Unmut über Multiple-Choice-Prüfungen in den neuen IT-Berufen

Wenn die Azubis schneller lernen als ihren Chefs lieb ist

11.06.1999
Von Helga Ballauf* Sie üben die Quadratur des Kreises. Auszubildende und Prüfer müssen bei den Examen in den neuen IT-Berufen hohe Hürden meistern: bundeseinheitlich soll der Leistungstest ausfallen und gleichzeitig betriebsbezogen sein. Anlaufschwierigkeiten blieben bei den ersten Prüfungen nicht aus.

"Strukturiertes Denken kann man nicht in Kreuzen auf Papier messen. Eine solche Fähigkeit läßt sich nur bei einem vernetzten und vielschichtigen Problem nachweisen." So schimpfte Ende letzten Jahres ein Duisburger Berufsschüler im Internet nach der Zwischenprüfung. Der angehende Fachinformatiker war über die vielen Multiple-Choice-Aufgaben erbost, die er in seiner Prüfung abarbeiten mußte. Noch viel mehr ärgerte ihn aber das Antwortschreiben der nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammer (IHK): Darin stand, man könne sehr wohl "handlungsorientierte Situationsaufgaben in programmierter Form" - durch Ankreuzen der richtigen Lösung - bewerten.

Nach dem schriftlichen Teil der ersten Abschlußprüfungen hagelte es Anfang Mai erneut Kritik von den Auszubildenden. Teilweise veröffentlichten sie ihren Unmut wieder im Internet. Ein Zankapfel bleiben zum Beispiel die Fragen zur Wirtschafts- und Sozialkunde, solange sie nur in programmierter Form beantwortet werden können. Junge Leute, von denen täglich im Betrieb Handlungskompetenz, selbständiges und strukturiertes Denken sowie Teamfähigkeit verlangt werden, schätzen es nicht, wenn sie auf Fragen nach Rechtsformen von Unternehmen oder Kündigungsfristen für Arbeitnehmer nur mit einem Kreuzchen antworten dürfen.

Selbstbewußt gehen die Azubis auch an den informationstechnischen Teil der Prüfungen heran. Sie wollen unkonventionelle Antworten gewürdigt wissen und reagieren gereizt, wenn ihnen eine Hardwarekonfiguration zugemutet wird, die aus ihrer Sicht nicht mehr dem neuesten Stand der Technik entspricht.

Die Azubis stehen mit ihrer Kritik nicht allein. Seit bei den vier neuen IT-Berufen - Fachinformatiker, Systemelektroniker, System- und Informatikkaufleute - neue Wege bei der Gestaltung der Lehre eingeschlagen wurden, treibt die Experten die Frage nach der richtigen Prüfungsform um. Im wesentlichen geht es darum: Zu den Kernqualifikationen aller vier Berufe gehören technische wie kaufmännische Elemente. Die Ausbildungsbetriebe haben großen Spielraum, um das Berufsbild an die Geschäftsprozesse anzupassen.

Die Kundenorientierung steht von Anfang an im Vordergrund: Azubis sollen nicht theoretisches Wissen in der abgehobenen Welt einer Ausbildungswerkstatt anhäufen, sondern vom ersten Tag an lernen, in Projektzusammenhängen zu denken: von der Problemanalyse beim Kunden über die Systemintegration der gefundenen Lösung bis zur Kalkulation der Kosten samt Rechnungsstellung. Wenn die Lehre aber in hohem Maß flexibel und betriebsbezogen abläuft, kann es keine Prüfung nach Schema F geben.

Andererseits besteht mit Recht die Erwartung, daß die Leistungen eines Fachinformatikers mit Fachrichtung Systemintegration nach Ablauf der Ausbildung bundesweit vergleichbar sind. Sonst verlöre der Facharbeiterbrief seinen Wert. Inzwischen zeichnet sich ab, daß sowohl die Aufgabenstelle für Abschlußprüfungen in Nürnberg als auch die Zentralstelle für Prüfungsaufgaben in Köln den Anteil der umstrittenen Multiple-Choice-Fragen zurückfahren.

