Strategisches Informations-Management/Mangelnde Transparenz behindert die Strategie

Wenn die eigene Struktur das unbekannte Wesen ist

24.11.2000
Viele Unternehmen wissen heute mehr über ihre Absatzmärkte als über sich selbst. Doch ein strategisches Informations-Management bedarf des Überblicks über die internen Strukturen und Abläufe, um seinen "Markt" bedienen zu können. Diese Transparenz zu schaffen ist weniger eine technische als eine unternehmespolitische Herausforderung. Von Helmut Strohmeier*

Strategien zu entwickeln und umzusetzen heißt: sich aufschwingen, um in eine sichere, angenehme, erfolgreiche Zukunft zu steuern. Es gilt, Chancen und Risiken zu entdecken. Deshalb dienen zur Kennzeichnung des Begriffs auch positive Adjektive wie vorausschauend, umfassend, bedeutend, durchdacht, mittelfristig und frei von Zwang.

Nun wissen wir spätestens seit den Sandkastenspielen berühmter Feldherren, was zum Finden der richtigen Strategie gebraucht wird: Transparenz. War es im Sandkasten das modellierte Gelände, das ein Schmieden Erfolg versprechender Angriffspläne gestattete, so sind es heute die Realitäten des Marktes, von denen ein strategisches Handeln geprägt wird - insbesondere in Bereichen wie der Produktentwicklung und -vermarktung, sowie Vertriebswege und "Going public". Situation und Tendenzen am Markt werden in die strategischen Überlegungen einbezogen. Bedarfs- und Konkurrenzanalysen sind peinlich genau erstellt, bevor sich ein Unternehmen entschließt, mit einer neuen Idee an den Markt zu gehen. Zuerst für eine Transparenz des Marktes sorgen, dann gezielt in die sich bietenden Lücken stoßen, so lautet die Devise erfolgreicher Strategen.

Wie sieht es dagegen im Bereich des Informations-Managements und der Unternehmensorganisation aus? Leider ist hier von Strategie noch immer sehr wenig zu erkennen. Es herrscht das Reagieren auf veränderte Situationen vor - oder schlimmer: Es werden nur Rückstände und Versäumnisse aus der Vergangenheit aufgearbeitet. Wie seit jeher, gilt das Informationswesen als Derivat anderer strategischer Felder, das sich nebenbei - mehr schlecht als recht - mitbehandeln lässt.

Folgerichtig wird der Markt des Informations-Managements, das Unternehmen in seinem real existierenden Umfeld, auch erst dann bedient, wenn er seinen Bedarf lautstark artikuliert. Vorausschauendes Durchleuchten oder strategisches Aufbereiten ist kaum zu erkennen, zumal sich der interne Markt - im Gegensatz zu manchem externen - auch sehr wenig transparent zeigt. Viele Unternehmen wissen heute mehr über ihre Absatzmärkte als über sich selbst.

So kommt es, dass die organisatorischen Systeme zwar irgendwie funktionieren, aber bisweilen äußerst nebulös agieren. Diese Tatsache entpuppt sich als Hemmschuh für neue strategische Ideen. Strategische Fortentwicklungen - nicht nur im Informationswesen - scheitern heute bisweilen daran, dass die Transparenz im Unternehmen just zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gebraucht würde, nicht vorhanden ist. Das Beispiel der gescheiterten Fusion zwischen Deutscher Bank und Dresdner Bank zeigt dies eindringlich.

Wenn es richtig ist, dass Transparenz die strategische Entwicklung fördert, dann gilt vermutlich auch der Umkehrschluss: Mangelnde Transparenz verhindert strategische Weiterentwicklungen.

Wenn wir die Auswirkungen einer Weiterentwicklung nicht abschätzen können, bekommen wir Angst und lassen im Zweifel lieber das "Altbewährte" wie es ist. Wir werden uns dem Neuen so lange verweigern, bis uns die Zwänge keine Chance mehr lassen, überhaupt etwas zu tun. Und dann haben wir uns mit Rückständen und Versäumnissen auseinanderzusetzen. Zu Taten schwingen wir uns erst auf, wenn die Furcht, Rechenschaft über diese Versäumnisse ablegen zu müssen, größer wird als die Angst, etwas falsch zu machen.

