denke eher, jetzt ist es noch nicht zu spaet. Die VR- Systeme stehen ja schon in den Vergnuegungsparks, es gibt Cybercafes, und es ist abzusehen, dass die Helme billiger werden. Man muss hier etwas tun, da viele Firmen denken, VR besteht darin, einfach einen Helm aufzusetzen, ein Bild zu berechnen und sich nicht um das visuelle System zu kuemmern.

CW: Sind denn die Hersteller der VR-Helme an Ihren Untersuchungen interessiert?

Mertens: Sony ist bisher unser einziger Kooperationspartner.

CW: Haben Sie denn auch mit anderen Firmen Kontakt aufgenommen?

Mertens: Mit der Firma Stereographics Corp., die diese kabellosen Brillen "Crystal Eyes" anbietet, unterhielt ich mich ueber negatives Feedback von den Kunden. Mitarbeiter der Firma erklaerten, dass sie die raeumliche Tiefe in ihrem Display auf 20 bis 30 Zentimeter begrenzen, weil es Anwendern tatsaechlich unangenehm war, mit Molekuelen zu arbeiten, die direkt vor ihnen sichtbar sind, dann aber wieder in die Ferne schauen muessen. Durch die Begrenzung sei dieser Effekt schwaecher. Ich habe grosse Bedenken, wenn die Displays sehr lange - ein oder zwei Stunden - getragen werden. Diese Systeme sind naemlich fuer Architekten, Wissenschaftler oder Ingenieure vorgesehen, die dann die LCD- Brille den ganzen Tag aufhaben.

CW: Gibt es denn keine technische Moeglichkeit, die Probleme, die bei der Tiefenwahrnehmung auftreten, in den Griff zu bekommen?

Mertens: Doch. Eine Loesung waere, die Augenbewegung zu messen und entsprechend dem Objekt, auf das ich im virtuellen Raum schaue, die Brechkraft des Systems zu aendern. Das bedeutet aber einen zusaetzlichen hohen Rechen- und damit Kostenaufwand. Vielleicht stellt sich eines Tages heraus, dass es erforderlich ist, weil es unter den Arbeitsschutz fallen wird.

CW: Firmen wie Sega, die ihre Helme fuer VR-Computerspiele entwickeln, die sicher auch von Kindern getragen werden, muessten doch an Ihren Tests interessiert sein?

Mertens: Soviel ich weiss, wird das Sega-Display im privaten Forschungsinstitut SRI (Stanford Research International) getestet. Gerade wenn Kinder solche Helme aufsetzen, birgt es natuerlich eine noch groessere Gefahr, weil bei Kindern das 3D-Sehvermoegen noch nicht fertig entwickelt ist. Diejenigen, die an einem latenten Schielen leiden, denen kann ein stundenlanges Tragen eines solchen Displays nachher groesste Schwierigkeiten bereiten - beispielsweise, dass sie nicht mehr in der Lage sind, Gegenstaende in ihrer Umwelt zusammenzusetzen und deshalb Doppelbilder wahrnehmen.

CW: Wie sollten sich denn die VR-Datenhelm-Hersteller verhalten?

Mertens: Bereits in der Entwicklungsphase, also lange bevor die Produkte in grosser Zahl auf den Markt gestreut werden, sollten sich die Hersteller an Spezialisten wie zum Beispiel Augenaerzte und Optiker wenden. Dem Anwender wuerde ich empfehlen, dass er zugeben sollte, wenn er Kopfschmerzen bekommt, unscharf sieht oder ihm schwindlig wird. Er sollte es nicht vor seinen Kollegen - oder, was Kinder betrifft - vor den Eltern verschweigen.

CW: Ist unsere Angst nicht etwas uebertrieben? Als das TV oder der Computer auf den Markt kamen, wurden auch negative Stimmen laut.

Mertens: Die Verbreitung solcher Medien schreitet jetzt viel schneller voran. Waehrend der Computer langsam Einzug gehalten hat und es Jahrzehnte dauerte, bis er in Millionen-Stueckzahlen verbreitet war, sehe ich bei VR eine Art Pilzwucherung. Es steht ja auch die Idee dahinter, dass sich jeder selbst in der Garage Virtual Reality zusammenbrauen kann. Wenn es negative Auswirkungen gibt, werden sie staerker sein als bei den PCs.