Betriebliche Schwerpunkte berücksichtigen und republikweit vergleichbar prüfen - das ist eine Herausforderung, aber kein prinzipielles Problem, heißt es beim Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT). Berufsbildungsexperte Joachim Häußler: "Mit der Projektarbeit, die der Prüfling erstellt und präsentiert, stellt er betriebsbezogene Kenntnisse unter Beweis. Kern- und Fachqualifikationen dagegen können einem einheitlichen Test unterzogen werden." Lediglich bei der Bewertung der Projektarbeit seien Anlaufschwierigkeiten vorstellbar, meint Häußler.

Konkrete Erfahrungen liegen erst Ende Juni vor. Denn bis dahin lassen sich die örtlichen Prüfungskommissionen die Projektarbeiten der ersten Examenskandidaten vorstellen und in Fachgesprächen erläutern. Eine vom Bundesbildungsministerium eingesetzte Arbeitsgruppe hat bereits im Vorfeld Musterbeispiele zur Aufgabenstellung und Beurteilung dieser modernen Gesellenstücke erarbeitet.

Der Berufsbildungsexperte des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), Karlheinz Müller, koordiniert diesen Kreis, in dem Sachverständige aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, von Kammern, Berufsschulen und dem Bundesinstitut für Berufsbildung vertreten sind. Müller kennt die Vorbehalte gegenüber einer neuen Art der Prüfung, die Theorie und Praxis, schulischen und betrieblichen Stoff nicht mehr fein säuberlich getrennt abfragt, sondern Azubis und Prüfern integriertes Denken und Tun abverlangt. "Es liegt in der Natur der dynamischen IT-Branche, daß man sich nicht mehr auf die Wege, die sich in anderen Berufsfeldern jahrzehntelang bewährt haben, verlassen kann und nach neuen Prüfungsmodellen suchen muß. Das ist am Anfang nicht leicht. Entscheidend ist der gute Wille, sich konstruktiv auf diesen Entwicklungsprozeß einzulassen," wirbt Müller. Bis zum Herbst will sein Expertenkreis nun auch Musterbeispiele für "ganzheitliche Aufgaben" - also für die zentral geprüften Kern- und Fachqualifikationen - vorlegen.

Silvia Gehm gehört zu den Ausbilderinnen, die sich diese Aufgaben gründlich und kritisch anschauen werden. Die Berufsbildungsbeauftragte bei CSC Ploenzke ist neugierig, ob bundeseinheitliche Fragen "wirklich ans Eingemachte gehen und nicht nur sehr allgemein gehalten bleiben." CSC Ploenzke gehört zu den Firmen, die gleich in der ersten Runde, im Herbst 1997, in die IT-Ausbildung einstiegen. Die Unternehmensberatung hat in gut eineinhalb Jahren 34 Fachinformatiker mit Schwerpunkt Anwendungsentwicklung auf die IHK-Prüfung vorbereitet. Ausbilderin Gehm kennt "die Unklarheiten, Mißverständnisse und Widersprüche" der ersten Testrunde und will nun im örtlichen Prüfungsausschuß ihren Teil dazu beitragen, den "sehr schwierigen Spagat zwischen betriebsbezogenen und bundesweit einheitlichen Aufgaben" zu meistern.

Die Entwickler der Prüfungsfragen hatten es in dieser ersten Runde schwer: Sie betraten Neuland und standen unter hohem Zeitdruck. Dazu kommt, daß die Prüflinge des laufenden Jahres besonders wache und kritische Abiturienten mit Lehrzeitverkürzung sind oder junge Leute, die während der Ausbildung sehr bewußt und gezielt auf einen der neuen IT-Berufe umgestiegen sind. Sie finden jeden Fehler, und keiner davon bleibt unkommentiert.

Letztlich entspricht ein solches Verhalten genau dem idealen Profil von Mitarbeitern, wie sie sich jedes Unternehmen am liebsten schnitzen würde: Fachleute, die mitdenken, sich einmischen und eine Entwicklung mitgestalten wollen. Dabei wird oft vergessen, daß solche Mitarbeiter alles andere als bequem sind.

*Helga Ballauf ist freier Journalistin in München.