Die Akteure der Sprach-Daten-Konvergenz (Teil 6): Alcatel

Wenn der Web-Surfer im Call-Center klingelt

14.01.2000
Die Integration von Sprache in Datennetze ist nicht allein eine technische Herausforderung. Die Konvergenz der bislang getrennten Kommunikationsarten eröffnet neue Möglichkeiten bei der Gestaltung von Geschäftsabläufen und bildet die Basis für neue Services. Mit Gottfried Dutiné, Vorsitzender des Vorstandes der Alcatel SEL AG, Stuttgart, sprach CW-Redakteur Joachim Hackmann über die Verschmelzung der Netze.

CW: Was verstehen Sie unter der Integration von Sprache und Daten?

Dutiné: Bei der Sprach-Daten-Konvergenz kommt es darauf an, die Quality of Services der festgeschalteten Sprachverbindungen mit dem IP-Netz zu verknüpfen. Die herkömmlichen Merkmale müssen weiter zur Verfügung stehen, und zwar in einer kostengünstigen Datenkommunikationsumgebung.

CW: Können Sie dazu ein Beispiel nennen?

Dutiné: Wenn etwa ein Surfer sich das Portfolio eines Anbieters im Web anschaut und einige Dinge in seinen virtuellen Warenkorb legt, dann will er zu bestimmten Produkten vielleicht auch einige Fragen stellen. In die Web-Seite lässt sich dazu ein Button integrieren, der auf Knopfdruck eine IP-Telefonverbindung zum Call-Center und zum richtigen Ansprechpartner herstellt. So wären Daten- und Sprachverkehr verknüpft.

CW: Das wäre dann ein Mehrwert gegenüber der herkömmlichen TK-Welt. Allerdings sind die technischen Voraussetzungen dafür noch nicht ausgereift. Wie wollen Sie die Kunden von Gesprächen mit Rauschen und Aussetzern überzeugen?

Dutiné: Es gibt zwei Aspekte: Zum einen wächst die Verfügbarkeit, denn die Technik schreitet voran. Die Backbones für den Datenverkehr werden immer leistungsfähiger. Zum zweiten stellen die Betreiber ernsthafte Gedanken an, Dienste nach Quality of Services (QOS) zu tarifieren. Verbindungen in einer sehr guten Tonqualität und mit gewohnter Zuverlässigkeit werden mehr kosten als Gespräche via Voice over IP (VoIP). Die Qualität bestimmt die Gebühr, wie früher die Entfernungen die Basis der Tarife bildeten.

CW: Also werden die Probleme bei VoIP nicht technisch gelöst, sondern durch ein neues Geschäftsmodell umschifft?

Dutiné: Nein, denn die Technik wird besser. Auf Dauer wird Voice over IP kein Thema mehr sein, über das man spricht. Wir müssen auch die Historie betrachten. Es gibt die klassischen Netze und die dazugehörigen sehr preiswerten Telefone. In einer IP-Umgebung benötigen wir ein multifunktionales Endgerät mit PC-Inhalten. Rechner existieren in vielen Büros - allerdings nicht überall. Insofern besteht eine erste Hürde für eine extrem rasche Verbreitung. Die ersten Endgeräte vereinen zwar bereits die PC- und Telefonfunktionalität, der Massenmarkt wird jedoch noch auf sich warten lassen.

CW: Wie lange?

Dutiné: Vier bis sechs Jahre.

CW: Und wer werden die Vorreiter sein?

Dutiné: Ich denke, dass im Umfeld von E-Commerce diese Technik weiterentwickelt wird. Der Internet-Handel und Intranet-Applikationen treiben den Bedarf an Sprach-Daten-Konvergenz in die Höhe. Die Verschmelzung spart zum einen Kosten, doch viel wichtiger ist, dass diese Technik nur dann wirklich Sinn hat, wenn Unternehmensabläufe darauf abgestellt sind.

CW: Meinen Sie damit, neue Dienste auf der Kunden- und Partnerebene zu installieren?

Dutiné: Nicht nur, denn das Gleiche gilt auch innerhalb eines Unternehmens. Wenn interne klassische Prozessketten verlassen werden können, wenn die Sprachkommunikation und Datentechnik ein neues Miteinander ermöglichen, dann ist die Konvergenz sinnvoll.

Ein Beispiel: Beim Vertrieb von Bürokommunikationsanlagen müssen Bestellungen aufgenommen, Experten in der Zentrale befragt und Großkundenrabatte geklärt werden. Dieser Vorgang lässt sich im Internet und Intranet abbilden. Wenn alle in den Ablauf involvierten Mitarbeiter das gleiche elektronisch ausgefüllte Formular vorliegen haben, können Fragen zur Konfiguration und Verfügbarkeit der Produkte schnell geklärt werden. Muss sich der Außendienstler jedoch fünfmal einwählen oder zehn Minuten auf eine Antwort warten, wird er wieder den herkömmlichen Weg mit Bestellblock und Telefon einschlagen.