Verschleuderte InvestitionenAber damit hinken wir immer nur hinterher. Wir verpassen die richtigen Zeitpunkte, werden in unseren konzipierten Lösungen dürftig und angreifbar. Letztlich kommt es zu teuren Fehlschlägen und verschleuderten Investitionen. Transparente Organisationen hingegen würden die Voraussetzung liefern, um einen strategischen Vorsprung zu gewinnen, von dem die gesamte Organisation profitieren kann.

Warum aber ist in den meisten Unternehmen so wenig Transparenz vorhanden? Ausschlaggebend sind hauptsächlich zwei Gründe:

1. Die ständig steigende Komplexität unserer Unternehmen und ihrer Umgebungen, gepaart mit einer im selben Maße zunehmenden Spezialisierung, machen es auch weitsichtigen Menschen unmöglich, Zusammenhänge und Wirkungen einigermaßen gesichert zu überschauen. Hilfsmittel in Form klarer Strukturen sind noch nicht gefunden.

2. Die meisten Menschen spüren Angst beim Gedanken an zu viel Transparenz und verhindern sie deshalb. Sie fürchten um ihr Ansehen, wollen sich ständiges Dreinreden ersparen oder bangen gar um ihren Arbeitsplatz, wenn deutlich wird, welche Aufgaben sie wahrnehmen und welche Rolle sie im Unternehmen spielen.

Der zweite Punkt weist auf ein Führungsproblem hin, das hier nicht Gegenstand der Erörterung sein kann. Der erste Punkt hingegen sollte analytisch denkende Menschen herausfordern: Jede Komplexität ist beherrschbar, sobald ein Modell gefunden ist, in das sich alle Elemente eines komplexen Systems einordnen und mit ihren Zusammenhängen beschreiben lassen.

Reengineering-Vorhaben kurieren nur SymptomeDass wir ein solches Modell derzeit nicht besitzen, wird uns tagtäglich vor Augen geführt. Wir wissen nicht mehr, wer für was zuständig ist, was im Unternehmen zu tun ist, wer was kann, welche Arbeitsabläufe und Kommunikationsbeziehungen wie funktionieren. Und weil wir das nicht mehr wissen, schicken wir unsere internen E-Mails "sicherheitshalber" an alle. Wir glauben, damit unserer Informationspflicht Genüge zu tun, klagen aber gleichzeitig über die Masse der bei uns eingegangenen Mails, die wir gern wenigstens durchblättern würden - von einer wirklichen Behandlung der Informationen haben wir schon längst Abstand genommen.

Von Zeit zu Zeit wird dann eine nicht ganz billige Management-Beratungsfirma ins Haus geholt, die (mal wieder) für Transparenz sorgt, um daraus Organisationsstrategien abzuleiten. Doch wir übersehen dabei nur zu leicht, dass damit allenfalls eine Stichtagstransparenz entsteht. Bereits am folgenden Tag - spätestens dann, wenn die Beratungsfirma wieder aus dem Haus ist - wird an einem neuen intransparenten Geflecht geschmiedet. Das sichert zwar den Folgeauftrag der Beratungsfirma, der strategischen Weiterentwicklung dient es aber wenig.

Es nutzt also nur wenig, immer mal wieder ein Reengineering-Projekt aufzusetzen - zumal die Geschwindigkeit, mit der unsere Unternehmen den externen und internen Veränderungen ausgesetzt sind, rasend zunimmt. Irgendwann werden sich die Reengineering-Projekte wohl selbst überholen.

Was wir viel dringlicher bräuchten, wäre eine stets zeitnahe Darstellung der Situation mit ebenso aktuellen Hinweisen, an welchen Stellen sinnvollerweise etwas zu tun ist: ein System, das x-beliebige Ereignisse aufnimmt, ihre Konsequenzen vollständig beurteilt und vor dem Eintritt schädlicher Wirkungen zu geeigneten Handlungen auffordert. Damit könnte das Informations-Management seinen ureigensten Markt klar überblicken.

