Wenn die Mitarbeiter ihren Chef bezahlen

16.09.2003
Von Jürgen Fuchs
In Sachen Personal-Management arbeiten die Firmen noch immer mit frühkapitalistischen Modellen. Das wird nicht so bleiben, denn in Zukunft werden Unternehmen wie Marktplätze funktionieren, auf denen Mitarbeiter ihr Wissen anbieten müssen. Sie arbeiten nicht mehr für den Chef, sondern für den Kunden, von dem sie sich auch das Lob abholen.

Marx und Marktwirtschaft: Seit über 100 Jahren wurden und werden diese Begriffe als gegensätzlich gebraucht, manchmal auch missbraucht. Wie feindliche Brüder stehen sie sich gegenüber. Aber jeder braucht den anderen zur eigenen Profilierung. Karl Marx prangert an, dass durch den Übergang vom Handwerk zur Fabrik die Menschen nicht mehr über die Produktionsmittel verfügten. Handwerksmeister und Gesellen hatten noch ihr eigenes Werkzeug.

Die Fabrikhallen und Maschinen waren aber jetzt in der Hand von Kapitalisten, die ihre Arbeiter zu "Sklaven" machten. Er beklagte auch die "Entfremdung von der Arbeit", weil die Arbeiter keine Gewerke mehr erstellen konnten. Die Produktion wurde in kleine Schritte zerlegt. Die Menschen mussten einfache, vorgeschriebene Handgriffe verrichten. So sahen und sehen sie nicht das Ergebnis, den Wert und den Sinn ihres Tuns.

Was würde der Verfasser von "Das Kapital" wohl heute schreiben, wenn er die Wissens- und Dienstleistungsunternehmen vor Augen hätte wie Investment-Banken und Consulting-Unternehmen, Versicherungsmakler und Wirtschaftsprüfer oder exzellent geführte Hotels? Aber auch die Handwerksbetriebe mit qualifizierten Leuten und die ganz "normalen" Dienstleister, die sich nur durch die Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Mitarbeiter differenzieren können. Ihre Produkte und Prozesse werden immer austauschbarer. In diesen Unternehmen sind die Mitarbeiter und ihr Wissen die wesentlichen Produktionsmittel. Sie sind jetzt das Kapital, die Hauptsache (von lat. Capitus). Das, was sie vermögen, ist das Vermögen der Firma - ihr Leistungsvermögen. Nur durch die Leistung der Mitarbeiter für die Kunden kommt Geld in die Kassen.

Eine wesentliche Konsequenz: Das Unternehmen und sein Management können jetzt nicht mehr über ihre Produktionsmittel verfügen. Die Wissensträger, das "Intellectual Capital", kann man nicht besitzen ("darauf sitzen"). Eine Firma kann nur dafür sorgen, dass sie für die Menschen attraktiv ist - mit ihrer Unternehmenskultur.

Der Kunde ist der Arbeitgeber

In den Wissens- und Dienstleistungsbetrieben sind die Mitarbeiter zwar noch Arbeit-Nehmer, aber der Arbeit-Geber ist nicht mehr der Chef, sondern der Kunde. Dieser gibt die Arbeit - oder auch nicht. Der Kunde erkundigt sich überall, jetzt auch über das Internet. Gut informierte Kunden wollen Mitarbeiter, die kompetent, informiert und entscheidungsfähig sind. Für das Wohl dieser Menschen würde Marx mehr Marktwirtschaft fordern und weniger Gängelung - innerhalb und außerhalb der Unternehmen. Dann können sie ihre Leistungsfähigkeit voll entfalten und entwickeln.

In der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft widersprechen sich die Forderungen von Marx und die Gesetze der Marktwirtschaft nicht mehr. Das klingt zu schön, um wahr zu sein! Wo ist der Haken? Warum spüren wir diese Prinzipien nicht in allen Unternehmen? Die Antwort ist ganz einfach: Die meisten Firmen verharren heute noch in der industriellen und frühkapitalistischen Vorstellungswelt, insbesondere bei ihren Strukturmodellen, ihren Führungspraktiken, ihren Karrierevorstellungen und ihren Vermögensbegriffen.

Die neuen Strukturen: Netze statt Pyramide

Die Vorstellungen werden sich aber in Zukunft verändern: Das Denken in Netzen wird das Denken in Pyramiden ergänzen, vielleicht sogar ersetzen. Das gängige Strukturmodell im Unternehmen ist immer noch die Pyramide mit dem Chef oben, den Mitarbeitern unten und den Kunden manchmal ganz unten. Die Zukunft gehört horizontalen Netzstrukturen - nicht nur zwischen virtuellen Unternehmen, sondern auch in den einzelnen Firmen. Prinzipien der Marktwirtschaft müssen und werden auch innerhalb der Unternehmen gelten. Zentralbereiche arbeiten dann als Dienstleistungszentren für die anderen Leistungszentren wie Produktion oder Vertrieb.

Zentrale Stäbe stehen - wie der Name schon sagt - im Zentrum des "Marktplatzes" Unternehmen und nicht oben auf einer Spitze. Das Unternehmen ist organisiert wie ein Markt, auf dem jeder nach marktwirtschaftlichen Prinzipien sein Wissen und seine Leistungen an den Mann bringen kann und muss. Jeder Arbeitsplatz hat ein Gesicht, und jeder Arbeitsplatz hat Kunden, externe oder interne. Das heißt, der Mitarbeiter arbeitet nicht mehr für seinen Chef, sondern für seinen Kunden. Er holt sich sein Lob, natürlich auch vom Kunden - für seine gute Leistung. Er blickt zu seinem Chef nicht wie ein Hund zu Herrchen und wartet nicht auf das gönnerhafte "Brav gemacht! Weiter so!" Er holt sich seine Streicheleinheiten von seinen Kunden und Kollegen - für seine Leistungen.