CW: Die Vorteile leuchten durchaus ein, doch die kritischen Punkte sind die schnelle Verfügbarkeit und kurze Antwortzeiten. Haben Sie so viel Vertrauen in die Entwicklung, dass Sie diese Probleme in sechs Jahren gelöst sehen?

Dutiné: Lassen Sie mich darauf mit einem Beispiel in etwas anderem Zusammenhang antworten. Wir haben im Unternehmen ein Intranet. Trotz nicht ausgelasteter Leitungen kam es immer wieder zu sehr langen Antwortzeiten. In einem Fall waren elf Server hintereinander geschaltet - das ist natürlich völlig unsinnig. Häufig sind Probleme nicht im Netzaufbau und dem Internet Protocol (IP) verankert, sondern in der Server-Kapazität und dem Softwaredesign. Die Dienstequalität ist ein End-to-End-Thema, es reicht vom Server im Unternehmen bis zum Laptop des Außendienst-Mitarbeiters. Hier sammeln die Unternehmen, die komplette Organisationsabläufe auf diese neuen Techniken umstellen, erste Erfahrungen.

CW: Also ist es auch ein Lernprozess der Anwender.

Dutiné: Absolut. Man kann nicht von heute auf morgen ein Super-Tool finden. Es sind viele kleine Schritte erforderlich. Wenn ein Anwender Fehler in der Applikation macht, dann ist die berühmte Qualität einer Standleitung oder einer durchvermittelnden Sprachleitung nichts wert.

CW: Seit der Übernahme verschiedener Datenspezialisten positioniert sich Alcatel als End-to-End-Anbieter. Warum streben alle Hersteller an, als Vollsortimenter aufzutreten?

Dutiné: Derzeit drängen sehr viele neue Carrier in den Markt. Dabei handelt es sich häufig um Firmen, die in der TK-Branche noch nie tätig waren. Sie wollen Komplettangebote. Das geht so weit, dass sie auch den Betrieb, Wartung und Billing an Dienstleister vergeben. Auch klassische Carrier denken darüber nach, bestimmte Dienstleistungen nach außen zu vergeben. Das macht dann Anbieter mit End-to-End-Lösungen so interessant.

CW: Ihre Beispiele beziehen sich auf den Carrier-Markt. Mit der Akquisition von Xylan sind Sie aber ins LAN vorgedrungen. Warum der Schritt in die lokalen Netze?

Dutiné: Auf fast jedem Schreibtisch steht heute ein Telefon und ein PC oder ein Web-Phone. Wir müssen in der Lage sein, alles anzubieten. Im Übrigen ist der LAN-Markt der am stärksten wachsende. Würden wir dieses Geschäftsfeld räumen, hätten wir keine Überlebenschance.

CW: Welche Rolle spielen die Akquisitionen von Assured Access und Packet Engines?

Dutiné: Wir haben mit Assured Access und Packet Engines erstmals im Internet-Bereich und mit Xylan auch im LAN ein volles Produktprogramm. Löcher gibt es allenfalls noch bei den kundenspezifischen Applikationen. Dafür haben wir eine eigene Division aufgebaut. Nüchtern betrachtet, sind wir in Deutschland die Einzigen, die vom Telefon bis zum Router alles anbieten können.

CW: Auch IP-Telefone?

Dutiné: Ja.

CW: Setzen Sie die bereits hausintern ein?

Dutiné: Noch nicht.

CW: Wie weit ist denn die Verschmelzung der Lösungen der neuen Töchter mit den Alcatel-Produkten gediehen?

Dutiné: Das geht jetzt voran. Wir beginnen auf Entwicklungs-, Produktplanungs- und Marketing-Ebene die Zusammenarbeit zu intensivieren. Eine Unternehmensintegration erledigt man nicht von heute auf morgen.

CW: Ihre neuen Töchter sind zum Teil sehr junge amerikanische Startup-Companies, während Alcatel ein europäischer Traditionskonzern ist. Prallen da nicht völlig unterschiedliche Unternehmensphilosophien aufeinander?

Dutiné: Wir versuchen die alte Welt so zu ändern, dass sie der Flexibilität und Beweglichkeit der neuen Welt folgen kann. Das ist nicht einfach. Wir wollen die kleinen Unternehmen nicht zerschlagen, indem wir die große Alcatel darüber stülpen, sondern beide Kulturen erhalten.

CW: Spielt Packet Engines in Deutschland überhaupt eine Rolle?

Dutiné: Wir sind gerade dabei, Konzepte und Strategien für Carrier auszuarbeiten. Dazu führen wir Gespräche mit vielen Kunden.