Wir müssen also ein komplettes Modell der betrieblichen Realität entwerfen und über das Unternehmen stülpen, um für Transparenz zu sorgen. Nichts als Utopie? Nein, durchaus realisierbar! Die wesentlichen Merkmale eines Unternehmens oder einer öffentlichen Verwaltung sind eigentlich sehr leicht strukturierbar. Eine Organisation hat eine Existenzberechtigung, wenn sich folgende Fragen zweifelsfrei und schlüssig beantworten lassen.

- Warum gibt es die Organisation? (Frage nach dem Zweck)

- Was leistet beziehungsweise produziert sie? (Frage nach der Leistung)

- Für wen erbringt sie ihre Leistungen? (Frage nach der Zielgruppe)

- Wer trägt zur Leistungserbringung bei? (Frage nach den Ressourcen)

- Wie ist sie organisiert? (Frage nach den Regelungen)

- Welchen Einflüssen ist sie ausgesetzt? (Frage nach dem Einfluss)

Sind diese Fragen vollständig beantwortet, so ist das Unternehmen oder die öffentliche Verwaltung komplett beschrieben.

Ein Unternehmen setzt sich also aus nicht mehr als sechs hauptsächlichen "Objektklassen" zusammen: Zweck, Leistung, Zielgruppe, Ressource, Regelung, Einfluss. Wenn alle "Objekte" eines Unternehmens selektierbar und gut strukturiert diesen "Hauptobjektklassen" zugeordnet wären, könnte nichts mehr übersehen werden.

Demnach ist ein Unternehmen, und mag es auch noch so komplex sein, eigentlich alles andere als kompliziert. Nur wenn wir erlauben, dass sich jede Abteilung ihre eigenen Strukturen einrichtet, wird es - auch für den Strategen - nicht mehr überschaubar.

Allerdings reicht es nicht, die konkreten Objekte eines Unternehmens zu kennen. Wenn wir strategische Weiterentwicklungen betreiben wollen, müssen wir auch die Beziehungen zwischen diesen Objekten berücksichtigen. Wir müssen also wissen,

- welcher Zweck (Nutzen, Ziele) maßgeblich ist, um welche Leistungen festzulegen,

- welche Ressourcen (Personen, Mittel) welche Leistungen erbringen,

- welche Regelungen (Verantwortungsbereiche, Prozesse) welche Leistungen organisieren,

- welche Ressourcen welche Regelungen beanspruchen,

- welche Zielgruppen (Kunden, Beteiligte) durch welche Leistungen versorgt werden,

- mit welchen Zielgruppen sich welcher Zweck erfüllt und

- welche positiven und negativen Einflüsse jeweils auf andere Objekte wirken.

Diese Arten von Beziehungen existieren in jedem real operierenden Unternehmen. Es lebt, weil es unter Berücksichtigung der Beziehungen danach trachtet, seine Objekte in gewünschte Zustände zu überführen. Wenn uns aber das obige Modell als Maßstab für unsere Handlungen fehlt, erkennen wir nicht, ob wir bestimmte Objekte vernachlässigen, wünschenswerte Zustände nicht erreichen beziehungsweise in unerwünschte zurückfallen oder ob wir bedeutende Beziehungen zwischen den Objekten versehentlich ignorieren. Wir verändern und reorganisieren, ohne die relevanten Zusammenhänge und Wirkungen zu durchschauen.

So kommt es zu Lösungen, die später einmal als "historisch gewachsen" bezeichnen werden - dann, wenn sie ihre Mängel deutlich offenbaren: Ertragsrückgang, mangelnde Kundenzufriedenheit und qualitätsarme Produkte. Dann tut es plötzlich Not, hoppla-hopp mit viel Beratungsaufwand (und wenig durchdacht, denn Sorgfalt lässt die Zeit nicht zu) neue Lösungen zu konzipieren und einzurichten, damit nur schnell dem Negativtrend Einhalt geboten wird. Ist das Strategie?

Transparenz generiert sinnvolle ProjekteEine hieb- und stichfeste Strategie lässt sich nur entwickeln, wenn alle Objekte der betrieblichen Realität mit ihren tatsächlichen Zuständen jederzeit klar und deutlich auf dem Tisch liegen. Neben den Zuständen der Objekte brauchen wir aber auch Messverfahren, mit denen wir erkennen können, ob die Objekte in die gewünschten Zustände überführt sind oder nicht.