CW: Und welche Konkurrenten gibt es hier?

Dutiné: In Deutschland sind es Nortel und Lucent. International konkurrieren wir mit Nortel, Lucent und Cisco. Siemens sieht man selten.

CW: Im Servicemarkt haben Lucent und Cisco kürzlich durch die Übernahme von INS beziehungsweise die Kooperation mit KPNG für viel Aufsehen gesorgt. Was haben Sie diesen Vorhaben der Konkurrenten ent-gegenzusetzen, deren Servicetöchter von sich behaupten, herstellerneutral Netze aufbauen zu wollen?

Dutiné: Unsere Serviceorganisation arbeitet ebenfalls herstellerübergreifend, sie wartet und pflegt zum Beispiel auch Cisco- und Lucent-Produkte. Wir sind in dem PBX-Bereich, also dem Markt für TK-Nebenstellen, in Europa führend und in Deutschland auf Platz drei, so dass wir auch die Bedürfnisse der Unternehmenskunden sehr gut kennen. Konzerne und teilweise auch Mittelständler, die weltweit operieren, gehen immer mehr dazu über, einen einzelnen Lieferanten zu wählen. Hier können wir unsere Internationalität ausspielen. Es werden jedoch nur die Lieferanten ernst genommen, die auf den Gebieten der Sprach- und Datenkommunikation sowie der Anbindung von Mobilfunknetzen alles liefern.

CW: Gerade Cisco ist ein heikles Thema für Alcatel. Auf der einen Seite herrscht Konkurrenz, auf der anderen Seite gibt es seit langem eine Kooperation. Wie bringen sie das unter einen Hut?

Dutiné: Cisco ist ein OEM-Lieferant, seit den Akquisitionen nimmt die Bedeutung der Kooperation jedoch ab. Wir versuchen natürlich unsere und keine Fremdprodukte im Markt zu lancieren. Cisco verfolgt das Geschäftsmodell, den Markt über lokale Partner und OEM-Verträge zu bedienen. Alcatel macht das aus eigener Kraft. Wir können mit unseren Ressourcen die Systeme kundengerecht aufbauen, installieren und warten.

CW: Und immer herstellerunabhängig?

Dutiné: Wir integrieren natürlich auch OEM- und Fremdprodukte. Es gibt immer Kunden, die traditionell bestimmte Produkte haben und den Hersteller nicht wechseln wollen. Bei großen Projekten kann kein Hersteller - egal, wie er heißt - sämtliche Geräte und Systemkomponenten aus eigenem Hause liefern.

CW: Interessieren sich bereits Kunden für die Sprach-Daten-Konvergenz?

Dutiné: Schon, aber ich bin vorsichtig, was Prognosen betrifft. Wir sind auf Messen mit Call-Center-Produkten oder firmenspezifischen Lösungen auf großes Interesse gestoßen. Unternehmen installieren nicht in jedem Jahr eine neue TK-Anlage und ein neues Datennetz. Sie lösen Techniken entweder ab, weil sie Abläufe oder die Kunden- und Lieferanten-Schnittstelle anpassen wollen, oder sie migrieren innerhalb des Investitionsplans Schritt für Schritt. Es wäre auch falsch, zu behaupten, alle Probleme der Konvergenz seien gelöst und die Quality of Service kein Thema mehr. Kunden wie Hersteller befinden sich noch in einer Lernphase. In einem Jahr ist man sicher schlauer als heute.

CW: Die Akzeptanz neuer Verfahren wird ja häufig verschleppt, weil die alte Technik funktioniert. Welche Märkte können die Nutzung anstoßen?

Dutiné: Es wird ja zunehmend mobil telefoniert. Die neuen Standards GPRS (General Packet Radio Service) und UMTS (Universal Mobile Telecommunications System), die die effektive Datennutzung in Mobilfunknetzen erlauben, geben einen weiteren Anstoß für die Sprach-Daten-Integration. Ich sehe hier in den nächsten Jahren eine Evolution. Die Entwicklung hängt von der Klärung einiger Fragen rund um das Internet ab. Das sind etwa die bisherige Rechtsunsicherheit, die Besteuerung, elektronischer Handel und Kommerzialisierung.

Konvergenz der Netze

Seit mehr als einem Jahr prägt ein Thema die Netzszene: die Übertragung von Sprache und Daten über eine gemeinsame Infrastruktur. Mit milliardenschweren Investitionen rüsten sich die Unternehmen aus der Netz- und TK-Szene für die bevorstehende Verschmelzung. Je nach Ausgangsposition verfolgen die Hersteller hierbei unterschiedliche Ansätze. Die COMPUTERWOCHE hat bereits über die Pläne von Cisco (8/99), Lucent (11/99), Nortel Networks (18/99), Siemens (27/99) und 3Com (40/99) berichtet.