Im zweiten Fall sollten die Objekte selbst "schreien und mahnen". Sie müssen sich melden, wenn an einer Stelle durch Wegfall oder durch Hinzukommen eines anderen Objekts eine Beziehung hinfällig wird oder eine neue einzurichten ist. Und sie müssen zu erkennen geben, wenn ein Zustand stets nur mit hohem Aufwand zu erreichen ist oder wenn sie von anderen Objekten nicht richtig bedient werden.

Derartige Transparenz würde uns mit der Nase auf jene Stellen stoßen, an denen Projekte sinnvoll und notwendig sind. Wir könnten erkennen, wo wirklicher Bedarf besteht. Es würde deutlich, welche angrenzenden Objekte zu berücksichtigen sind, wenn wir einen klar abgegrenzten Projektausschnitt erhalten wollen. Zweckmäßige, Erfolg versprechende Projekte wären nicht nur früher erkennbar, sie würden sich auch ohne viel Aufwand klar abgrenzen und bewerten lassen.

Ein vollständiges Geflecht aus Objekten, Beziehungen und Zuständen hat einen weiteren Vorteil: Es erlaubt das für Strategien typische Was-wäre-wenn-Spiel. Strategien entwickeln bedeutet eben nichts anderes, als spielerisch Objekte eines Unternehmens unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen hinzuzufügen, auszutauschen und wegzustreichen sowie anschließend die Wirkungen zu analysieren. Beziehungen von Objekten der betrieblichen Realität werden nach einer Reorganisation nur dann besser funktionieren, wenn sie zuvor lückenlos beachtet wurden.

Selbstverständlich - und glücklicherweise - führen Objekte in einem Unternehmen kein Eigenleben, sondern sind abhängig von Menschen, die sich um sie kümmern. Objekte brauchen ein Sprachrohr, also einen verantwortungsbewussten Menschen. Der wird sich allerdings nur dann um ein Objekt kümmern, wenn er zweifelsfrei dafür verantwortlich gemacht wurde. Transparenz nützt nichts, solange niemand gefunden und verpflichtet ist, die Objekte in erwünschte Zustände zu überführen beziehungsweise die unerwünschten Zustände rasch zu beseitigen. Deshalb sind im Modell Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche zu definieren, die sich an der Struktur der Objekte orientieren.

Für die Abteilung Informationsverarbeitung und ihre Mitarbeiter ergibt sich daraus ein vollkommen neues, sehr imageträchtiges Betätigungsfeld: das angebotsorientierte Entwickeln von Lösungen. Systementwickler werden nicht mehr nur dann und nur deshalb tätig, weil irgendwann jemand nach einer neuen Lösung schreit, sondern weil sie selbst aus dem Zustand von Objekten erkannt haben, dass es sich lohnt, neue, strategisch sinnvolle Lösungen anzustreben.

Die hochintelligenten, im Prinzip kreativen und meist auch motivierten Mitarbeiter in der Informationsverarbeitung sind einfach zu schade, um stets nur nachfrageorientiert zu agieren - und dann auch noch Prügel einzustecken, wenn ihnen in versäumnisbedingten Projekten nicht gelingt, im Überschalltempo Lösungen zu verwirklichen, die sich ein in Hektik verfallener Auftraggeber erträumt. Wir sollten endlich aus der paradoxen Situation herauskommen, dass die Hightech- und fortschrittsorientierte Abteilung Informationsverarbeitung zum Bremser der Unternehmensweiterentwicklung gestempelt wird.

*Helmut Strohmeier ist Geschäftsführer der Strohmeier & Partner GmbH, Markt Schwaben bei München. Intensiver verfolgt er den in seinem Beitrag skizzierten Gedankengang in seinem Buch "Rechtzeitig die richtigen Projekte finden" (ISBN 3 8249 0605 8), das soeben im TÜV-Verlag, Köln, erschienen ist.

Abb: Im Prinzip lässt sich jedes Unternehmen mit Hilfe von sechs Kriterien beschreiben. Doch diese Transparenz nimmt ab, wenn jede Abteilung eigene Strukturen entwickelt. Quelle: Strohmeier